1.5 Strategie, Linguistik und Kommunikation
Betrachtet man Strategie aus sozialwissenschaftlicher Perspektive bzw. untersucht man strategische Interaktion zwischen Parteien nach Ursache und Wirkungen, stellt man fest, dass Strategie als Prozess verstanden und auch dargestellt werden kann17. Wenn Person A eine strategische Handlung unternimmt, zeigt die Gegenseite Person B in der Regel eine Reaktion und handelt ggf. ihrerseits strategisch. Es ist also definierbar, was Ursache und was Wirkung ist. Reagiert Person A nun noch einmal, wird die Wirkung zur Ursache usw. So einfach ist es natürlich in der Realität nicht. Zum einen sind nicht immer nur zwei Parteien beteiligt (bilateral), oft ist das Geschehen multilateral. Weiterhin ist es selten nur eine Variable, welche die Wirkung bedingt, vielmehr kommen fast immer mehrere Variablen zusammen (Konstrukt), die eine Reaktion (Wirkung) erzeugen. In der internationalen Politik sind diese Variablen in ihrer Gesamtheit so komplex, dass es nahezu unmöglich ist diese in einem Gefüge zu erfassen. Als der erste Weltkrieg ausbrach, ereignete sich kurz vorher das Attentat in Sarajevo, bei der österreichische Thronfolger Franz-Ferdinand und seine Gemahlin ermordet wurden. Der österreichische Kaiser erklärte daraufhin Serbien den Krieg und das Geschehen nahm seinen Lauf. Fokussiert man auf diesen einen Moment der Geschichte, könnte man das Attentat als Ursache betrachten und den Kriegsausbruch als Wirkung. Doch so einfach ist die Welt nicht. Es waren letztendlich viele Faktoren, die im Vorfeld des Krieges zu Spannungen, Irritationen etc. führten, so dass das Attentat lediglich ein Anlass war, also nur ein Faktor in einem komplexen Gefüge. In solchen Gefügen gibt es nun Faktoren, die stark bedingen, andere schwach, manche Faktoren bedingen sich gegenseitig, andere überhaupt nicht usw. In der Sozialforschung versucht man solche Gefüge mittels aufwändiger Strukturgleichungsmodellen18 zu erfassen. Strategen haben freilich selten ein Strukturgleichungsmodell in ihrem strategischen Alltag
zur Hand. Im Grunde muss der Stratege jedoch immer in Ursache-Wirkungsbeziehungen denken und versuchen möglichst stark bedingende Faktoren zu erfassen. Manchmal ist es ein unbedeutend erscheinender Faktor, der - sobald er ausgeschaltet ist - zur Lösung des gesamten Problems führt. Strategische Interaktion kann daher als ständiges Hin und Her verstanden werden. Im Grunde ist dies wie in der Kommunikation. Wenn Menschen kommunizieren, benutzen sie Worte und Sätze und richten diese an die Gegenseite. Diese wiederum verarbeitet den Satz, entwirft eine Antwort darauf und richtet dann ihrerseits Worte und Sätze an das Gegenüber. In der Kommunikation greifen die Individuen auf ihre Sprache zurück, welche ein definiertes Vokabular besitzt. Auch in der Strategie gibt es solch ein definiertes Vokabular, es sind die Strategischen Prinzipien. Da der erste Band dieses Repertoire an Strategischen Prinzipien als System zusammengestellt hat, trägt er auch den Titel: "Das vergessene Vokabular der Strategie". Vergessen deswegen, weil man sich in früheren Zeiten im Gegensatz zu heute dieser Prinzipien sehr wohl bewusst war.
Eine Sprache als System hat aber nicht nur ein Vokabular, sondern auch Regeln und Muster, die vorgeben, wie man es anwendet. Das vorliegende Buch trägt deswegen den Titel „Die verborgene Grammatik der Strategie“, weil es genau diese Regeln und Muster erforschen, transparent und auch lehrbar machen möchte. Diese und die ihnen zugrundeliegenden Logiken verbergen sich im menschlichen Geist. Ein Beispiel: Ein Mitarbeiter in einem Unternehmen verfolgt das Ziel eine mehrfach versprochene Gehalterhöhung zu erwirken und konfrontiert seinen Chef regelmäßig mit der Thematik. Er verweist dabei in Abständen immer wieder auf das Versprechen, bis der Chef irgendwann einwilligt, um nicht zu sagen einknickt. Der Mitarbeiter hat seinen Chef regelrecht belagert, bis dieser den Zustand nicht mehr ertragen konnte und handelte (Belagerung = Ursache; Gehaltserhöhung = Wirkung). Warum genau ist der Chef eingeknickt, was machte die Belagerung als Strategie in diesem Falle erfolgreich? Dazu muss man sich auf die Emotionsebene des Chefs bewegen. Wegen des Versprechens konnte der Mitarbeiter die Emotion Reue adressieren, schließlich hatte der Chef es versprochen. Reue ist eine Emotion, die negative Empfindungen hervorruft. Manche halten diese aus, andere nicht. Letztere sehen sich irgendwann gezwungen zu handeln, um das Gefühl abzustellen. Aus dem Beispiel wird ersichtlich, dass ein Verständnis um die Logiken im menschlichen Geiste die strategische Lehre enorm bereichern kann. Reue als Emotion ist nur ein Beispiel, es gibt viele Emotionen mit unterschiedlichen Wirkungslogiken. Weiterhin gibt es kognitive Unzulänglichkeiten, Illusionen und Wahrnehmungsfehler. All dies zusammen bildet die Grundlage für ableitbare Regeln, Muster und Logiken, die erfolgreiche Strategien in der sozialen Interaktion erklärbar machen. Kennt der Stratege diese Grammatik, kann er das Vokabular geschickter einsetzten und die Qualität seines strategischen Handelns signifikant steigern. Das vorliegende Buch befasst sich daher zum überwiegenden Teil mit der Erforschung und Systematisierung dieser Grammatik sowie mit daraus abzuleitenden Handlungsempfehlungen. Der österreichische Wirtschaftswissenschaftler Ludwig von Mises hatte 1949 in seiner Lehre vom menschlichen Handeln, auch Praxeologie genannt, genau dies postuliert:
„Man muss die Gesetze menschlichen Handelns und sozialer Kooperation studieren, genauso wie der Physiker die Gesetze der Natur erforscht19“
Um im weiteren Verlauf terminologisch konform arbeiten zu können, sollen an dieser Stelle drei Begrifflichkeiten aus der Strategielehre eingeführt werden. Im Sinne der Ursache-Wirkungs-Perspektive spricht die Strategielehre von Protagonisten, Antagonisten und Synergisten. Der Protagonist ist dabei der Ersthandelnde (gelegentlich auch als Hauptakteur bezeichnet); der Antagonist ist sein Gegenspieler, die Person, die auf das Handeln des Protagonisten mit eigenen Handlungen reagiert. Ein Synergist ist eine Person, die entweder im Verbund mit dem Protagonisten oder aber mit dem Antagonisten steht, also ein Mitstreiter. Sie sind von dem jeweiligen Handeln affektiert und unterstützen ihre Hauptfigur. Alle drei Termini sind dem altgriechischen Drama entlehnt. Auch der Begriff Strategie selbst findet dabei seinen Ursprung in einem altgriechischen Wort: strategós. Dies war der Feldherr im militärischen Verständnis20.
Betrachtet man Strategie als Ursache-Wirkungs-Gefüge, stellt sich die Frage, wo Strategie eigentlich anfängt und wo sie aufhört? Im Grunde lässt sich diese Frage nur schwer beantworten, denn eine Wirkung kann immer wieder Ursache für etwas Anderes werden. In der internationalen Politik wird dies sichtbar, wo die Gegebenheiten immer wieder ineinandergreifen und sich das eine aus dem anderen ergibt. Betrachtet man beispielsweise das Ende des ersten Weltkrieges und den Versailler Vertrag, und hier sind sich Historiker weitgehend einig, lag in dem so geschlossenen Frieden schon wieder eine Ursache für den zweiten Weltkrieg. Die Reparationslast war von den Deutschen nicht zu stemmen, was wiederum eine wirtschaftliche Rezession mit verursachte und damit Unfrieden erzeugte. Ursachen müssen im Übrigen nicht notwendigerweise strategische Handlungen von Protagonisten sein, auch Zustände, Ereignisse etc. fallen darunter. Im ökonomischen Kontext lassen sich strategische Interaktionen in der Regel besser abgrenzen und damit auch einen Anfang und ein Ende definieren. Im oben stehenden Beispiel der Gehaltserhöhung ist dies z.B. leicht möglich.
In diesem Zusammenhang muss man vorsichtig sein beim Bewerten einer Strategie. Ob nun eine Strategie erfolgreich war oder scheiterte, ist erstens eine Frage der Perspektive, da jeder Beteiligte das Resultat mit eigenen Bezugspunkten in Verbindung bringt. Strategiebewertungen unterliegen also in hohem Maße der Subjektivität. Zweitens ist die Bewertung eine Frage des Zeitpunkts. Nach dem erfolgreichen militärischen Einsatz in Afghanistan (2001) zog man eine positive Bilanz und interpretierte die (Militär-)Strategie als erfolgreich. In der Nachfolgezeit destabilisierte sich das Land immer weiter und es trat alles andere als Befriedung ein. Heutzutage würde man eher sagen, dass die Strategie gescheitert war. Perspektive und Betrachtungszeitpunkt sind also entscheidende Determinanten für die Beurteilung einer Strategie. Dieselbe Vorsicht sollte man auch im Zuge der Strategieentwicklung walten lassen. Die Vokabeln falsch oder richtig sind sehr absolut. Begriffe wie zielführend oder erfolgsversprechend sind besser, da sie sich auf die Ziele des Protagonisten und damit auf dessen Perspektive beziehen.
17 Vgl. Parrott G.; S. 11f; Anm: Dieser Untersuchungsansatz betrachtet soziale und mentale Phänomene in einer mechanischen Art. Der Ansatz ist geeignet, um Regeln zu erkennen, mit denen man wiederum zukünftige Ereignisse vorhersagen kann. Nicht alle Sozialwissenschaftler folgen dieser Auffassung, denn Handeln kann auch ohne (äußere) Ursache erfolgen.
18 Vgl. Weiber R. / Muehlhaus D.; S. 3; S.18; Anm: Strukturgleichungsmodelle sind sehr aufwändige...