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Dunkle Zungen

Geheimsprachen: Die Kunst der Gauner und Rätselfreunde

AutorDaniel Heller-Roazen
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl352 Seiten
ISBN9783104032153
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis18,99 EUR
Sprache dient der Verständigung. Doch immer wieder hat es Menschen gegeben, die nicht wollten, dass alle sie verstehen. Deshalb haben sie Geheimsprachen entwickelt. Daniel Heller-Roazen unternimmt in seinem Buch einen Streifzug durch die Geschichte der künstlichen und geheimen Sprachen. Von den Sprachen der Gauner, den heiligen Sprachen bis zur Beschäftigung des großen Sprachforschers Ferdinand de Saussure mit Anagrammen, von der arkanen Sprachkunst der Druiden und Bibelkopisten bis zu Tristan Tzara, der die Dada-Bewegung mit begründete und zuletzt die Lieder von Villon zu entschlüsseln meinte, erkundet Heller-Roazen die Sprachkunst von Gaunern und von Rätselfreunden und zeigt: Diese Sprachen, die Klang und Sinn gegeneinander ausspielen, verbindet mehr mit der Poesie, als bislang angenommen.

Daniel Heller-Roazen, geboren 1974, ist Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Princeton University. Er studierte Philosophie und Literaturwissenschaft in Toronto, Baltimore, Venedig und Paris und hat zahlreiche Stipendien für seine Arbeit erhalten. Im Jahr 2010 wurde ihm die Medaille des Collège de France verliehen. Im S. Fischer Verlag ist zuletzt von ihm erschienen »Der fünfte Hammer - Pythagoras und die Disharmonie der Welt« (2015), »Der Feind aller. Der Pirat und das Recht« (2010) sowie die von der Kritik gefeierte Studie »Der innere Sinn. Archäologie eines Gefühls« (2012).

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Leseprobe

Zweites Kapitel Coquillars


1890 erschien in den Mémoires de la Société linguistique de Paris ein Artikel des dreiundzwanzigjährigen Marcel Schwob, der zu dieser Zeit seine dichterischen und erzählerischen Werke, die ihn später bekannt machen sollten, noch nicht veröffentlicht hatte. Dieser Essay war die Untersuchung eines mittelalterlichen Manuskripts aus den städtischen Archiven von Dijon, das Schwob transkribiert, annotiert und mit einer Einführung versehen hatte. Von der Existenz dieses Kodex hatte er aus einer bibliographischen Notiz erfahren, die Joseph Garnier, Archivar der Côte-d’Or in Burgund, ihm 1848 gewidmet hatte. Garnier hatte entschieden, die von ihm bekanntgemachten Materialien nicht selbst im Einzelnen zu kommentieren, und der herausragende französische Philologe Francisque Michel, dem Garnier eines der vierzig Faszikel des Manuskripts gesandt hatte, hatte sich dazu ebenso wenig in der Lage gesehen. So wurde Schwob der Erste, der ein Bündel von Akten untersuchte, die sehr wahrscheinlich seit der Zeit ihrer Abfassung im fünfzehnten Jahrhundert unerforscht geblieben waren, und sein Essay enthüllte der Öffentlichkeit ihren merkwürdigen Inhalt.

Das Manuskript enthielt eine Gerichtsakte aus den Archiven der burgundischen Hauptstadt und befasste sich mit einer Gaunerbande, die im Jahr 1455 festgenommen, vor Gericht gestellt und verurteilt worden war. Die Vergehen, die den Übeltätern vorgeworfen wurden, scheinen auf den ersten Blick an sich nicht sehr bemerkenswert. Die Behörden verdächtigten die Vagabunden, in Dijon und der ländlichen Umgebung verschiedene Gewaltdelikte begangen zu haben: das Aufbrechen von Schlössern, Plünderung von Truhen, Raubüberfälle auf unglückliche Reisende, Ausplündern argloser Kaufleute, mit denen sie in Herbergen das Zimmer teilten. Es hieß, einige der Herumtreiber seien geschickt in den Künsten der Falschspieler und Schwindler gewesen; andere sollen um der Beute willen auch zum Mord bereit gewesen sein. Es bestand kein Zweifel, dass die Schurkenbande keine eigenen Reichtümer besaß. Doch da Armut bekanntlich die Mutter der Erfindung ist, hatten die Briganten eine geistreiche Technik entwickelt, die es ihnen ermöglichte, etwas in Beschlag zu nehmen, das sie und ihre Landsleute sonst gemeinsam besaßen. Diese Tatsache verlieh ihren zahlreichen Verbrechen eine gewisse Originalität. Bevor sie sich von den Bürgern, Klerikern und Adligen, unter denen sie lebten, irgendwelche wertvollen Güter aneigneten, hatten die burgundischen Banditen des fünfzehnten Jahrhunderts nach der Sprache gegriffen. Sie hatten die Umgangssprache ihrer Zeit in einen Jargon verwandelt, »eine exquisite Sprache«, wie die städtischen Behörden berichten, »die andere Leute nicht verstehen können« (un langaige exquiz, que aultres gens ne scevent entendre).[15]

An erster Stelle unter den Ausdrücken mit dunkler Bedeutung, die die Vagabunden geprägt hatten, stand der Name, mit dem sie einander erkannten: »Coquillars«, »Coquillarden«, »die Leute der Muschel«.[16] Die Auszüge aus dem Manuskript, das von Schwob veröffentlicht wurde, begannen mit einer Bemerkung über ebendiesen Terminus. »Es ist wahr, dass die vorerwähnten Personen untereinander eine gewisse Jargonsprache [certain langaige de jargon] und andere Zeichen haben, an denen sie sich gegenseitig erkennen; und diese Banditen nennen sich Coquillars, was in der Weise zu verstehen ist, dass sie ›die Muschelbrüder‹ sind, die, wie es heißt, unter sich einen König haben, der ›der König der Muschel‹ genannt wird.«[17] Erst nach dieser ersten Identifizierung berichtete das Manuskript im Einzelnen von den verschiedenen Verbrechen, für die die Coquillars verurteilt worden waren:

Es ist ebenso wahr, wie schon gesagt, dass einige der vorerwähnten Coquillars Schlösser, Koffer und Truhen aufbrechen. Andere sind Betrüger und berauben beim Wechseln von Münzen gegen Gold oder Gold gegen Münzen oder beim Kauf von Handelsware. Andere produzieren, tragen und verkaufen falschen Goldfaden oder falsche Goldketten. Andere tragen und verkaufen oder produzieren falsche Preziosen und behaupten, es seien Diamanten, Rubine und andere Edelsteine. Andere teilen in einem Wirtshaus das Zimmer mit einem Kaufmann, stehlen von ihren eigenen Dingen und denen des Kaufmanns, beklagen lauthals ihr Schicksal zusammen mit dem beraubten Kaufmann, während sie einen Kumpan haben, der für sie arbeitet und mit dem sie anschließend die Beute teilen. Andere betrügen beim Würfelspiel und gewinnen alles Geld derer, mit denen sie spielen. Sie kennen die Feinheiten des Kartenspiels und des Brettspiels, und niemand kann gegen sie gewinnen. Und was schlimmer ist, viele von ihnen sind Spione und lauern als Diebe und Mörder den Reisenden in den Wäldern und auf den Landstraßen auf. Man darf annehmen, dass sie dort ihr liederliches Leben führen. Haben sie all ihr Geld ausgegeben, brechen sie ohne irgendetwas auf, lassen manchmal sogar ihre Kleider zurück und kommen bald wieder, zu Pferde und wohlgekleidet, fein geschmückt mit Gold und Silber, wie schon gesagt.[18]

Man darf mit Sicherheit annehmen, dass all solche ruchlosen Taten schon vor dem Auftreten der Räuber belegt sind, die 1455 verurteilt wurden. Wohl deshalb hielten sich die städtischen Akten weniger bei den Taten der Coquillars auf als bei dem besonderen Mittel, das sie dabei anwandten. Die Gerichtsdokumente lassen keinen Zweifel daran, dass dieser Behelf ein sprachlicher und, genauer gesagt, einer der Benennung war. Jean Rabustel, öffentlicher Ankläger und Gerichtsbeamter am Gerichtshof der Grafschaft Dijon, machte das im Tenor seiner Anklageschrift gleich zu Beginn sehr deutlich: »Jede Gaunerei, die sie verüben, hat ihren Namen in ihrem Jargon, und niemand versteht ihn, der nicht zu ihrem verschworenen Haufen zählt oder dem er nicht von einem von ihnen offenbart wird.«[19]

Als Beweisquelle führte Jean Rabustel »Perrenet le Fournier« an, »Barbier, wohnhaft in Dijon, im Alter von ungefähr sechsunddreißig Jahren«. Perrenet sagte aus, er habe aus freien Stücken die Muschelbrüder aufsuchen wollen, selbstredend nicht, um sich ihrer perfiden Kumpanei ernsthaft anzuschließen, sondern um »bestimmte Geheimnisse herauszufinden, damit er gegen Täuschung gewappnet wäre, sollte er einmal dorthin geraten, wo böse Saat ausgesät wird«.[20] So konnte der Barbier die Tatsache bezeugen, dass die Coquillars »alle Angelegenheiten ihrer Sekte in ihrer Sprache ordentlich benennen, welche Angelegenheiten ihm von vielen von ihnen enthüllt wurden, die ihm nicht misstrauten, da er vorgab, ebenso raffiniert zu sein wie sie«.[21] Seine Auskünfte wurden von anderen Quellen bestätigt, etwa »Jean Vote, bekannt als ›der Auvergnate‹, Steinbrucharbeiter, wohnhaft in Dijon, ungefähr sechsunddreißig Jahre alt«.[22] Der Auvergnate bezeugte, dass es für jeden der üblichen Namen für ihre Tricks und Verbrechen in der Spezialsprache der Coquillars einen Geheimnamen gab, dessen Sinn die Briganten sorgsam für sich behielten.

»Wenn sie in ihrem vorerwähnten Jargon sprechen«, berichten die Quellen, »und einer von ihnen sagt ein wenig zu viel an einem Ort, wo es Leute geben könnte, die ihnen schaden oder sie verraten könnten, so wird der Erste unter ihnen, der dies bemerkt, sich zu räuspern beginnen, in der Art eines Mannes, der an einer Erkältung leidet und seinen Speichel nicht hervorzubringen vermag.« Abrupt »verfällt dann jeder der Muschelbrüder in Schweigen oder wechselt das Thema und spricht von etwas anderem«.[23]

Doch manchmal entfleuchten die kostbaren Ausdrücke dennoch dem Gehege ihrer Zähne, und dann konnten Zuschauer und Lauscher in ihre Geheimsprache eindringen. Das burgundische Manuskript widmet größte Aufmerksamkeit der lexikalischen Information, die daraus zu gewinnen war. Nach einer summarischen Beschreibung der Vagabunden und der Arten ihrer Gewalttaten bot Jean Rabustel ein regelrechtes Glossar verborgener Begriffe und Phrasen, füllte Seite um Seite mit Definitionen der Ausdrücke, die die Coquillars geheim zu halten bestrebt waren. Er räumte ein, dass er mit seinen Bemühungen auf eine Synthese hinauswollte, und lieferte ein Kompendium von Termini, das strenggenommen kein einziger Muschelbruder verwendet hätte. »Die Vorerwähnten und andere Männer, die zur Bruderschaft der Coquillars gehören«, erklärte er, »haben viele Namen in ihrer Sprache, und sie verfügen nicht über sämtliche der Kenntnisse oder Gaunereien, die hier Erwähnung fanden«, denn manche sind »geschickt darin, etwas Bestimmtes zu tun«, und andere darin geübt, etwas anderes zu machen.

Als Erstes bot der öffentliche Ankläger eine Aufzählung der professionellen Tätigkeiten, in die sich die Klasse der Schurken unterteilen ließ: ein Katalog von noms de métier der obskursten und ungeheuerlichsten Sorte. Dann lieferte er einen umständlichen Schlüssel und erklärte in langer Reihe Satzteile sowie Namen:

Ein crocheteur ist jemand, der Schlösser aufbricht. Ein vendegeur ist ein Taschendieb. Ein beffleur ist ein Dieb, der Ahnungslose mit ins Spiel zieht. Ein envoyeur ist ein Mörder. Ein desrocheur ist jemand, der der Person, die er beraubt, nichts übrig lässt. […] Ein blanc coulon ist jemand, der mit einem Kaufmann oder jemand anderem übernachtet und ihm sein Geld, seine Kleider und alles, was er hat, raubt und es seinem Kumpanen, der unten wartet, aus dem Fenster wirft. Ein baladeur ist...

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