DIE VORBEREITUNG
2013 bis 2016
Abenteuer wie die bevorstehende Expedition zum Nordpol oder auch die Expedition zwischen 2006 und 2007 zum Südpol benötigen nebst aufwendigen Vorbereitungen und großen physischen Grundvoraussetzungen vor allem eines: die Bereitwilligkeit im Kopf. Eine absolute mentale und geistige Zusage für das Ziel. Für das Ziel, von dem man weiß, dass es einen in seiner Härte an die Grenzen und zeitweise darüber hinaus fordern wird. Eine solche innere Bereitschaft entsteht nicht über Nacht. Sie ist das jahrelange, langsame Heranwachsen einer Energie, die nach außen unsichtbar ist, von der aber alles abhängt. Vor allem das Überleben. Deswegen wähle ich für meine Nordpolexpedition den Namen »90° North – 100 % Commitment«. Neunzig Grad nördliche Breite beschreibt den geografischen Nordpol. Um dieses Ziel aus eigener Muskelkraft zu erreichen, braucht es ein hundertprozentiges Commitment, eine hundertprozentige innere Verpflichtung gegenüber dem bevorstehenden Ziel. Es ist das Bejahen von Ängsten und Zweifeln, von Mängeln und Unsicherheiten. Es ist das Eintauchen in eine bedrohliche Welt, die alles von einem fordert, alles von einem nimmt, in der man nichts mehr verlieren kann und das Überleben das Einzige ist, das übrig bleibt.
Reinhold Messner spricht in diesem Zusammenhang in einem Interview, das ich mit ihm für meinen Dokumentarfilm führte, von »Wiedergeburt«. Er sagte: »Diese Wiedergeburt, also dieses Gefühl, wiedergeboren zu sein, ist nur möglich, wenn ich aus einer lebensgefährlichen Welt komme. Die Kunst ist, nicht umzukommen. Aber ich gehe los und weiß, es könnte etwas passieren. Denn wenn ich allein unterwegs bin, muss nur eine Kleinigkeit passieren, dann bin ich tot. Aber ich will nicht umkommen. Und ich habe zum Glück einen Überlebensinstinkt, der mich wahrscheinlich rechtzeitig vor dem Risiko warnt. Nur so kommen die Ängste zum Tragen, die Zweifel und die Hoffnungslosigkeit. Ich werde zurückgeworfen auf meine Beschränktheit und auf meine Mängel. Und obwohl ich also umkommen könnte, gehe ich dorthin, um nicht umzukommen. Dann komme ich zurück, und mir ist nichts passiert. Ich schnaufe durch, vor allem wegen dieses Gefühls: Ich bin wiedergeboren.«
Nebst der mentalen ist auch die praktische Vorbereitung für den Nordpol eine Expedition für sich. Selbst wenn ich mich dazu entschieden habe, den Gang zum Nordpol in vier Einzeletappen aufzuteilen, bleibt die Beschaffung des Materials anspruchsvoll. Alles ist sehr individuell, kaum etwas lässt sich delegieren. Es gibt in der Schweiz zwar unzählige Bergsportläden, aber keinen einzigen Shop für polare Expeditionen. Ich muss deshalb in verschiedene Länder reisen, um die erforderliche Spezialausrüstung zusammenzutragen, und mit Gleichgesinnten reden, die ebenfalls schon polare Erfahrungen gemacht haben. Nur, der eine macht es so, und die andere macht es anders. Ich muss also selbst herausfinden, was für mich das Beste ist.
Ich brauche zum Beispiel Spezialnahrung, die täglich 6000 bis 7000 Kalorien abdecken muss, ein Kochbrennersystem, mit dem ich mein arktistaugliches Zelt während des Vorwärmprozesses des Benzinkochers nicht schon am ersten Tag abfackle, Ski mit passender Laufbindung, damit sich die Achillessehnen unter der Zuglast des Hundert-Kilogramm-Schlittens nicht bereits nach einer Woche entzünden oder – noch schlimmer – abreißen, eine Schusswaffe mit entsprechender Bewilligung, ohne die Grönland und Spitzbergen keine Expeditionsbewilligungen erteilen, alle notwendigen Dokumente für die Einreise, Versicherungen, ein Satellitentelefon samt Notsender, eine taugliche Foto- und Filmausrüstung, die bei minus 55 Grad nicht den Geist aufgibt, Solargeräte zum Füttern der Akkus und Batterien und vieles mehr. Ganz zu schweigen vom Backoffice daheim, das von Dritten betreut werden muss. Zum Vergleich: Eine Expedition auf einen Achttausender im Himalaja stelle ich innerhalb einer Woche auf die Beine. Ich muss im Grunde nur den Entschluss fassen, die Formalitäten erledigen, mich mit den richtigen Menschen in Nepal, Tibet oder Pakistan zusammentun, packen und aufbrechen. That’s it.
Natürlich helfen mir meine Erfahrungen aus bisherigen Expeditionen bei den Vorbereitungen. Sowohl der Gang zum Südpol wie auch die Trainings zuvor in den Jahren 2003 und 2004 in den Nordwest-Territorien und auf der Baffin-Insel im arktischen Kanada haben mir viel Know-how verschafft. Und doch werden in der Arktis ganz andere Themen auf mich warten als in der Antarktis.
Am Nordpol herrscht zum Beispiel eine andere Kälte als überall sonst auf der Welt. Man geht dort auf gefrorenem Wasser und nicht auf solidem Untergrund. Deshalb muss man auch das Gelände anders »lesen«. Sieht man etwa dunkle Wolken am Horizont, kann das ein Zeichen einer Schlechtwetterfront sein. Es kann aber auch bedeuten, dass sich eine offene Wasserspalte am Himmel spiegelt und die Wolken deswegen dunkler aussehen. Oder: Am Südpol ist die gefühlte Temperatur aufgrund des permanenten Windes oft kälter als am Nordpol. Aber die Antarktis ist der trockenste Kontinent der Welt, weshalb man den Schlafsack tagsüber auf den Schlitten binden und die Feuchtigkeit, die sich in der Nacht aufgrund der kondensierenden Körperwärme darin gesammelt hat, verdunsten kann. Auf dem Weg zum Nordpol geht das aber nicht – das Gelände lässt es nicht zu. Man muss immer wieder Presseis, hoch aufgetürmte Eisbrocken, überwinden, sodass der Schlitten oft seitwärts in den Schnee kippt, sich überschlägt und man ihn mühsam wieder aufrichten muss. Würde man den Schlafsack also zum Trocknen auf den Schlitten binden, wäre er abends nicht nur von innen, sondern auch von außen nass. Die Kunst ist deshalb, herauszufinden, wie man den Schlafsack in der Arktis trocken hält.
Auch die Ernährung ist ein Thema für sich. In der Antarktis habe ich zwar dehydrierte, aber immerhin richtige Mahlzeiten gekocht. In der Arktis geht das nicht, weil der Geruch von Essen die Eisbären anlocken würde. Deshalb gießt man dort nur aufgekochtes Schneewasser über gefriergetrocknete Menüs, wartet ein paar Minuten, bis sie aufgeweicht sind, und isst sie dann direkt aus dem geruchsneutralen Aluminiumbeutel.
Für meine Nordpolexpedition stellten sich mir also tausend neue Fragen:
Welche Skier wähle ich? Mit welchem Fell? Und welche Bindung passt zu meinen speziellen Expeditionsschuhen?
Die passenden Schuhe sind immens wichtig und eine Welt für sich. Ich werde schwitzen, aber der Innenschuh muss trocken bleiben. Welches Material nehme ich besser? Simple Plastiksäcke? Oder speziell angefertigte Dampfsperren?
Welches Material nehme ich bei den Socken? Wähle ich Unterwäsche aus Synthetik oder Merinowolle? Der BH muss gut stützen, aber so bequem sein, dass er nicht drückt und ich ihn Tag und Nacht anbehalten kann.
Dann kommen die Schichten. Und die Überschichten. Und die Über-Überschichten. Welches Material taugt am besten? Und welche Größen?
Wähle ich Daunenjacken? Oder Primaloft? Wie dick sollen die Jacken sein? Wichtig: Daunenjacken dürfen nicht nass werden, sonst fallen die darin enthaltenen Daunen, genauso wie im Schlafsack, in sich zusammen und isolieren nicht mehr.
Welche Handschuhe halten meine Finger warm und isolieren, auch wenn sie nass werden? Welches Material trocknet nachts im Zelt? Welche Über-Handschuhe wähle ich? Goretex? Windstopper?
Extrem der Kälte ausgesetzt ist das Gesicht. Also: Welche Gesichtsmaske taugt am besten? Welches Material hinterlässt keine Druckstellen? Druckstellen begünstigen Frostbeulen. Welches Material fühlt sich trotz gefrorener Atemluft, die sich als Eiszapfen unter der Sturmmaske ablagert, einigermaßen angenehm auf der Haut an?
Welche Kapuze schützt mich richtig, und welche Art Fell nähe ich als zusätzlichen Gesichtswindschutz an? Nehme ich Fellstreifen vom Vielfraß? Das wäre das Beste. Doch wo komme ich an ein Vielfraß-Fell? Also doch besser Fuchsfell. Ich habe noch die Fuchsfellstreifen, die ich vor zehn Jahren an die Kapuze meiner Südpol-Jacke genäht hatte. Dieses Fell gehörte meiner Großmutter. Bevor sie starb, schenkte sie es meiner Mutter. Und später schenkte es meine Mutter mir für meine Südpolexpedition. Jetzt könnte ich das Fell meiner damaligen Kapuze abtrennen und an die neue Kapuze nähen. Die Kapuze muss groß genug sein, um mein Gesicht zu schützen. Sie darf aber nicht zu groß sein, damit sie mir nicht die Sicht verdeckt und die Sturmbrille nicht anläuft. Sie darf aber auch nicht zu locker sitzen, weil sie sonst vom Wind nach hinten geweht wird.
All das und vieles mehr geht mir während der Vorbereitungsphase durch den Kopf, mit Vorliebe morgens um zwei Uhr. Ich schrecke auf, Adrenalin pumpt in mein Blut, und an ein Weiterschlafen ist nicht mehr zu denken. Ich bin hellwach, und die Gedanken fangen an zu rotieren: Was muss ich noch erledigen, welche Probleme stehen mir noch im Weg, an was habe ich vergessen zu denken? Schließlich muss ich auch das Administrative daheim erledigen, die Rechnungen bezahlen und – Mist, das Satellitentelefon darf ich nicht vergessen zu organisieren. Apropos Kommunikation und Navigation: Welches GPS wähle ich? Auf welchem Längengrad und somit in welcher Zeitzone werde ich zum Nordpol unterwegs sein?
Besser, wenn ich mich gar nicht erst zum Weiterschlafen zwinge, denn das zieht mir nur noch mehr Energie ab. So stehe...