Die Abbildung des Nei Jing Tu lässt sich, entsprechend den drei Orten unterschiedlicher Aktivitäten im alchimistischen Prozess, in drei Teile zerlegen. Im unteren Teil des Körperbildes symbolisiert ein Kessel das Zentrum im Unterleib. Die vier darum herum kreisförmig angeordneten Yin-Yang-Symbole und die lodernden Flammen zeigen eine mächtige Wärmeentfaltung in alle vier Richtungen. Sie symbolisieren die gesammelte Energie als warme Glut im Unterleib, wenn Wasser und Feuer in einem ersten Einschmelzungsprozess miteinander verschmelzen. Noch tiefer am Boden der Abbildung bzw. am Boden des Beckens, dem mikrokosmischen Meeresgrund, sehen wir zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen, die auf großen Rädern sitzend Wasser treten. Sie pumpen das Wasser durch die untere Schranke Wei-Lu, das Tor des Beckenbodens (Renmai 1 ist der erste Akupunkturpunkt auf dem Konzeptionsgefäß) nach oben, um »das Rad des geheimnisvollen Weiblichen von Yin und Yang« anzutreiben. Es ist das Zusammenspiel von Yin und Yang in der Tiefe des menschlichen Leibes, in der Tiefe des Meeresgrundes. Dieses Wasser fließt gegenläufig die lange Treppe zum Himmel hinauf. Gemeint ist die lange Wirbelsäule, die bis in den Schädel, den Himmel des Mikrokosmos, hinaufragt.
Auf der Höhe der beiden Nieren (Akupunkturpunkt Blase 23), die in ihrer Polarität auch als Wasser-Niere und Feuer-Niere bezeichnet werden können, liegt mittig das Lebensfeuer Ming Men (Akupunkturpunkt Dumai 4). Auf einem Vorsprung, direkt neben der mächtig ausstrahlenden Glut des Lebensfeuers, des Ming-Men-Feuers, sitzt (in der Gebärmutter) ein Mädchen an einem Spinnrad; sie entspricht der Wasser-Niere. An dieser Stelle vereinen und vervollkommnen sich Wasser und Feuer, das wahre Yin und das wahre Yang. Das Ineinander-Verschlungen-Sein von Schildkröte und Schlange ist eine Form der Darstellung dieses Verschmelzungsprinzips.
Das Mädchen spinnt einen Faden, der oben an der Wirbelsäule auf Höhe des ersten Brustwirbels (Akupunkturpunkt Dumai 13) in den aufwärts fließenden Strom der Lebenskraft direkt zum Gehirn einfließt. Sie bringt den Kreislauf in Bewegung und leitet immer wieder einen Impuls an die Essenzen. Erwin Rousselle vergleicht die Spinnerin mit der Körperseele Po, deren Aktivität, aber auch deren Bändigung unabdingbare Voraussetzung für den Weg zum Elixier und schließlich zur Steigerung und Ausbildung eines höheren Selbst ist.
In der Nähe der Spinnerin sehen wir einen Ochsen vor einen Pflug gespannt. Dahinter steht ein Bauer mit einer Peitsche. Seine emsige Arbeit beschreibt den beharrlichen und beständigen Prozess, das Feld bzw. das untere Zentrum unermüdlich zu bearbeiten. Das pflügende Rind ist das entsprechende Haustier der Erde. »Das eiserne Rind pflügt das Feld, um goldenes Geld zu säen.« Aus solch einem fruchtbaren Boden erwächst wahrer Segen, um die nächste Stufe zum höheren Selbst zu empfangen.
Aber erst mit dem Überwinden der mittleren Schranke Jia Ji (Akupunkturpunkt Du 10) sind der Kontakt und die Harmonisierung mit den Körpergottheiten möglich. Dieses Passtor im mittleren Zentrum auf der Höhe des Herzens ist zwar kleiner als das im unteren Zentrum, aber dennoch ein Hindernis. An dieser Stelle werden die Yin-Kraft der Nieren und die Kraft des Herz-Feuers miteinander verbunden, um mit zündender Dynamik die obere Passagestelle zu meistern.
Das Herz erscheint im Bild als runde spiralförmige Struktur, die über die Luftröhre mit dem Strom der Energie in der Wirbelsäule verbunden ist. Auf dem Herzen stehend, befindet sich der Knabe des Steinhauers (»die Sternenbrücke des Kuhhirten«), der eine Schnur mit sieben Münzen auswirft. Die sieben Münzen symbolisieren auch die sieben Sterne des Großen Wagens (Bären), die Fixpunkte am Himmel darstellen und die Position des Polarsterns bestimmen. Für die Daoisten ist der Große Wagen zuallererst das Zentrum des Universums, die Achse aller kreativen Transformationen. Hier befindet sich das höchste Eine, der Himmelskaiser. Für die Alchemisten ist diese Region die Verkörperung des Zentrums, die mit der Erde korrespondiert. Ihre Rolle im alchimistischen Prozess ist es, den heiligen goldenen Embryo auszubilden und so die nächste Stufe zur Erleuchtung zu erklimmen.* Das Goldgelb ist der Lohn für die unermüdliche Arbeit an sich selbst. Im Klassiker Su Wen heißt es dazu: »Ich bepflanze zu Hause mein eigenes Feld. Darin gibt es einen magischen Sprössling, der 10.000 Jahre lebt. Seine Blüten sind wie Gold, und seine Farbe ändert sich nicht. Seine Samen sind wie Jadeperlen und seine Früchte sind alle rund. Zum Aufziehen und Kultivieren (des Sprösslings) verlasse ich mich ganz auf die Erde des mittleren Palastes. Zum Bewässern und Begießen vertraue ich ganz auf die Quelle des oberen Tals.«
Auf der Höhe der Luftröhre kommen Kuhhirte (Geistseele) und Spinnerin (Körperseele) sich einander näher. Spürbare Zufriedenheit und Freude durch das Wiederentdecken der eigenen Identität und Kreativität geben diesem mittleren Palast auch den Namen »Weg zum Glück«. »Die zwölfstöckige Pagode verbirgt in sich das Geheimnis des Erfolgs.« Gemeint sind die zwölf Stufen der zwölf Zentimeter langen Luftröhre, die aus einer Reihe von miteinander verbundenen Ringknorpeln zusammengesetzt ist und somit Ähnlichkeit mit einer Pagode hat. Sie beginnt genau auf der Höhe, wo sich die Spinnerin (Körperseele) und der Kuhhirte (Geistseele) harmonisch vereinen. Im Prozess der sich vereinigenden Seelen öffnet sich eine geheime süße Quelle (Akupunkturpunkt Renmai 23), die eine ambrosianische Flüssigkeit enthält und sich in die Mundhöhle ergießt. Diese Quelle, direkt hinter dem rechten Auge, zu aktivieren, macht den Weg frei für den ursprünglichen Geist. Dazu wird während der Meditation die Zunge gegen den oberen Gaumen gedrückt und eine sogenannte »Elsternbrücke« über den himmlischen Teich gebaut. Sie stellt bildlich die Verbindung zwischen der Spinnerin und dem Kuhhirten her. Bei den Techniken des Speichelschluckens wird dann die Zunge in alle Richtungen hin und her bewegt, bis der Mund voll Speichel ist. Der Speichel wird 36 Mal im Mund bewegt und soll dann in drei geräuschvollen Schlucken als süßer Nektar verschluckt werden. Mit den inneren Augen verfolgt man sein Hinunterfließen über den Ren Mai (Yin) bis zum unteren Zentrum, um hier auf die Essenz einzuwirken, sie umzuwandeln und zu veredeln. Diese Transformation findet im untersten Teil des Körpers, am »Meeresboden« des Mikrokosmos statt. Danach wird die veredelte Energie über den Du Mai (Yang) nach oben zum Gehirn geführt. Damit fließt der ursprüngliche Geist aus dem Ursprung der süßen Quelle des Gehirns in den kleinen himmlischen Kreislauf ein. Der Übende tritt nach und nach in die nächsthöhere Stufe ein. Er wird angeleitet, das dritte »himmlische Auge« als die wahre Sonne in der Mitte der Stirn zu öffnen. Dazu hilft ihm der Meister der Meditation Bodhidharma in uns. Der barbarische Mönch Bodhidharma steht am Teich mit erhobenen Händen. Indem er so den Himmel auf seinen Händen trägt, ist er in einer Position spiritueller Aufnahmefähigkeit.
Über der zwölfstöckigen Pagode befinden sich das Gehirn und das Meer des Markes, das auch als »Palast der Schlammkugel« bezeichnet wird. Es ist der Bereich des oberen Zentrums, dort wo die letzten Schritte der Vollendung des ursprünglichen Geistes zum Genius stattfinden. Dazu muss jedoch auch das letzte Passtor (Akupunkturpunkt Dumai 17), »die obere Schranke ist die Jade-Hauptstadt«, geöffnet werden, um den freien Durchgang zum Gipfel zu ermöglichen. Das Passwort für den Eintritt in die »Schlammkugel« ist nicht so einfach. Obwohl es ein kleines Passtor ist, ist hier der Durchfluss für die Energie am schwierigsten. Diese Schranke muss jedoch auf dem Weg zur Unsterblichkeit passiert werden. Nach der Überwindung dieses Passtores hält das Strömen an und führt direkt in das Kun Lun-Gebirge, die Region der Unsterblichkeit. (Akupunkturpunkt Dumai 21). Vor diesem mächtigen Gipfel inmitten der anderen Bergspitzen befindet sich noch eine letzte Behausung, die dem Betrachter wie ein Tempel oder eine Grabstätte erscheint: das prachtvolle Netz und die magische Terrasse. Diese »magische Terrasse« bietet dem unsterblichen Geist schließlich die Öffnung, um in die Leere des Nichts einzugehen.
Auf dem Bild verkörpert die Gestalt Laozi in seiner meditativen Versenkung den Genius, der die Unsterblichkeit erlangt hat. Laozi sitzt auf einer Plattform (Akupunkturpunkt Dumai 24) zwischen Sonne und Mond, zwischen dem linken und dem rechten Auge. Er verkörpert die harmonische Vereinigung von Yin und Yang und damit die reine Bewusstheit. Er hat so lange Augenbrauen, dass sie bis zur Erde herabhängen. Als einzige Gestalt auf diesem Bild erscheint er als...