1 Grundlagen
1.1 Die Bedeutung der Elektrokardiographie
Nichtinvasive und invasive Kardiologie zeigen eine unverändert rasante Entwicklung. Insbesondere die interventionelle Kardiologie greift bei der ischämischen koronaren Herzerkrankung und in der Rhythmologie in Bereiche ein, die früher ausschließlich der Herzchirurgie vorbehalten oder überhaupt nicht zugänglich waren. Die Elektrokardiographie bleibt dabei eine unverzichtbare grundlegende Untersuchungsmethode. Ihre Domäne sind koronare Herzerkrankungen, Hypertrophien, Schenkelblockierungen und Arrhythmien. Die weite Verbreitung und einfache Handhabung des EKG darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die EKG-Interpretation schwierig sein kann und viel Erfahrungen braucht. EKG-Veränderungen zeigen fließende Übergänge zwischen Normalbefund und verschiedenen pathologischen Zuständen. Zu beachten ist die jeweilige Sensitivität und Spezifität, um beispielsweise hohe R-Amplituden in den präkordialen Ableitungen oder ST-Senkungen in das klinische Bild einbauen zu können. Nicht selten besteht eine gute EKG-Diagnostik darin, die möglichen Differenzialdiagnosen aufzuzeigen, wenn eine eindeutige Festlegung allein aus dem Stromkurvenverlauf nicht möglich ist. Das EKG hat in diesen Fällen seine Hauptaufgabe als Wegweiser für den weiteren kardiologischen Untersuchungsgang erfüllt.
1.2 Die Anatomie des Herzens und das Erregungsbildungs- und Erregungsleitungssystem
Das Erregungsbildungs- und Erregungsleitungssystem ist verantwortlich für die Koordination der mechanischen Systole von Vorhöfen und Kammern. Es umfasst neben dem Sinusknoten die atrialen Leitungsbahnen, den AV-Knoten, das His-Bündel, die Tawaraschenkel und die Purkinje-Fasern. Aufgabe der Arbeitsmuskulatur ist die systolische Kontraktion und damit die Pumpfunktion des Herzens über die elektromechanische Kopplung.
▶ Abb. 1.1 zeigt den schematischen Aufbau. Die spezifischen Muskelfasern, die die Erregungsbildungszentren und das Erregungsleitungssystem bilden, unterscheiden sich histologisch und elektrophysiologisch von der Arbeitsmuskulatur.
Abb. 1.1 Erregungsbildungs- und Erregungsleitungssystem des Herzens
1.2.1 Sinusknoten
Der normale Schrittmacher des Herzens und damit das primäre Erregungsbildungszentrum ist der Sinusknoten. Er ist längsoval und sitzt nahe der Einmündung der V. cava superior in den rechten Vorhof. Der Sinusknoten arbeitet autonom, d.h. auch bei Denervierung. Die normalen Frequenzen betragen 60–80/min und werden durch das sympathische und parasympathische Nervensystem beeinflusst. Damit ist eine Frequenzanpassung an die Erfordernisse des Körpers möglich.
1.2.2 AV-Knoten
Die vom Sinusknoten ausgehende Erregung erreicht den AV-Knoten nach 20–40 msec. Der etwa 7 mm lange AV-Knoten besteht funktionell aus 3 Anteilen ( ▶ Abb. 1.2):
Abb. 1.2 AV-Knoten, His-Bündel und Tawara-Schenkel
Wie der Sinusknoten besitzen die Verbindungszonen eine autonome Schrittmacheraktivität, deren Frequenz mit 40–60/min aber langsamer ist. Hauptfunktion des AV-Knotens ist die Verzögerung der atrioventrikulären Überleitung um 60–120 msec, sodass der atrialen Systole ausreichend Zeit vor der ventrikulären Systole bleibt.
1.2.3 His-Bündel, Tawaraschenkel und Purkinje-Fasernetz
Auch das bis 20 mm lange His-Bündel besitzt Schrittmacheraktivität mit Frequenzen von 40–50/min. Es verzweigt sich in den linken und rechten Tawaraschenkel.
Der linke Tawaraschenkel teilt sich in ein längeres, dünneres und vulnerableres vorderes Faszikel und in ein kürzeres und kräftigeres hinteres Faszikel. Die Erregung des intraventrikulären Septums erfolgt initial vom linken Tawaraschenkel aus, also von links hinten nach rechts vorne.
Der rechte Tawaraschenkel ist mit 5 cm recht lang, über eine längere Strecke unverzweigt und damit ebenfalls vulnerabel. Die Tawaraschenkel enden in einem vorwiegend subendokardialen, fein verzweigten Fasernetz, den Purkinje-Fasern. Die hohe Erregungsleitungsgeschwindigkeit der Tawaraschenkel und der Purkinje-Fasern gewährleisten eine rasche und nahezu synchrone ventrikuläre Depolarisation.
1.3 Elektrophysiologische Grundlagen
Das EKG registriert die beim Erregungsablauf auftretenden wechselnden Potenzialdifferenzen in dem elektrischen Feld, das vom Herzen gebildet wird.
Basis der elektrophysiologischen Abläufe ist das Aktionspotenzial der Herzmuskelzelle ( ▶ Abb. 1.3). An der Membran besteht eine intra–extrazelluläre Potenzialdifferenz von ca. –90 mV. Das negative Vorzeichen ist definiert durch die negative intrazelluläre Ladung. Durch aktive Prozesse werden ein extrazellulärer Natrium- und ein intrazellulärer Kaliumüberschuss aufrechterhalten.
Abb. 1.3 Zusammenhang zwischen Ionenströmen, Aktionspotenzial und EKG
Eine überschwellige Erregung löst ein Aktionspotenzial aus, das in vier Phasen (Phasen 0–IV) eingeteilt wird.
Phase 0: Rascher Natriumeinstrom mit kurzzeitiger Umkehrung des Membranpotenzials (+20 bis +30 mV). Die sich ausbreitende Depolarisation des Ventrikelmyokards bildet den QRS-Komplex des EKG.
Phase I: Kurze, frühe, steile Repolarisation, im Wesentlichen bedingt durch eine abnehmende Natriumleitfähigkeit.
Phase II: Plateauphase mit nur langsamer weiterer Repolarisation. Sie wird getragen durch einen langsamen Kalziumeinstrom, der an der elektromechanischen Kopplung beteiligt ist. Die Plateauphase entspricht der ST-Strecke im EKG.
Phase III: Die anschließende Repolarisation bis zum Membranruhepotenzial ist Folge eines Kalium-Ausstroms, der den initialen Natriumeinstrom ausgleicht. Die Phase III korreliert mit der T-Welle.
Phase IV: Im Arbeitsmyokard entspricht die Phase IV einem stabilen Membranruhepotenzial. Die Natrium-Kalium-Pumpe befördert einerseits die während des Aktionspotenzials eingeströmten Natriumionen im Austausch gegen Kaliumionen wieder in den extrazellulären Raum, gleicht andrerseits fortwährende geringe Natrium- und Kaliumleckströme aus und hält so das Membranruhepotenzial stabil. Die Phase IV entspricht der isoelektrischen Linie zwischen 2 Herzaktionen (sog. T-P-Strecke).
1.3.1 Aktionspotenziale des Sinusknotens und des AV-Knotens
Das Aktionspotenzial der spezialisierten Muskelzellen des Sinusknotens und des AV-Knotens unterscheidet sich von dem des Arbeitsmyokards in zwei wesentlichen Punkten ( ▶ Abb. 1.4):
Abb. 1.4 Aktionspotenziale des Arbeitsmyokards und des Sinusknotens
Es fehlt ein stabiles Ruhepotenzial. Ausgehend von einer maximalen Polarisierung um −70 mV zeigen die Schrittmacherzellen eine spontane Depolarisation, die bei einem Schwellenpotenzial von −50 bis −60 mV automatisch das nächste Aktionspotenzial einleitet. Weil diese spontane Phase-IV-Depolarisation in den Zellen des Sinusknotens am steilsten ist und recht früh das Schwellenpotenzial erreicht, ist er der primäre Schrittmacher des Herzens. Die Steilheit dieser Phase-IV-Depolarisation flacht über die Übergangszonen des AV-Knotens zum His-Purkinje-System und ausnahmsweise auch Zellen des Arbeitsmyokards zunehmend ab.
Dem Aktionspotenzial des Sinusknotens fehlt eine steile Phase 0. Es wird getragen durch einen langsameren Kalziumeinstrom, sodass die Depolarisation langsamer erfolgt, die Potenzialumkehr geringer ist, eine typische Plateauphase fehlt und die Aktionspotenzialdauer kürzer ist. Das Aktionspotenzial des AV-Knotens unterscheidet sich von dem des Sinusknotens nur durch einen etwas steileren Aufstrich. Folge des veränderten Aktionspotenzials ist eine verminderte Erregungsleitungsgeschwindigkeit im Sinus- und AV-Knoten.
1.3.2 Refraktärzeiten
In Phase I und II und zu Beginn der Phase III ist die Myokardzelle unerregbar: man spricht von der absoluten Refraktärzeit ( ▶ Abb. 1.5). Wenn das Membranruhepotenzial –50 bis –60 mV erreicht, kann ein vorzeitiger Reiz nur ein kleines Potenzial auslösen, das nicht fortgeleitet wird. Dieser kurze Zeitabschnitt bildet zusammen mit der absoluten Refraktärzeit die effektive Refraktärphase. Bei weiter zunehmendem Potenzial kann ein gegenüber den Normalaktionen zwar kleineres und kürzeres, aber zur Kontraktion und Fortleitung führendes Aktionspotenzial ausgelöst werden. Nach Ablauf dieser relativen Refraktärzeit ausgelöste Aktionspotenziale sind normal konfiguriert.
Abb. 1.5 Schema der Refraktärzeit
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