Die Furcht vor dem Glück
aus: Versuch über die Liebe
1
Einer der größten Nachteile der Liebe ist, daß sie, zumindest eine Weile, Gefahr läuft, uns glücklich zu machen.
2
Chloe und ich beschlossen, in der letzten Augustwoche nach Spanien zu reisen – Reisen ist (wie die Liebe) ein Versuch, einen Traum in die Wirklichkeit hinein zu verfolgen. In London hatten wir die Prospekte von Utopia Travel studiert, Spezialisten für den spanischen Ferienhausmarkt, und hatten uns geeinigt auf ein umgebautes Bauernhaus in dem Dorf Aras de Alpuente, in den Bergen hinter Valencia. Das Haus sah in der Wirklichkeit besser aus als auf den Abbildungen. Die Räume waren schlicht, aber bequem möbliert; im Badezimmer funktionierte alles; es gab eine von Weinblättern beschattete Terrasse, einen See in der Nähe, in dem man schwimmen konnte, und einen Bauern nebenan, der eine Ziege hielt und uns mit einer Gabe von Olivenöl und Käse willkommenhieß.
3
Wir waren am späten Nachmittag angekommen, hatten am Flughafen ein Auto gemietet und waren die schmalen Gebirgsstraßen hinaufgefahren. Wir gingen sofort schwimmen, sprangen in das klare blaue Wasser und ließen uns von der sinkenden Sonne trocknen. Dann kehrten wir zum Haus zurück und setzten uns mit einer Flasche Wein und Oliven auf die Terrasse, um zuzusehen, wie die Sonne hinter den Hügeln unterging.
»Ist es nicht wunderbar?« bemerkte ich in lyrischem Ton.
»Nicht wahr?« kam das Echo von Chloe.
»Aber ist es das wirklich?« fragte ich im Scherz.
»Pscht, du verdirbst die Szene!«
»Nein, im Ernst, es ist wirklich wunderbar. Ich hätte mir ein Fleckchen wie dieses nie vorstellen können. Es wirkt so abgeschieden von allem – wie ein Paradies, so klein, daß niemand sich die Mühe macht, es zu zerstören.«
»Ich könnte mein ganzes Leben hier verbringen.«
»Ich auch.«
»Wir könnten hier zusammen leben. Ich würde die Ziegen hüten, du würdest dich um die Oliven kümmern, wir würden Bücher schreiben, malen und –«
»Was ist? Ist dir nicht gut?« fragte ich, denn ich sah, daß Chloe sich plötzlich vor Schmerzen wand.
»So. Jetzt geht’s wieder. Ich weiß nicht, was da passiert war. Ich hatte plötzlich so einen furchtbaren Schmerz im Kopf, wie ein gräßliches Pochen oder so. Ist wahrscheinlich nichts. Oh, verdammt, Scheiße, es kommt schon wieder.«
»Laß mich fühlen.«
»Du kannst bestimmt gar nichts fühlen, es ist drinnen im Kopf.«
»Ich weiß, aber ich will mitfühlen.«
»O Gott, ich glaube, ich sollte mich hinlegen. Wahrscheinlich ist es nur die Reise oder die Höhe, oder so. Aber ich gehe besser rein. Bleib du nur hier draußen, ich komme schon zurecht.«
4
Chloes Schmerzen wurden nicht besser. Sie nahm ein Aspirin und ging zu Bett, konnte aber nicht schlafen. Unsicher, wie ernst ich ihren Zustand nehmen mußte, aber besorgt, weil er angesichts ihrer Neigung, Dinge herunterzuspielen, wahrscheinlich ernster war, als es schien, beschloß ich, einen Arzt zu rufen. Der Bauer und seine Frau waren in ihrem Häuschen und saßen beim Abendessen, als ich anklopfte und in bruchstückhaftem Spanisch fragte, wo ich den nächsten Doktor fände. Es stellte sich heraus, daß er in Villar del Arzobispo wohnte, einem ungefähr zwanzig Kilometer entfernten Dorf.
5
Dr. Saavedra war über die Maßen würdevoll für einen Landarzt. Er trug einen weißen Leinenanzug, hatte in den fünfziger Jahren ein Semester am Imperial College studiert, war ein Liebhaber der englischen Theater-Tradition und schien mich mit dem größten Vergnügen zurückzubegleiten, um der jungen Dame zu helfen, die so schnell nach Beginn ihres spanischen Aufenthalts krank geworden war. Als wir in Aras de Alpuente ankamen, hatte sich Chloes Zustand noch nicht gebessert. Ich ließ den Doktor mit ihr allein und wartete nervös im Nebenzimmer. Zehn Minuten später kam der Arzt wieder zum Vorschein.
»Ees notting to worry about – Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen.«
»Wird sie bald wieder O.K. sein?«
»Yes, my friend. Morgen früh wird sie wieder O.K. sein.«
»Was fehlt ihr?«
»Nichts Besonderes, ein bißchen Magen, ein bißchen Kopf, etwas sehr Verbreitetes unter den Feriengästen. Ich gebe ihr Tabletten. Im Grunde nur eine kleine Anhedonia, das kann schon vorkommen.«
6
Dr. Saavedra hatte einen Fall von Anhedonia diagnostiziert, eine Krankheit, die von der British Medical Association als eine dem Bergkoller auffällig verwandte Reaktion beschrieben wird; sie resultiert aus dem plötzlichen Schrecken, den drohendes Glück hervorbringen kann. Es war eine verbreitete Krankheit unter den Touristen in dieser Region Spaniens: in dieser idyllischen Umgebung mit der plötzlichen Erkenntnis konfrontiert, daß irdisches Glück anscheinend in Reichweite lag, erlitten sie eine starke psychologische Reaktion, die darauf abzielte, einer solchen Möglichkeit entgegenzuwirken.
7
Das Problem mit dem Glück besteht darin, daß es sich, selten wie es ist, als höchst erschreckend und Angst einflößend und darum als schwer anzunehmen erweist. Daher hatten Chloe und ich (auch wenn ich nicht krank geworden war) mehr oder weniger unbewußt immer dazu geneigt, die Hedonie entweder in der Erinnerung oder in der Vorfreude anzusiedeln. Obwohl das Streben nach Glück ein erklärtes zentrales Ziel war, schwang dabei immer der Glaube mit, daß die Verwirklichung dieses Aristotelismus irgendwo in einer sehr fernen Zukunft liege – ein Glaube, der herausgefordert wurde durch die Idylle, die wir in Aras de Alpuente und, in einem geringeren Maße, einer in des anderen Armen gefunden hatten.
8
Warum lebten wir so? Vielleicht, weil glücklich sein in der Gegenwart auch bedeutet hätte, sich in einer unvollkommenen oder gefährlich ephemeren Realität zu engagieren, statt sich hinter dem bequemen Glauben an ein Nachleben zu verstecken. Leben im Futur Perfekt bedeutete, festzuhalten an einem idealen Leben im Gegensatz zum gegenwärtigen, einem Leben, das uns vor der Notwendigkeit bewahrte, uns für die Situation, die uns umgab, verantwortlich zu fühlen. Es war ein Muster, jenem verwandt, dem wir in bestimmten Religionen begegnen, in denen das Erdenleben nur ein Vorspiel zu einer ewigen und weitaus freudenreicheren himmlischen Existenz ist. Unsere Haltung Ferien, Partys, Arbeit und vielleicht auch der Liebe gegenüber hatte etwas an sich, als hielten wir uns für unsterblich, als weilten wir lange genug auf Erden, um uns nicht so tief herablassen zu müssen, etwa zu denken, daß die Zahl dieser Gelegenheiten begrenzt und wir daher gezwungen seien, Nutzen aus ihnen zu ziehen. Es liegt eine gewisse Bequemlichkeit im Leben im Futur Perfekt: es bewahrt uns vor der Notwendigkeit, die Gegenwart als real zu empfinden, oder vor der Erkenntnis, daß wir einander lieben oder sterben müssen.
9
Daß Chloe gerade jetzt krank geworden war – lag es nicht vielleicht auch daran, daß die Gegenwart ihre Unzufriedenheit einholte? Sie hatte, einen kurzen Augenblick lang, aufgehört, irgend etwas zu vermissen, was die Zukunft bereithalten mochte. Aber war ich nicht ebenso schuld an der Erkrankung wie Chloe? Hatte es nicht viele Gelegenheiten gegeben, bei denen die Freuden der Gegenwart rüde übergangen worden waren, im Namen einer nicht näher zu bezeichnenden Zukunft? Liebesgeschichten, bei denen ich es, unmerklich fast, vermieden hatte, mich dieser Liebe vorbehaltlos hinzugeben, indem ich mich mit dem Unsterblichkeitsgedanken tröstete, daß es andere Liebesaffären gäbe, die ich eines Tages mit der Sorglosigkeit der Männer in den Magazinen genießen würde, künftige Lieben, die meine unglücklichen Versuche wettmachten, mit einem anderen Menschen zu kommunizieren, den die Geschichte zu mehr oder weniger derselben Zeit auf Erden herumwirbeln ließ?
10
Aber die Sehnsucht nach einer Zukunft, die nie kommt, ist nur die Kehrseite der Sehnsucht nach einer Zeit, die immer bereits vergangen ist. Ist die Vergangenheit nicht oft besser, einfach weil sie vergangen ist? Ich erinnerte mich daran, daß in meiner Kindheit die Ferien immer erst dann vollkommen wurden, wenn sie vorbei waren, denn dann hatte sich die Furcht vor der Gegenwart auf ein paar wenige überschaubare Erinnerungen reduziert. Es machte nicht so viel aus, was geschah, Hauptsache, daß es alles möglichst schnell geschah und mir die Möglichkeit gab, eine Wunde zu pflegen oder ein Spiel wiederzuspielen. Ich verbrachte ganze Jahre meiner Kindheit in der Vorfreude auf die Winterferien, wenn die Familie von Zürich in die Berge fuhr, um zwei Wochen skilaufend im Engadin zu verbringen. Doch wenn ich dann oben am Hang stand und eine makellos weiße Piste hinunterblickte, wurde ich mir einer Furcht bewußt, die aus der Erinnerung an das Ereignis verflogen sein würde, einer Erinnerung, die sich ausschließlich aus objektiven Bedingungen zusammensetzte (der Gipfel eines Berges, ein strahlender Tag) und daher frei sein würde von allem, was den eigentlichen Moment zur Hölle gemacht hatte. Es war mehr als nur der Umstand, daß mir vielleicht die Nase lief oder...