Einzigartig und mit Macken
Gerne betone ich die Einzigartigkeit jedes Menschen. Mir ist bewusst, dass ich immer ein Wunder vor mir habe, wenn ich in die Augen eines Menschen schaue. Ja, ein Wunder. Was musste Gott erst alles anstellen, damit unsere Mütter uns im Arm halten konnten! Mal davon abgesehen, vorher noch ein ganzes Universum, eine Milchstraße und eine Erde zu erschaffen! Er musste einen Mann und eine Frau dazu bringen, sich ineinander zu verlieben und am Höhepunkt ihrer Liebe das Leben zu zeugen. Und dann musste er eine Frau dazu bekommen, die Mühsal und den Verzicht auf sich zu nehmen, neun Monate ein Kind im Bauch zu tragen und es unter unvorstellbaren Schmerzen auf die Welt zu bringen. Ein Wunder, das kleine Füßchen und Ärmchen hat und mit seinen Kulleraugen seine Mitmenschen dahinschmelzen ließ!
Es ist wundervoll, ein Baby jeden Tag heranwachsen zu sehen, wie gebannt seinen Schlaf zu beobachten und die atemberaubende Wärme zu spüren, wenn man es auf dem Arm trägt. Man wagt sich nicht einmal mehr zu bewegen, nur um es nicht aufzuwecken – selbst wenn einem schon die Arme einzuschlafen drohen – weil man die Innigkeit dieses Augenblicks nicht zerstören will. Seinen Charakter zu entdecken, sich von seinem Lachen anstecken zu lassen, von seiner Neugierde, seinem Lebensdrang, seine kleine Welt zu erkunden. So viele Glücksmomente gibt es zu erleben und wir werden Zeugen seines erstaunlichen Heranwachsens. Und ab und zu fragen wir uns: Was wird aus diesem Kind werden?
Als ich in diesem Jahr einen Vortrag vor Firmlingen in Südtirol hielt, wurde mir dieser Gedanke plötzlich besonders bewusst. Ich schaute die jungen Geschöpfe an, und es herrschte eine ganz besondere Atmosphäre in diesem kleinen Raum. Hinter den 30 Jugendlichen saßen ihre Eltern. Ich sah allen in die Augen und mich erfasste eine Woge des Staunens: „Ihr seid ein Wunder.“ Ich fand Worte, die ich wohl so noch nie gesagt hatte, um ihre Geburt zu schildern und welches Glück sie für ihre Eltern waren. In den hinteren Reihen sah ich ständiges Kopfnicken, sah Tränen und Lachen. Mich ergriff selber eine solche Ehrfurcht vor jedem einzelnen.
„Ihr seid ein Geschenk für diese Erde. Und natürlich wollen Eure Eltern nur das Allerbeste für Euch. Und das Allerbeste, das wirklich Allerbeste, was Eure Eltern Euch mitgeben möchten, nachdem sie Euch taufen ließen, ist die Chance, den Heiligen Geist zu empfangen. Aber diese Entscheidung trefft Ihr jetzt selbst. Ich lade Euch ein, diesen Heiligen Geist auszuprobieren. Ruft ihn herbei, fordert ihn heraus, lasst Euch von ihm anstecken.“
Vieles habe ich an diesem Abend noch gesagt und wir riefen gemeinsam nach dem Heiligen Geist. Am Ende jubelten sie alle „Jesus lebt“ mit einer solchen Begeisterung, dass ich tief berührt war. Alle diese jungen „Wunder“ sollten nun ihren Weg in die Zukunft gehen, in ihrer Familie, Schule und Gemeinde. Ich hoffe, sie werden eine grandiose Zukunft haben.
Aber auch das gab ich ihnen mit auf den Weg: dass vielleicht nicht alle Träume erfüllt werden, nicht jede oder jeder Karriere machen wird, eine liebevolle Partnerschaft geschenkt bekommt, reich wird oder berühmt, dass sie vielleicht nicht alle das Gymnasium schaffen oder einen super Beruf erlernen können. Vielleicht müssen sie „kleinere Brötchen backen“, vielleicht ein schweres Schicksal überleben, hart arbeiten, ohne viel Geld zu verdienen. Doch das, was einen Menschen glücklich macht, gibt es nicht zu kaufen. Ein zufriedener Mensch zu werden, ist das größte Abenteuer. Und ich wünschte den Firmlingen, dass sie am Ende ihres Lebens sagen können: „Ich war ein Wunder für diese Welt.“
Diese Einzigartigkeit „Mensch“ zu sein und dies zu erleben, ist für mich jeden Tag eine solche Freude und gleichzeitig eine Herausforderung. So unterschiedlich, individuell, so besonders ist jedes Menschenkind. Es kann so freundlich und liebenswürdig sein, so heldenhaft hilfsbereit, witzig und zärtlich. Ich denke an unzählige Freunde, wie herzerfrischend und ansteckend und liebreizend sie sind. Ob kreativ, musikalisch, sportlich, mitfühlend, den Kopf voller Ideen oder mit einer ansteckenden Fröhlichkeit – man kann nicht genug von ihnen haben. Sie machen dein Leben amüsanter, respektieren Dich und verleihen deinem Leben einen ganz besonderen Glanz. Sie freuen sich mit Dir, wenn Du glücklich bist, und genießen mit Dir das Leben. Können mit Dir ausgelassen lachen und alles Schöne und Gute genießen. Sie wagen es, ein wenig verrückt zu erscheinen und lächeln zurück, wenn sie belächelt werden. Ihre Ausdrucksweise hat immer etwas Anerkennendes und sie drücken gerne ihre Dankbarkeit aus. Sie strahlen auch dann Güte aus, wenn sie nichts sagen und Du fühlst Dich wohl in ihrer Umgebung. Ihre Gesten sind einladend und ihre Art zuzuhören ist beeindruckend. Sie sollten wissen, dass sie etwas Außergewöhnliches, Einmaliges und Einzigartiges sind. Und sie sollten sich auch trauen, dieses Kompliment für sich zu akzeptieren und anzunehmen, schließlich denken sie das von jedem anderen Menschen auch. Ihre Aufmerksamkeit und Achtsamkeit für andere ist gewinnend und sie tun einfach gut.
Doch gleichzeitig hat jeder von uns seine Macken oder Marotten. Wir neigen gerne zum Dramatisieren, haben gewisse Vorlieben, unkontrollierte Gefühlsausbrüche, wechselnde Launen, manche Verrücktheiten und nicht nur liebenswerte Schrullen. Wir haben einen Hang zu Bequemlichkeit oder tragen eine Unruhe in uns und so manche Verrücktheiten, fixe Ideen oder Ticks. Ich selbst habe zum Beispiel den Tick, dass ich mir immer einen Doktorhut, den ich einmal an Fasching bekommen habe, aufsetze, wenn ich ein neues Buch schreibe oder mich sehr konzentrieren muss. Ich bin überzeugt davon, dass ich besser denken kann, wenn ich ihn aufhabe. Vielleicht ist das herunterhängende Bommelchen aber auch nur ein Handschmeichler für eine bessere Konzentration. Natürlich bete ich auch um den Heiligen Geist, aber wenn meine Lieben sehen, dass ich den „Deckel“ aufhabe, wissen sie sofort: „Lasst sie in Ruhe!“ Jeder hat seine ganz persönlichen Eigenheiten, Maskottchen, an denen er hängt oder Gewohnheiten, die andere zum Schmunzeln bringen.
Es gibt jedoch Interessen, Bedürfnisse oder Wünsche von anderen, die uns überfordern. Manche Menschen sind eben auch oft launisch, aggressiv und gereizt. So sind Menschen manchmal. Man kann sie nicht kontrollieren, aber sie kontrollieren gerne andere. Wenn sie ihren Spleen haben oder sich etwas in den Kopf setzen, sind sie unberechenbar. Sie können wütend und hasserfüllt reagieren. Können Dir grob und unreflektiert Dinge an den Kopf werfen. Vor ihren Zornausbrüchen hat man regelrecht Angst. Sie wirken bedrohlich, einschüchternd und verletzend. Oder sie neigen dazu, jeden und alles lächerlich zu machen. Kleine Zyniker, die nichts gelten lassen und immer das letzte Wort haben und gezielt mit ihren Sticheleien treffen.
Es gibt grausame und böse Menschen, die andere mit Blicken töten können. Sie quälen ihre Mitmenschen, lachen ihnen scheinheilig ins Gesicht und lästern los, sobald sie eine Gelegenheit dazu finden. Sie benehmen sich daneben, mit einer Kaltschnäuzigkeit, dass es einem die Luft wegnimmt. Sie tratschen, denken und reden negativ und wollen andere unglücklich machen. Sie sind krankhaft eifersüchtig und extrem narzisstisch. Sie haben immer Recht und kennen kein Erbarmen. Sie machen jede und jeden Anderen für ihr „Unglücklichsein“ verantwortlich, nur sich selbst nicht. Sie verstehen es bestens, sich immer als Opfer zu verkaufen, auch wenn sie selbst es sind, die andere verletzen.
Eine Beziehung mit Menschen einzugehen, ist immer ein gefährliches Abenteuer. Leider machen wir uns oft etwas vor und glauben, dass die Menschen, die wir lieb gewonnen haben, solche schlechten Seiten ganz gewiss nicht haben. Aber spätestens, wenn wir ihre Gewohnheiten, Fehler oder Charakter einmal negativ erlebt haben, wissen wir, dass das eine Illusion war. Die Wahrheit ist einfach: Wir Menschen sind unglaublich kompliziert und es gibt eine Menge sehr schwierige Menschen, die es einem gar nicht so leicht machen, sie gerne zu haben.
Der Mensch kann einfach herrlich sein und zugleich sehr herausfordernd. Trotz unserer eigenen Mängel und äußerlichen Schönheitsfehler halten wir meistens die anderen für nicht ganz „normal“. Wir sehen den Splitter im Auge des Anderen und merken nicht, dass wir selbst einen Balken im Auge haben. Selig sind alle, die im Leben den Mut und die Chance bekommen, mit sich selbst konfrontiert zu werden. Ein schmerzlicher Prozess des Annehmens, dass es neben den Stärken und Talenten im eigenen Leben auch all die kleinen und großen Defizite gibt. Die oft verdrängte Prägung, die wir durch unsere „Ahnengalerie“ mitbekommen haben – durch unsere Eltern, andere Familienmitglieder und die vielen Autoritätspersonen in unserem Leben. Wenn es zu ersten Krisen oder Konflikten kommt, knabbert das ganz schön an unserem Stolz, der alle dunklen Seiten, die in uns schlummern, gut zu verstecken weiß. Zugleich offenbart sich dadurch unser Charakter.
Sehr dankbar bin ich Gott für die erste Zeit des Noviziates im Kloster, für alle Kämpfe und Auseinandersetzungen. Natürlich beginnt man mit großer Freude, Begeisterung und Ehrgeiz und ist überzeugt davon, alle zu lieben. Ich gebe gerne zu, dass ich am Anfang dachte, ich werde viel schneller heiliger als die anderen Mitschwestern. Wenn man jedoch plötzlich auf engstem Raum ständig mit den gleichen Menschen konfrontiert wird, tauchen Gedanken auf, die man vorher nicht für möglich gehalten hätte: Neid, Arroganz, Stolz und Eifersucht. Nach einem halben Jahr regt einen auf, wie die andere in ihr Brötchen beißt oder sich die...