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Die Macht des Heiligen

Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung

AutorHans Joas
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl450 Seiten
ISBN9783518754184
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis25,99 EUR
»Entzauberung« ist ein Schlüsselbegriff im Selbstverständnis der Moderne. Doch worum handelt es sich dabei eigentlich? Sind Max Webers kanonisch gewordene Vorstellungen überhaupt haltbar - oder alternativlos? Hans Joas unternimmt in seinem hochgelobten Buch den Versuch, »Entzauberung« zu entzaubern. In Auseinandersetzung mit Weber entwirft er eine Theorie, die dem machtstützenden Potenzial von Religion ebenso gerecht werden kann wie dem machtkritischen; und er setzt an die Stelle des Geschichtsbilds vom unaufhaltsamen Fortschritt der Entzauberung ein Spannungsfeld zwischen Sakralisierung, ihrer reflexiven Brechung und den Gefahren ihrer Aneignung in Machtbildungsprozessen. Das beinhaltet Zumutungen - für Gläubige wie für Säkulare.

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<p>Hans Joas, geboren 1948, ist Ernst-Troeltsch-Honorarprofessor an der Theologischen Fakult&auml;t der Humboldt-Universit&auml;t zu Berlin sowie Professor f&uuml;r Soziologie an der Universit&auml;t Chicago. F&uuml;r sein Werk wurde er vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Hans-Kilian-Preis, dem Max-Planck-Forschungspreis, dem Prix Ricoeur und zuletzt mit dem Theologischen Preis der Salzburger Hochschulwochen.</p>

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Leseprobe

Einleitung


Dieses Buch stellt einen Versuch dar, einen der Schlüsselbegriffe des Selbstverständnisses der Moderne zu entzaubern: den der Entzauberung. Dieser Begriff ist, wie sich zeigen wird, von einer tiefen Mehrdeutigkeit, welche auch noch den Gegenbegriffen wie Verzauberung und Wiederverzauberung anhaftet, die seit seiner Prägung zusätzlich in Umlauf geraten sind. Solche Mehrdeutigkeit kann zu Verwirrungen führen und hat in diesem Fall in der Tat vielfach zu solchen geführt. Sie kann auch, da sie ja mit dem Begriff unerkannt transportiert wird, ein Mittel zur Herstellung einer falschen Eindeutigkeit sein. Für die Geschichte von einem sich über Jahrtausende erstreckenden fortschreitenden Prozeß der Entzauberung trifft dies zu; sie kann, wenn meine Argumentation zutrifft, heute nicht einfach fortgeschrieben werden. Wir brauchen deshalb eine Alternative zu ihr oder vielleicht mehrere — neue Narrative der Religionsgeschichte in ihrer Verknüpfung mit der Geschichte der Macht, die an die Stelle des Entzauberungsnarrativs treten können.

Mit dem Namen keines anderen Denkers und Wissenschaftlers ist der Begriff der Entzauberung so eng verbunden wie mit dem Max Webers. In einem strategisch zentralen Teil dieses Buches werde ich mich mit seiner Verwendung dieses Begriffs und ihrer Problematik ausführlich und textnah auseinandersetzen. Für die Skizzierung einer Alternative genügt eine kritische Auseinandersetzung mit Weber aber keineswegs. Für sie sind neben vielfältigen empirischen Befunden auch andere denkerische Versuche der Vergangenheit als der Max Webers heranzuziehen. Bei allem Übergewicht der Narrative von Säkularisierung und Entzauberung — die natürlich nicht miteinander gleichgesetzt werden dürfen, aber auch nicht völlig unabhängig voneinander sind — blieben diese nie ohne Widerspruch und Gegnerschaft. An die berechtigten Motive in den Äußerungen dieser Denker muß deshalb heute anknüpfen, wer eine solche Alternative zusammenhängend entwickeln will.

Das ist auch deshalb nötig, weil eine Kritik an Weber in diesem Punkt, zumindest meiner persönlichen Erfahrung nach, nur allzu leicht auf unterstellte religiöse Motive des Kritikers zurückgeführt wird. Weber erscheint dann als der Inbegriff eines nüchternen und illusionslosen Denkers, dem nur die widersprechen, die eben nicht zum selben Maß an Nüchternheit und heroischer Illusionslosigkeit imstande sind. Ihre hilflosen oder schwärmerischen Versuche fallen, so gesehen, immer nur auf sie selbst zurück. Aber stehen sich hier wirklich Wissenschaft und Glaube, Realitätstüchtigkeit und Illusionismus, Rationalität und Bereitschaft zum Opfer des Intellekts gegenüber? Oder spielen auch auf der Seite Webers und anderer Vertreter der Geschichte von der Entzauberung spezifische religiöse oder antireligiöse Motive eine wichtige Rolle? Können Narrative solcher Größenordnung einfach von den Tatsachen abgelesen und an diesen eindeutig bestätigt oder widerlegt werden? Hätte Max Weber selbst sich jemals so verteidigt? Inwiefern gibt es überhaupt die Möglichkeit einer Wissenschaft von der Religion, wenn unbestreitbar sein sollte, daß religiöse oder antireligiöse Motive in ihr notwendig eine konstitutive Rolle spielen?

Um dieser Fragen willen und um zugleich dem Potential geistesgeschichtlicher Anregungen für eine mögliche Alternative zur Geschichte von der Entzauberung gerecht zu werden, setzt dieses Buch sehr grundsätzlich an. Die ersten drei Kapitel beschäftigen sich auf den Gebieten dreier Disziplinen mit den Problemen einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit Religion überhaupt. Im ersten Kapitel geht es um die Geschichtswissenschaft, im zweiten um die Psychologie und im dritten um die Soziologie. Um enzyklopädische Ansprüche zu umgehen, beschränken sich alle drei Kapitel im wesentlichen auf je eine intellektuelle Konstellation, die mir im Rückblick auf die Wissenschaftsgeschichte besonders instruktiv zu sein scheint. Konkret geht es zunächst um den frühesten dieser Fälle, nämlich den Versuch des großen schottischen Philosophen und Historikers David Hume in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts, eine von allen theologischen Vorannahmen absehende, empirisch fundierte Universalgeschichte der Religion zu konzipieren. Dann wird das unbestritten klassische Gründungsdokument einer empirischen Religionspsychologie zum Thema, die bis heute in vielen Hinsichten inspirierende reichhaltige Phänomenologie individueller religiöser Erfahrungen, die der amerikanische pragmatistische Philosoph und Psychologe William James in den ersten Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts vorgelegt hat. Für die Entstehung einer spezifisch soziologischen (und auch ethnologisch-anthropologischen) Religionsforschung ist die Lage, was die zu erörternde Konstellation betrifft, nicht ganz so eindeutig wie in den beiden anderen Fällen. Ich habe mich für den vornehmlich in Frankreich geführten Diskurs über die Bedeutung kollektiver Rituale entschieden, der von dem Historiker Numa Denis Fustel de Coulanges zu seinem Studenten, dem Klassiker der französischen Soziologie, Émile Durkheim, und dessen für die Religionssoziologie zentralem Meisterwerk von 1912 zur Religion australischer Aborigines und nordamerikanischer Indianer führt.

Es versteht sich von selbst, daß damit alle drei behandelten Fälle den Gründungsphasen moderner wissenschaftlicher Disziplinen entstammen und noch keine fest etablierten Abgrenzungen der Disziplinen voneinander zu erwarten sind. David Humes Programm für eine Geschichtsschreibung etwa beruht stark auf einer (bestimmten) psychologischen Theorie. Um disziplinhistorische Fragen, auch die der Herausbildung eines eigenständigen Faches namens Religionswissenschaft oder Comparative Religion, geht es im Folgenden nicht eigentlich. Es geht vielmehr um drei exemplarische Fälle, an denen sich die grundsätzliche Frage nach der Möglichkeit wissenschaftlicher Aussagen über Religion in sehr verschiedenen Kontexten erörtern läßt und zugleich Elemente einer umfassenderen Theorie gesammelt werden können. Für diese beiden Zwecke ist es nötig, über den jeweils zentralen Autor und sein Werk hinauszugehen und implizite oder explizite Gegner, Vorläufer und Nachfolger wenigstens ansatzweise in den Blick zu nehmen; aus diesem Grund habe ich von »Konstellationen« gesprochen. Im Fall der Geschichtswissenschaft gehe ich deshalb auch auf die Rezeption Humes bei Johann Gottfried Herder ein, da dieser als Christ in höchst aufschlußreicher Weise an das religionsskeptisch motivierte Projekt Humes produktiv anknüpfte und es weitertrieb. Im Fall der Psychologie ist von William James aus sowohl zurück wie nach vorne zu blicken. Zurückzublicken ist, weil in theologischen Kreisen die methodische Innovation von James gerne einhundert Jahre früher datiert und Friedrich Schleiermachers Reden über die Religion »an die Gebildeten unter ihren Verächtern« aus dem Jahr 1799 zugeschrieben wird. Nach vorne zu blicken ist, weil James' Psychologie schon von den Zeitgenossen als einseitig und mangelhaft in Hinsicht auf die Deutung intensivster menschlicher Erfahrungen durch die Subjekte selbst empfunden wurde. Ein Kollege und Freund von James an der Harvard University, der in Europa bis heute fast unbekannte Philosoph Josiah Royce, unternahm in seinem Spätwerk einen im Rückblick geradezu sensationell erscheinenden Versuch, diese Mängel mit Mitteln einer Theorie der Zeichen, der Semiotik also, zu überwinden. Im dritten Fall, der Soziologie, geht es ohnehin um die schrittweise Entwicklung eines methodischen Ansatzes in einem neu entstehenden Fach. Ich stelle diesen Ansatz in einer Weise vor, die sich von der konventionellen Deutung Durkheims weit entfernt; der Ansatz wird zudem durch den Vergleich mit späteren Versuchen der Ritualtheorie in seiner unüberholten Bedeutung für eine Anthropologie der Idealbildung profiliert.

Aus diesen drei Kapiteln soll ein erstes Bild erwachsen, das Religion auf historisch situierte menschliche Erfahrungen von etwas, das als heilig empfunden wird, zurückführt — Erfahrungen, die wir nur dann richtig verstehen, wenn wir sie in einer semiotisch transformierten Psychologie des Selbst verankern, in Praktiken verkörpert denken und nicht individualistisch verengen. An dieser Stelle kann diese verdichtete Formel zwar noch nicht voll verständlich sein. Der Vorgriff auf sie signalisiert aber schon, daß sich bereits früh Alternativen zu den Denkformen einer naturalistischen Religionskritik herausgebildet...

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