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E-Book

Unser Amerika

AutorDieter Kronzucker
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl330 Seiten
ISBN9783688105922
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
Zwischen 1981 und 1986 schickte der Korrespondent des ZDF in Washington, Dieter Kronzucker, neben aktuellen Tagesberichten seine «Bilder aus Amerika» nach Deutschland. «Unser Amerika» ist die Buchausbeute seiner journalistischen Arbeit. Kronzucker vergleicht unsere Vorstellung von der Supermacht mit den alltäglichen Wirklichkeiten und den erstaunlich raschen Veränderungen auf dem Subkontinent. «Unser Amerika» ist eine Sympathieerklärung für den Lebensstil, die Großmut und das Vorwärtsstreben dieser immer noch so jungen Nation - gleichzeitig aber eine kritische Betrachtung ihrer eigensüchtigen und selbstherrlichen Politik und Einstellung gegenüber den Juniorpartnern im Bündnis. Kronzucker führt eine Nation vor, die zum einen aufgelöst ist in ihre gesellschaftlichen Gruppen und ihre tiefgreifenden regionalen Unterschiede, zum anderen so vereint wirkt in ihren republikanischen Idealen, ihren materialistischen Hoffnungen und ihrer Vaterlandsliebe. Amerikas «Wende» unter Ronald Reagans Amtszeit, der erstaunliche Aufstieg aus einer der tiefsten Rezessionen nach dem Krieg, aber auch die problematische Rüstungspolitik des Pentagon - der Autor läßt die Geschichte auf anschauliche Weise Revue passieren. «Unser Amerika»: Das sind 1001 Geschichten - traurig, anrührend, erheiternd. Der Autor hat Amerika mit der Fähigkeit zum Staunen und der Neugier eines erstklassigen Journalisten erlebt. Die skurrilen Einzelgänger, die großen Erfinder und die stillen Aussteiger, die Prediger und Missionare, die Verlorenen und Verurteilten, die Dynamik der Wirtschaftsbosse, aber auch die ökologischen Konsequenzen rücksichtsloser Natureroberung - Kronzuckers Panorama der amerikanischen Gesellschaft führt eine Welt im aufregenden Wandel vor. Das Buch spricht «Amerika-Neulinge» genauso an wie alte Kenner des Kontinents.

Prof. Dr. Dieter Kronzucker, geb. 1936, gehört zu den großen Persönlichkeiten des deutschen Fernsehjournalismus und ist als Korrespondent und Moderator seit Jahrzehnten auf dem Bildschirm präsent (u. a. WDR, ZDF, Sat.1).

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Leseprobe

Unser Amerika


Eine Welt wird getauft


ES SOLL EIN DEUTSCHER MÖNCH aus Radolfzell gewesen sein, der im Jahre 1516 Amerika den Namen gab: Der Kartenzeichner Martin Waltzmüller, oder Waldseemüller, hielt den Kosmographen Amerigo Vespucci aus Venedig für den Entdecker der Neuen Welt: Nach diesem Amerigo taufte er den ganzen Kontinent. Amerika trägt seinen Namen aus Versehen. Schon 1497 allerdings wurde im ‹Narrenschiff› von Sebastian Brand über eine «goldene Insel mit nackten Menschen» berichtet. Auf den Frankfurter Buchmessen, die es damals schon gab, kursierten bald Legenden von einer neuen Welt, von einem Arkadien oder Garten Eden.

Christoph Kolumbus, der eigentliche Entdecker, kam erst später zu kartographischem Nachruhm. Aus den Trümmern der spanischen Kolonialherrschaft wollte der Befreier Simón Bolívar ein lateinamerikanisches Großreich schaffen. Es sollte Kolumbien heißen. Ein Bruchstück dieses Reiches hat immerhin seinen Namen behalten. Der Befreier Bolívar selbst setzte sich ebenfalls ein nationales Denkmal: Oberperu wurde zu seinen Ehren in Bolivien umgetauft.

Ein Bolivianer ist heute ein Einwohner Boliviens. Ein Kolumbianer ist ein Einwohner Kolumbiens – und ein Amerikaner? Ein «Amerikaner» ist im weltweiten Sprachgebrauch ein Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika. Der damit verbundene Vormachtsanspruch wird von den anderen Nationen der Neuen Welt bestritten, der Name aber kaum. Auch die sprachverwandten Kanadier nennen ihre Nachbarn «the Americans» und die patriotischen Mexikaner sagen «los americanos».

24 Jahre bevor der Kartenzeichner Waldseemüller einem historischen Versehen erlag, war dem Entdecker Christoph Kolumbus eine ebenso folgenreiche Verwechslung unterlaufen. Weil er glaubte, die Gestade Indiens erreicht zu haben, nannte er die Eingeborenen «Indios».

Auch diese Bezeichnung blieb haften. Im englischen Sprachraum hießen diese Ureinwohner in Amerika lange «red indians», um sie von ihren indogermanischen Namensvettern zu unterscheiden. Die Deutschen fanden eine einfachere Lösung – wir nennen die einen Inder und die anderen Indianer.

Nach der Entdeckung im Jahre 1492 setzten zunächst die spanischen, dann die französischen und zuletzt die englischen Kolonialherren zur Eroberung an. Sie nahmen den Indianer von allen Seiten in die Zange.

Schon hundert Jahre vor den englischen «Pilgervätern» im Osten Nordamerikas drangen die Spanier aus dem Süden auf den großen Kontinent vor. Sie suchten die legendären «sieben Städte von Cibola», wo selbst die Straßen mit Gold gepflastert sein sollten. Die Konquistadoren drangen von Mexiko bis in die Prärien des heutigen Mittelwestens vor. Gold fanden sie nicht – doch sie hinterließen Spuren. So hielt sich bis heute die Bezeichnung «pueblo» sowohl für die ortsansässigen Indianer wie auch für ihre Siedlungen am Rio Grande.

Da schon keine Schätze in diesem «Neu-Mexiko» zu holen waren, wollte man den «hombre colorado» für den Christengott gewinnen – wie üblich mit Feuer und Schwert. Viele Indianervölker wurden damals samt ihren angestammten Wohngebieten «umgetauft». Von Santa Fé bis San Francisco, von San Antonio bis zu den vielen «Santos» im Tal des Rio Grande, übernahmen abendländische Heilige das Seelen-Regiment. Im Vergleich zu den seßhaften Indianern gaben sich die Nomaden besonders rebellisch. Sie wurden denn auch «Apachen» genannt – das heißt «Feind». Die Indianer-Ausrottung ist keine «amerikanische» Eigenart; sie wurde vielmehr von Europäern initiiert.

Wer sich in die Knechtschaft der Weißen begab, blieb am Leben. So haben die eher friedfertigen Pueblos die spanische Herrschaft überdauert – geblieben ist von den Eroberern im Süden und Südwesten Amerikas ein Netz spanischer Namen, die das Land von «Madrid» in New Mexico bis «Mexico» im Bundesstaat Missouri übersäen.

Anders die Engländer. Ihre Berührungsangst und ihre Verachtung der Indianer hatten zu ihrer Vertreibung oder Ermordung geführt, ihre Namen jedoch wurden übernommen. Massachusetts, Connecticut und Illinois sind Bundesstaaten der USA – und indianische Namen. Die Chesapeake Bay und der Potomac-Fluß bei Washington erinnern an verschwundene Ureinwohner. Tallusahachee und Naragansett blieben Ortsnamen, obwohl sie auch im Englischen Zungenbrecher sind.

Bei aller Grausamkeit, die auch die Franzosen an den Tag legten, zeigten sie den Ur-Amerikanern doch den größten Respekt. Sie haben sich zeitweise mit ihnen als gleichwertige Kampfgenossen verbündet.

Mit Hilfe der Irokesenföderation des Ottawabundes haben sie hundert Jahre Frieden in ihrem Territorium erlebt; ihr «Louisiana» war ein Modell für eine mögliche Gemeinschaft von Weißen und Roten. Die Kolonialkriege von 1689 und 1763 machten sowohl mit diesem friedlichen Modell wie mit den großen Indianerbünden ein Ende. Die Franzosen mußten das amerikanische Schlachtfeld weitgehend den Engländern überlassen. Sie hinterließen Städtenamen wie St. Louis und New Orleans, brachten ihre historische Präsenz in Erinnerung in den heutigen Bundesstaaten Michigan, Louisiana und Missouri – dort liegt, gleich neben dem Städtchen «Hannibal» das kleine «Paris».

Wenn es auch mit Gold und Edelsteinen haperte in diesem Teil der Neuen Welt, so ließen sich doch aus den Produkten der Indianer Profite machen. Ihr Tabak und ihr Mais, ihre Kartoffel und die Baumwolle wurden in Europa verkauft. Die Indianer versagten jedoch bei Bestellung ihres angestammten Reichtums: Als «Eingeborenenersatz» wurden Hunderttausende von Sklaven aus Afrika importiert. Die Schwarzen haben indes keinem Landstrich in Amerika als Taufpaten gedient. Sie blieben vielmehr anonyme Bewohner der Neuen Welt.

Erst vor 20 Jahren, während der großen Gettoaufstände, haben sie ihren Anspruch auf Amerika geltend gemacht. Mit den Feuern von «Watts», einem Stadtviertel in Los Angeles, schrieben die Schwarzen Brandzeichen in die amerikanische Geschichte; diese «riots», Aufstände, waren auch Meilensteine auf ihrer anhaltenden Suche nach Gleichberechtigung. –

Mit der politischen Unabhängigkeit im Jahre 1776 übernahmen die Amerikaner weißer Abkunft den Status von Einheimischen. Sie wurden «Amerikaner», verdrängten die Ureinwohner vom historischen «ersten Platz» und vertrieben die Kolonialherren zurück nach England. Die Väter und Söhne der jungen Nation überzogen die Vereinigten Staaten mit einer neuen Namenswelle für die neuen Städte. Jefferson und Madison, Hamilton und vor allem Washington standen dabei Pate.

Die Orientierung an klassischen politischen Idealen der Antike führte zu Stadtgründungen wie Cincinnati oder Tusculum, wie Troya oder immer wieder Athen. Das Capitol, Sitz des Kongresses, entspricht nicht nur in seiner Architektur einer nationalen Vorstellung von Washington als dem neuen Rom der Neuen Welt. Die Neue Welt wollte so neu nicht sein, sondern anknüpfen an die große Antike. Die Tradition von Romania und Germania, das Christentum und das Abendland sollten in Amerika erneuert werden. Die Revolutionäre von 1776 waren humanistisch gebildet, sie lasen Aristoteles, Macchiavelli und Montesquieu.

Wenn Amerikaner sich miteinander verständigen, können sie das in europäischen Sprachen tun. Die Hochkulturen von Mexiko und Peru und die komplexen nordamerikanischen Zivilisationen der Anasazi und Hopi haben hingegen keinen nominellen Eindruck hinterlassen. Ja, ihre Spuren wurden so sehr verwischt, daß die derzeitige Welle der Wiederentdeckung Alt-Amerikas sich der Archäologie bedienen muß.

Doch auch die historischen Hoffnungen, die von den Gründervätern in die Städtenamen gelegt wurden, sind verflogen und vergessen. Vielleicht tragen die Nummernschilder auf den Autos deshalb immer noch einen erklärenden Untertitel – also etwa: «New Mexico, land of enchantment», oder «North Carolina, land of the first flight», oder «Idaho, the potato land». Doch die Beschwörung großer ideengeschichtlicher oder heroischer politischer Traditionen ist nicht mehr modern. Im Gegenteil, je banaler, je beliebter: Die Einwohner einer Stadt nahe der mexikanischen Grenze nannten ihren Ort «Truth or Consequences» – nach einer längst vergessenen Rundfunkquiz-Sendung. Ernie Blake, ein Schweizer, der in New Mexico ein neues Skigebiet in den Sangre de Cristo-Bergen erschloß, konnte wie Kolumbus seine Welt neu benennen: Ihm fiel die «Friedrich Wilhelm von Steuben»-Abfahrt ein.

So geht es im ganzen Land zu. Viele Jahre lang hieß ein Dorf in Missouri «Wie geht’s?». Und der Filmstar Robert Redford nannte das weitläufige Skigebiet, das er sich selbst gekauft hat, «Sundance Kid» – nach einem seiner erfolgreichen Filme. So steht es nun in den neueren Landkarten: Immer noch kann Amerika täglich neu erfunden werden. Und immer noch veralten auch die schönsten Definitionen an der rapiden Fortschreibung der Geschichte. Hier wechseln Namen, Helden und Bösewichter schneller als sonstwo in der Welt.

In den Bergen von Oregon wollte ein Sektengründer aus Indien sein himmlisches Reich auf Erden nach eigenem Gutdünken schaffen. Sein «Rajshnishpuram» war 1985 voll des emsigen Lebens und verwandelte sich ein Jahr später zu einer Geisterlandschaft.

Die erste europäische Vorstellung von Amerika war die einer vorgeschobenen Landmasse am Rande Indiens. Im durchaus noch anerkannten Weltbild des Ptolemäus gab es nicht genug Platz für einen weiteren Kontinent, für Amerika. Zunächst galt auch der Ausdruck «Neue Welt» dem sich verjüngenden Europa der Kolonialreiche, die «Alte Welt» waren Rom und Hellas. In den europäischen Landkarten von heute liegt...

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