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E-Book

Nebelwelten

Abwege und Selbstbetrug in der Demenz-Szene

AutorPeter Wißmann
VerlagMabuse-Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl150 Seiten
ISBN9783863212537
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Demenz ist in aller Munde: Die Medien berichten regelmäßig. In der 'Demenz-Szene' gären ständig neue Versorgungskonzepte, und die Forschung liefert Woche für Woche Meldungen über den angeblich bevorstehenden Durchbruch. Nun hat sogar die Regierung eine Allianz für Menschen mit Demenz gebildet. Könnte gar nicht besser laufen, oder? Doch, sagt Peter Wißmann. In den zurückliegenden Jahren ist zwar viel Positives erreicht worden. Dass das Thema Demenz ein Selbstläufer ist, hat aber auch zu krassen Fehlentwicklungen geführt: Ziele werden nur vage definiert, Interventionen erfolgen wirr und wenig durchdacht. Mit großer Geste wird gemacht, gemacht, gemacht - Hauptsache, das Gewissen ist beruhigt. Gute Ideen erschöpfen sich so leicht in schicken Phrasen und bequemen Ritualen. Auf der anderen Seite sind neue und alte Irrtümer auf dem Vormarsch: Menschen mit Demenz sollen in eine schöne neue Welt von Wohlfühl-Inseln einziehen, möglichst abgeschirmt vom Rest der Gesellschaft. Wenn sie tanzen, singen oder gärtnern möchten, dann bitte gut dokumentiert und mit therapeutischem Mehrwert. Schließlich sind sie vor allem krank und schließlich ist Demenz vor allem furchtbar. Aus vielen schlechten Ideen kann schnell ein gefährlicher neuer Mainstream entstehen. So kann es nicht weitergehen, sagt Wißmann, ein Insider mit jahrzehntelangem Erfahrungshintergrund. Mit seiner Streitschrift hält er der 'Demenz-Szene' den Spiegel vor. Er benennt Fehlentwicklungen und zeigt Alternativen auf. Und: er lenkt den Blick wieder auf die Menschen, um die es bei dem Ganzen eigentlich gehen sollte.

Peter Wißmann ist Geschäftsführer und wissenschaftlicher Leiter der Demenz Support Stuttgart gGmbH. Mit dem Gerontologen und Kunsttherapeuten Michael Ganß gibt er die Zeitschrift demenz.DAS MAGAZIN heraus.

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Leseprobe

Lug und Trug


Oder: Von der Notlüge zur Scheinwelt


„Wann kommt denn endlich meine Tochter? Haben Sie schon meine Tochter gesehen?“ Unruhig wendet sich die alte Dame an die Pflegekraft, die ihr auf dem langen Gang des Pflegeheims entgegenkommt. „Sie kommt doch sonst immer um diese Zeit!“ Die Pflegerin ist schon fast an der Bewohnerin vorbei, da wendet sie sich noch einmal zu ihr um: „Ihre Tochter wird sicherlich bald kommen. Haben Sie noch etwas Geduld.“ Die alte Dame fragt weiter beunruhig nach ihrer Tochter, die Pflegerin bleibt einige Minuten bei ihr stehen und versichert ihr in ruhigem Ton immer wieder, dass die Tochter sicherlich schon sehr bald im Heim erscheinen werde. Sie sei doch völlig zuverlässig und deshalb bestehe kein Anlass zur Sorge. Die alte Dame könne sie aber gerne bis dahin ein wenig begleiten, sie müsse noch nach ein paar anderen Bewohnern schauen. Immer noch unruhig nimmt die Bewohnerin das Angebot der Pflegekraft an. Auf ihrem Weg kommen die beiden an einer Raumnische vorbei, an der ein Schild Auskunft darüber gibt, dass man es hier mit einer Bushaltestelle zu tun habe. Ein älterer Herr sitzt auf der unter dem Schild angebrachten Bank und stützt sich auf seinen Spazierstock. „Und, wollen Sie wieder verreisen?“, fragt ihn die Pflegerin. Der ältere Mann antwortet nicht. Die Pflegekraft und die alte Dame setzen ihren Weg fort.

Die Tochter der alten Dame hat ihre Mutter noch nie besucht, sie ist vor vielen Jahren mit ihrer Familie nach Australien ausgewandert und hatte nie einen guten Kontakt zu der Mutter. Die Haltestelle, an der der ältere Mann sitzt, ist keine wirkliche Bushaltestelle, sondern besteht nur aus einem Schild, einer Bank und der Kopie eines Fahrplans an der Wand des Heimganges. Die Einrichtungsleitung hatte das alles anbringen lassen, nachdem sie in einer Pflegezeitschrift von Bushaltestellen in Heimen gelesen hatte.

Wir alle kennen sie: die kleinen Lügen, zu denen man hier und dort greift, um eine unangenehme Situation zu umschiffen und sich schnell aus der Affäre zu ziehen. Da wird auf die Frage der Mutter: „Hast du dir schon die Zähne geputzt?“, mit einem schnellen, aber unwahren Ja reagiert, weil draußen schon die Freunde warten. Obwohl das Lügen in unserem Wertesystem negativ besetzt ist, wird niemand einen anderen Menschen oder sich selbst deswegen verdammen. Nicht umsonst wird auch von Notlügen gesprochen: Jemand befindet sich in einer zumindest subjektiv als solche empfundenen Notlage und greift deshalb zum Mittel der Lüge. Während dergleichen also für die meisten Menschen in Ordnung zu sein scheint, sieht es bei der gezielten und bewusst eingesetzten, umfassenden Lüge oder Täuschung schon anders aus. Auch wer einer anderen Person planmäßig und über einen langen Zeitraum etwas vormacht, indem er ein Lügengespinst webt, dürfte sich mit dem Vorwurf unmoralischen Verhaltens konfrontiert sehen. Im moralischen Empfinden der meisten Menschen scheint es nicht in Ordnung zu sein, wenn ein Mann seiner Frau über Jahre den treuen Ehegatten vorspielt, in Wirklichkeit aber andernorts sein Liebesleben führt. Das Argument der Notlüge dürfte in diesen Fällen kaum auf Verständnis, der „Täter“ hingegen auf massive Vorwürfe stoßen.

Doch denken wir nun einmal an die Lebenssphäre, in der es um die Pflege und die Begleitung von Menschen geht, die mit kognitiven Beeinträchtigungen leben. Dort wird seit Jahren in der Fachwelt eine Debatte um die Zulässigkeit von Lügen geführt. Ist es korrekt, wenn die Pflegerin im eingangs zitierten Beispiel die Heimbewohnerin in dem Glauben bestärkt, ihre Tochter würde bald kommen, obwohl dies niemals geschehen wird? Oder wenn eine Pflegekraft zu der demenziell veränderten alten Frau, die unbedingt das Heim verlassen möchte, sagt, dass ihr Sohn doch bald zu Besuch komme und sie deshalb nicht weggehen dürfe? Das sei eine zulässige und oft hilfreiche Notlüge zum Besten der Bewohnerin, argumentieren die Befürworter. Dem widersprechen die Kritiker: Jemanden zu belügen oder zu täuschen, könne keine akzeptable Basis für den Umgang mit Menschen sein – auch nicht, wenn deren kognitive Fähigkeiten eingeschränkt seien. Das Bedürfnis und die Gefühle der Dame zu thematisieren, statt sie durch Lügen zu verleugnen, sei hingegen ehrlich, und meistens könne dadurch eine schwierige Situation entschärft werden.

Gelegentlich wird nach meinem Eindruck diese Debatte eine Spur zu dogmatisch geführt. So wie jedem anderen Menschen in bestimmten Situationen das Recht auf eine kleine Notlüge zugestanden wird, so sollte das auch für Menschen in Pflegesituationen gelten. Wenn die Frau aus unserem Eingangsbeispiel in einer bestimmten Situation emotional so aufgeputscht wäre, dass Hyperventilation und Zusammenbruch drohten: Wer könnte es der Pflegerin verübeln, wenn diese das mit dem einfachen Satz: „Ihre Tochter kommt doch gleich!“ aufzulösen versuchen würde? Es wäre völlig überzogen, auf die überlastete Pflegekraft mit einer gigantischen Moralkeule einzuschlagen.

Wenn solche Unwahrheiten aber zum Prinzip geraten, wenn nicht mehr überlegt wird, wie mit den Gefühlen der alten Frau so umgegangen werden kann, dass niemand auf Lügen zurückgreifen muss – dann haben wir es mit einer ganz anderen Qualität zu tun. Um gelegentliche Notlügen geht es in der Demenz- und Pflegeszene schon lange nicht mehr. Was wir hingegen seit einigen Jahren zunehmend erleben, ist die von interessierter Seite systematisch vorangetriebene Legitimierung von Lügen und Scheinangeboten als zulässigem Konzept in der Pflege und Betreuung. Indem Menschen mit kognitiven Veränderungen nicht nur dauerhaft Unwahrheiten gesagt werden, sondern für sie auch Angebote und Räume geschaffen werden, die fiktiv und vorgegaukelt sind, glaubt man den Betroffenen Gutes zu tun. Ohne Zweifel geht es dabei aber auch um die Entlastung der Pflegenden. Wenn ich Menschen mit virtuellen Angeboten beschäftigen oder bannen kann, treten diese, zumindest eine Zeit lang, nicht mehr als störend in Erscheinung. Der alte Mann an der angeblichen Bushaltestelle ist beschäftigt: mit Warten auf einen Bus, der nie kommen wird. Wenn ich das mit der Vorstellung verbinden kann, es sei gut für ihn oder für andere Personen, lässt sich mit solchen Inszenierungen gut leben. So wie in der Filmkomödie „Good-bye Lenin!“, wo einer staatstreuen Frau, die den Untergang der DDR verpasst hatte, nach ihrem Aufwachen eine DDR-Fake-Welt vorgespielt wurde.

Sicherlich steht in der Regel keine böse Absicht dahinter. Doch ist dieses Handeln deshalb automatisch angebracht und legitim?

Haltestellen, Bahnabteile, Strände – alles Schein


Vor einigen Jahren tauchte in der Demenzszene der erste Bericht über eine Bushaltestelle in einem Pflegeheim auf. Es gab Personen, die das für eine pfiffige Idee hielten, und andere, die Zweifel anmeldeten. Wenn ich heute Heime besuche oder Konzepte von Einrichtungen lese, stoße ich häufig auf Pseudo-Bushaltestellen. An den Wänden langer Gänge hängt dann ein H-Schild, unter dem man Platz nehmen kann. Meine Frage an Pflegende, was man sich davon in der Praxis verspreche, bleibt oft unbeantwortet. Falsche Bushaltestellen scheinen einfach trendy zu sein! Aber sie sind vielleicht ein eher harmloses Beispiel für einen allgemeinen Trend zu virtuellen Angeboten in Pflegeheimen.

In Ludwigsburg wurde vor einiger Zeit das von einem schweizerischen Vorbild übernommene, erste virtuelle Bahnabteil für demenziell veränderte Heimbewohner in Betrieb genommen. Hier geschieht mehr als an der Bushaltestelle: Die Menschen sitzen in den Sesseln eines nachgebauten Bahnabteils, und auf Leinwänden rauschen an ihnen Wiesen, Berge, Wälder, Städte und Bahnhöfe vorbei. Sie sollen glauben, sie befänden sich auf einer Fahrt durch attraktive Landschaften – während sie sich tatsächlich in einem speziell hergerichteten Raum einer Pflegeinstitution befinden (1).

In einer niederländischen Einrichtung müssen die Heimbewohner sich nicht erst auf eine Bahnreise machen, bei der ohnehin niemals ein Fahrtziel erreicht wird. Hier kann man es sich direkt am Strand bequem machen. Allerdings an keinem echten Strand. Hier wurde ein realer Raum in einen vorgeblichen Strand umfunktioniert. Während einige Bewohner vor einer Wandtapete mit Meer auf Liegestühlen ruhen, stellt die Betreuungskraft den Meereswind an, der allerdings von einem Ventilator erzeugt wird. Unter heller Neonlampen-Sonne werden von einer weiteren Betreuerin Getränke serviert, während man seinen Blick über kleine Schaufeln im ausgestreuten Sand schweifen lässt und dem Meeresrauschen lauscht – sofern nicht vergessen wurde, die Musikanlage hinter dem Vorhang anzuschalten (2).

Es gibt noch mehr Beispiele. Und ich befürchte, dass weitere Scheinangebote den Weg in die Heime finden werden. Denn allzu gern lassen sich Teile der Demenz- und Pflegeszene von aktuellen Modetrends mitreißen. Ich vermute, das ist einer tiefen Verunsicherung und Ratlosigkeit...

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