Der Spiegeltempel
Vor langer Zeit stand in Indien ein Tempel mit unzähligen Spiegeln im Innenraum. Über tausend sollten es sein, sagten die Leute. Zufällig streunte eines Tages ein großer Hund um den Tempel und bemerkte die geöffnete Tür. Da kein Mensch in der Nähe war, schlich er sich in den Innenraum. Hunde wissen natürlich nicht, was Spiegel sind, und deshalb erschrak er sehr, als er sich plötzlich von unzähligen anderen Hunden umgeben sah. In seinem Schreck begann er die Zähne zu fletschen. Die anderen Hunde taten es ihm gleich, und so sah sich der verängstigte Hund unzähligen zähnefletschenden Hunden gegenüber. So etwas hatte er noch nie erlebt. So schnell er konnte lief er aus dem Tempel und versteckte sich im nächsten Gebüsch. Dieses schreckliche Erlebnis prägte den Hund für immer. Fortan mied er alle anderen Hunde in der tiefen Überzeugung, dass sie ihm feindlich gesinnt waren. Die Welt war für ihn ein bedrohlicher Ort geworden, von dem er sich so weit wie möglich zurückzog. Verbittert und verunsichert verbrachte er seine Tage in Einsamkeit bis zu seinem Lebensende.
Wie es der Zufall wollte, kam einige Wochen später ein junger Hund am Spiegeltempel vorbei. Auch dieses Mal befand sich kein Mensch in der Nähe, und der Hund spazierte durch die offene Tür. Natürlich wusste auch er nicht, was Spiegel sind, und sah sich ebenfalls sofort von unzähligen Hunden umgeben, als er den Innenraum betreten hatte. Leicht verwirrt begann der Hund zu lächeln und blickte umgehend in freundlich lächelnde Hundegesichter. Erfreut wedelte er daraufhin mit seinem Schwanz und die unzähligen anderen Hunde taten es ihm nach. Die Fröhlichkeit des Hundes wuchs von Minute zu Minute. So etwas hatte er noch nie erlebt, so viele froh gesinnte Hunde, die ihn offensichtlich freudig begrüßten. Lange blieb er bei den vielen Hunden, bis er Schritte hörte und den Tempel schnell verließ. Diese Erfahrung vergaß der junge Hund nicht mehr. Er war fest davon überzeugt, dass ihm alle anderen Hunde freundlich gesinnt waren, und suchte ihren Kontakt. Die Welt war für ihn ein freundlicher Ort. Zusammen mit anderen Hunden lebte er glücklich bis an sein Lebensende.
Pflanzen und ernten
Eines Tages ging Arif, der reichste Kaufmann eines Ortes, zur nahe gelegenen Oase, um seine Kamele zu tränken. Kurz bevor er die Quelle erreichte, traf er auf seinen alten Nachbarn, den klugen Karim, der in der größten Hitze auf dem Boden kniete und schwitzend im Sand grub.
»Friede sei mit dir, Karim«, begrüßte Arif den Nachbarn.
»Friede sei auch mit dir, Arif«, antwortete dieser.
»Sag mal, mein Freund, was machst du denn hier bei dieser Hitze?«, wollte Arif wissen.
»Ach, ich pflanze einige Datteln«, antwortete der Alte.
»Datteln?« Arif schüttelte verständnislos seinen Kopf. »Die Hitze hat wohl deinen Verstand etwas getrübt! Lass deine Schaufel liegen und komm mit mir. Im Kaffeehaus gönnen wir uns eine Erfrischung!«
»Nein, jetzt nicht. Zuerst muss ich fertig pflanzen, dann können wir gern eine Erfrischung zu uns nehmen.«
»Sag mal, Karim, wie alt bist du eigentlich?«, fragte Arif, weil er die Weigerung des Alten nicht verstehen konnte.
»Ich weiß es nicht so genau, vielleicht sechzig, vielleicht siebzig. Ist das denn wichtig?«
»Nun ja, Dattelpalmen brauchen viele Jahre, bis sie Früchte tragen. Ich wünsche dir ja wirklich das Allerbeste, aber bevor diese Palmen, die du da pflanzt, Früchte tragen, wirst du nicht mehr unter uns sein. Also lass es sein und komm mit mir!«
Beharrlich schüttelte Karim den Kopf und erklärte seinem Nachbarn: »Überlege mal, Arif! Die Datteln, die ich heute ernte, hat jemand gepflanzt, der sie nicht mehr ernten konnte. Ich pflanze heute, damit andere sie einst ernten können. Und wenn es nur zum Dank an den unbekannten Pflanzer meiner Datteln wäre – ich muss meine Arbeit zu Ende führen.«
Die letzten Worte beeindruckten Arif sehr. »Danke, lieber Karim, mit diesen Worten hast du mir eine gute Lektion erteilt! Nimm zum Dank diesen Beutel Silberstücke«, sprach er und übergab dem Alten einen Beutel Münzen.
»Danke für die Münzen, Arif! Manchmal verhalten sich die Dinge doch wirklich seltsam. Eben noch hast du mir vorausgesagt, dass sich meine Mühe niemals lohnen würde, dass ich zwar pflanzen, aber niemals ernten würde, und schon besitze ich einen Beutel Silbermünzen, bevor ich fertig gepflanzt habe. Und hinzu kommt der Dank eines guten Freundes!«
»Dass du klug bist, Karim, wissen alle, aber deine Weisheit verblüfft mich zutiefst. Schon hast du mir eine zweite Lektion erteilt, die mir wichtiger als die erste erscheint. Nimm auch dafür einen Beutel Silbermünzen!«
Gern nahm Karim auch den zweiten Beutel an und sprach zu seinem Freund: »Ist es nicht erstaunlich, wie sich die Dinge entwickeln? Ich pflanze und weiß, dass ich nicht mehr ernten werde. Nun habe ich bei Weitem noch nicht fertig gepflanzt, und schon habe ich zweimal geerntet!«
Lachend unterbrach ihn da Arif: »Nun ist es gut, alter Freund! Sprich nicht weiter, denn mein Vermögen wird kaum ausreichen, deine Weisheit aufzuwiegen.«
Allahs Hände
Ein Sufi-Schüler reiste mit seinem Meister durch die Wüste. Eine seiner Aufgaben bestand darin, sich um das Kamel zu kümmern, das sie begleitete. Doch als sie eines Abends in einer Oase angekommen waren, war er zu träge, das Kamel anzubinden, und ließ es einfach draußen vor der Unterkunft stehen. »Bitte pass du doch auf das Kamel auf«, betete er zu Allah, als er im Bett lag.
Am nächsten Morgen jedoch war von dem Kamel nichts mehr zu sehen. Vielleicht war es weggelaufen, vielleicht hatte es auch jemand gestohlen. Keiner wusste es. »Wo ist das Kamel?«, fragte der Meister seinen Schüler.
Der antwortete ganz ehrlich und naiv: »Frag Allah, wo es ist. Ich weiß es nicht. Ich habe Allah gestern Abend darum gebeten, auf das Kamel achtzugeben. Mehrfach habe ich ihn angerufen, ganz klar und deutlich, sodass er es auch wirklich gehört haben muss.« Und als der Meister ihn entgeistert anschaute, ergänzte er: »Du sagst doch immer zu uns, dass wir auf Allah vertrauen sollen. Also schau mich nicht so böse an.«
Seufzend und kopfschüttelnd ob der Dummheit seines Schülers sprach der Meister: »Vertraue auf Allah, aber binde um Himmels willen zuerst dein Kamel an, denn Allah hat keine anderen Hände außer deinen.«
Zwei Samenkörner
Einst befanden sich zwei Samenkörner nebeneinander im Boden. Das eine strotzte vor Lebenslust und sagte sich: »Ich will wachsen und groß werden! Meine Wurzeln sollen sich tief in die Erde graben und meine Triebe sollen bald die Erdkruste durchbrechen, damit ich weiterwachsen kann. Möglichst bald sollen sich meine Blätter entfalten, damit ich die Ankunft des Frühlings spüren kann. Ich will die Sonne genießen, der Wind soll mich wiegen und der Morgentau erfrischen. Ich will groß und stark werden!«
Und so entwickelte sich aus dem ersten Samenkorn eine große, kräftige Pflanze.
Das zweite Samenkorn war sehr ängstlich und dachte bei sich: »Ich will nicht so schnell wachsen. Wer weiß, was mich erwartet, wenn ich meine Wurzeln in die Tiefe treibe? Das könnte doch wehtun. Und vielleicht nehme ich Schaden, wenn ich meine Triebe durch die Erdkruste drücke? Ich kann nicht wissen, was mich dort oben erwartet. Es kann so viel passieren, wenn ich wachse, lieber warte ich erst einmal hier, bis es sicherer ist.« Und so verblieb das zweite Samenkorn unausgetrieben im Boden und wartete.
Eines Morgens nun kam eine Henne vorbei und scharrte im Boden nach etwas Essbarem. Neben einer großen Pflanze fand sie das Samenkorn und fraß es.
Der Buddha in dir
Zu seinen Lebzeiten reiste Buddha jahrelang durch Indien und seine Anhänger nahmen oft große Strapazen auf sich, um ihn wenigstens einmal persönlich zu erleben. So machte sich auch ein einfacher Mönch auf den Weg. Doch auf seiner Reise begegnete er immer wieder Menschen, denen er seine Hilfe nicht versagen wollte. So half er zum Beispiel einem Schäfer, der ihm während eines Sturms Zuflucht gewährt hatte, seine entlaufenen Schafe wieder einzufangen. Er ging einer Bäuerin, die ihm Wasser gegeben hatte und deren Mann erkrankt war, bei der Ernte zur Hand. Er rettete ein altes Paar, das bei einer Flussüberquerung fast ertrunken wäre. Und so verging Woche um Woche, Jahr um Jahr.
Nach zwanzig Jahren, in denen er dem Weg des Buddha gefolgt war, kam ihm zu Ohren, dass dieser zum Sterben in seinen Heimatort zurückgekehrt war, und er beschloss, möglichst schnell dorthin zu reisen. Doch am Morgen, bevor er das Dorf erreichte, stolperte er fast über einen verletzten Hirsch und brachte es einfach nicht übers Herz, ihn allein zurückzulassen. Als der Hirsch sich erholt hatte, war der Buddha bereits gestorben und der Mönch bedauerte es sehr, nun auch die letzte Gelegenheit, ihn zu sehen, versäumt zu haben.
»Suche nicht weiter nach mir«, sagte da plötzlich eine Stimme zu ihm, »denn du hast mich bereits getroffen. Sei unbesorgt, was den Tod angeht, denn solange es Menschen gibt, die sich wie du jahrelang auf die Suche nach mir begeben und zugunsten anderer auf ihre Bedürfnisse verzichten, kann Buddha nicht sterben. Denn genau das ist Buddha – Buddha ist in dir.«
Sei wie der Löwe!
Bei einer Wanderung durch den Wald stieß ein junger Sufi-Schüler auf einen kranken Fuchs. Der hatte beide Hinterläufe gebrochen und konnte sich kaum rühren.
Weil er etwas lernen wollte über das Wesen der Natur, versteckte sich der Schüler hinter einem Busch und beobachtete den Fuchs. Bald darauf hörte er, wie ein Löwe ganz in der Nähe eine geschwächte Antilope jagte und erlegte. Der Löwe...