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DIE VERBORGENE EPIDEMIE
Alle Krankheiten beginnen im Darm.
Hippokrates, der Vater der Medizin
A ls Miriam in meine Praxis kam, hatte sie fast die Hoffnung aufgegeben. Sie hatte alles ausprobiert, vom konventionellen Hausarzt bis zur ganzheitlichen Medizin, und war den verschiedensten Heilungsansätzen gefolgt – ohne nennenswerte Verbesserung ihrer Gesundheit. Ich war der zehnte Arzt im Lauf ihrer Odyssee.
Miriam war 33, hatte zwei kleine Kinder, neun Kilo Übergewicht und war hundert Prozent gestresst. Man hatte bei ihr eine Hashimoto-Thyreoiditis diagnostiziert, eine Krankheit, bei der das Immunsystem die Schilddrüse angreift, und ihr war vom Endokrinologen das Medikament Synthroid verschrieben worden. Außerdem hatte sie Präparate gegen Angststörungen und Depressionen eingenommen, aber die hatten nicht geholfen. Ihre geistige und emotionale Belastung war so groß, dass ein Naturheilpraktiker bei ihr adrenale Erschöpfung festgestellt hatte; bei der Blutuntersuchung wurde außerdem ein Mangel an Vitamin B12 ermittelt. Sie hatte bereits versucht, ihre Ernährung umzustellen, und erhielt seit zwei Jahren wöchentlich Spritzen mit Vitamin B12 – aber nichts half. Eigentlich hätte sie gerne Sport getrieben, brachte aber kaum die Energie auf, um sich morgens aus dem Bett zu quälen. Und wenn die Kinder erst wach waren, blieb ihr wie vielen anderen jungen Müttern kaum Zeit fürs Fitnessstudio oder andere Formen von Bewegung.
Miriam hatte die Nase voll davon, dass sie immer müde war. Etwas musste sich ändern.
Ihrem Ernährungsprotokoll der letzten drei Tage konnte ich entnehmen, dass sie sich erstaunlich vernünftig ernährte. Sie aß ziemlich viel Salat, Vollkornbrot mit Sprossen, jede Menge Obst und Gemüse – aber offenbar half der Nährstoffgehalt ihres Essens auch nichts.
Ich ordnete zum Vergleich mit vorigen Diagnosen eine Blutuntersuchung an. Die Ergebnisse bestätigten tatsächlich, dass sich nichts verändert hatte. Die von ihr beschriebenen Schilddrüsenprobleme, adrenale Erschöpfung, Autoimmunerkrankungen und Nahrungsallergien spiegelten sich allesamt in den Zahlen wider.
Miriam kam in der folgenden Woche vorbei, um mit mir die Ergebnisse zu besprechen. Mit jedem einzelnen Messergebnis sah sie verzweifelter aus. Um sie zu ermutigen, legte ich den Laborbericht beiseite und griff mir meine beiden liebsten Anschauungsobjekte, die im Behandlungsraum immer bereitliegen: ein kleiner Kescher und eine Handvoll bunter Plastikkugeln.
»Bereit?« Sie nickte. »Pass auf.« Ich ließ die Plastikkugeln in den Kescher fallen. Miriam erwartete, dass sie im Netz hängen blieben, und staunte nicht schlecht, als sie hindurchfielen und auf dem Parkett herumhüpften.
»Hast du nicht erwartet, was?«, fragte ich. Sie schüttelte den Kopf.
»Miriam«, sagte ich, »dieses Netz ist leider dein Darm.«
Ich zeigte ihr die durchtrennten Fäden unten im Netz als Sinnbild für das, was beim LGS passiert. Ein gesunder Darm, erklärte ich, ist nur ein kleines bisschen durchlässig – wie die feinen Maschen eines intakten Netzes. So können winzige Mengen an Wasser und Nährstoffen die feine Barriere passieren und in den Blutkreislauf gelangen. Dies ist ein ganz normaler, grundlegender Teil der Verdauung und ein wichtiger Schritt in der Ernährung unseres Körpers.
»Werden die Löcher in der Darmwand allerdings zu groß, dann passen auch größere Moleküle wie Gluten und Kasein hindurch und außerdem fremde Mikroben, die dann im ganzen Körper herumwandern können«, erklärte ich und wies auf die Kugeln, die immer noch auf dem Boden des Behandlungszimmers herumrollten. »Solche großen Dinge dürfen eigentlich nicht ins Blut gelangen«, sagte ich. »Unser Organismus betrachtet sie als fremde Objekte und reagiert darauf mit Entzündungen im ganzen Körper.«
Jedes Organ kann betroffen sein, wenn so etwas passiert. »Bei dir sind es die Schilddrüse, das Gehirn und die Nebenniere, wo das Adrenalin gebildet wird«, sagte ich.
Ich erklärte ihr, sie könnte noch so viele Vitamin-B-Spritzen bekommen und Nahrungsergänzungsmittel zu sich nehmen: Wenn sie nicht das Grundproblem – ihren krankhaft durchlässigen Darm – in den Griff bekam, würden ihre Gesundheitsprobleme nicht nur bleiben, sondern sich weiter verschlimmern. Aber jetzt, wo die Ursache erkannt war, würden wir in kurzer Zeit bedeutende Fortschritte erzielen. Dazu musste sie nur meine Empfehlungen befolgen und bei ihrer Ernährung und ihren täglichen Gewohnheiten ein paar Veränderungen vornehmen.
Ich erstellte für sie einen Ernährungsplan, der zunächst einmal Nahrungsmittel mit einem hohen Gehalt an Probiotika vorsah – gute Bakterien, die ihre Verdauungsprobleme lindern würden – sowie Präbiotika – Nahrungsmittel mit den passenden Nährstoffen für diese guten Bakterien. Gleich morgens sollte sich Miriam einen Smoothie aus Kefir und Leinsamen machen und dann den Tag über immer wieder Fleischbrühe aus Knochen trinken, um ihre Darmschleimhaut wieder zu versiegeln. Um Stresshormone abzubauen, riet ich ihr, sich zwei- oder dreimal täglich eine Viertelstunde Zeit für einen Spaziergang zu nehmen und jeden Abend ein Heilbad mit Bittersalz und Lavendelöl zu nehmen.
Zwei Wochen später bei der Nachuntersuchung hatte Miriam mehr als zwei Kilo abgenommen und bemerkte, sie verfüge über merklich mehr Tatkraft. Dadurch ermutigt, erklärte sie, den Gesundheitsplan für 90 Tage zu befolgen, bis zur nächsten Blutuntersuchung.
Die Ergebnisse nach drei Monaten sprachen für sich.
In dieser kurzen Zeit war Miriams Vitamin-B12-Mangel völlig verschwunden. Ihr Cortisolspiegel war ebenso gefallen wie die Werte für Triglyzeride, Nüchternblutzucker, Insulin und für den Entzündungsparameter CRP. Und das Beste: Als ihr Endokrinologe die Blutwerte erhielt, rief er sie an, gratulierte ihr zu diesen Fortschritten und erklärte, er werde ihre Synthroid-Dosis um 75 Prozent senken.
Als Miriam zum Patientengespräch in meine Praxis kam, war ihr Gesicht rosig und ihre Augen funkelten. »Ich kann gar nicht glauben, wie viel Energie ich habe«, erklärte sie, streifte schmunzelnd die Schuhe ab und hüpfte auf die Waage. »Endlich kann ich wieder mit den Jungs herumtollen!« Als sie das Ergebnis sah, machte sie große Augen: Seit ihrem ersten Besuch in der Praxis hatte sie mehr als zwölf Kilo abgenommen.
Über die Jahre habe ich Hunderte Menschen wie Miriam behandelt. Ihr Fall ist ein Lehrbuchbeispiel dafür, wie heimtückisch erhöhte Darmdurchlässigkeit sein kann, wie gut sie sich im Gewand anderer Krankheiten verbirgt, wie sie fortschreiten und umfassend Wirkung entfalten kann – und wie leicht sie sich doch häufig mit ein paar einfachen Veränderungen heilen lässt.
Da ich genau dieses Szenario im Laufe meiner Berufsjahre tausendfach erlebt habe, weiß ich, wie viele Menschen genauso leiden wie Miriam, als sie damals in meine Praxis kam: krank, erschöpft und ohne Hoffnung. Das Einzige, was uns davon abhält, unsere Bevölkerung von den Beschwerden durch Leaky Gut zu befreien, sind mangelnde Erkenntnis, mangelndes Wissen und mangelnder Glaube – sowohl an die Existenz dieser Krankheit als auch an unsere Fähigkeit, sie zu heilen.
Aber wir können sie heilen. Wir müssen nur gemeinsam den Willen aufbringen, ein paar lieb gewonnene, aber extrem gesundheitsschädliche Angewohnheiten abzulegen – zuvorderst unsere tödliche Sucht, sauber zu sein.
Die gefährliche Krankheit mit dem ulkigen Namen
Ich wette, Sie haben den Begriff »Leaky Gut« – wörtlich übersetzt: undichter Darm – beim ersten Hören für einen Witz gehalten. Soll ich ernsthaft glauben, dass mein Bauch irgendwie undicht geworden ist? Ich kann schon verstehen, dass manche mit dem Begriff Schwierigkeiten haben. Wenn die Menschen den etwas albernen Namen erst einmal hinter sich gelassen haben, erkennen sie, wie bösartig, wie weitverbreitet und wie verheerend diese verborgene Epidemie inzwischen geworden ist.
Mit einer inneren Oberfläche von etwa 200 Quadratmetern – also etwa der Größe eines Tennisplatzes – stellt unser Verdauungstrakt eine lebenswichtige Immunschranke dar, die uns vor Ansteckungen und Vergiftungen schützt. Dieser Verteidigungsschild kommt Tag für Tag mit Tausenden von Mikroorganismen und Nebenprodukten der Verdauung in Kontakt. Der Darmschleimhaut fällt dabei eine besonders schwierige Aufgabe zu: Sie muss die Inhaltsstoffe des Darms von körpereigenem Gewebe unterscheiden, die Aufnahme der Nährstoffe regeln und generell das Zusammenspiel zwischen der ansässigen Mikrobengemeinschaft und dem Immunsystem der Darmschleimhaut überwachen. Darüber hinaus wehrt sie Eindringlinge von außen ab und macht 70 Prozent unseres gesamten Immunsystems aus.8
Um uns bei guter Gesundheit zu halten, bewahrt unser Darm ein sorgfältig austariertes symbiotisches Gleichgewicht aus Billionen von Mikroorganismen – der zehnfachen Anzahl unserer eigenen Körperzellen.9 Es gibt positive (Mutualisten), negative (Krankheitserreger oder Pathogene) und neutrale Mikroorganismen (Kommensale), die im Grunde nur im Strom mitschwimmen.10 Die meisten Fachleute halten 85 Prozent positive und neutrale sowie 15 Prozent negative Mikroben für eine gesunde, durchschnittliche Mischung, deren dynamisches Gleichgewicht unser Immunsystem gut auf Trab hält, damit es wirkungsvoll gegen schädliche Viren und andere Antigene vorgehen kann.11
Wann immer wir etwas essen, muss das Immunsystem in unserem...