GESCHÖNTER SCHAROUN
Manuela Reichart drängte mich nicht nur am entschiedensten, mich schreibstrategisch von Martin Mosebach zu lösen, sie wollte auch mehr über die Bibliothek erfahren, in der ich mit ihm verwechselt wurde. Inzwischen weiß ich, warum. Für sie hatte in frühen Jahren der Besuch einer Berliner Stadtteilbibliothek lebensprägend gewirkt. Die Magie, schrieb sie unlängst, das Versprechen dieses Ortes, alle Bücher von A bis Z zu lesen, habe sie nie verlassen. Ohne diesen Besuch wäre sie vielleicht eine andere geworden. Und ich – hätte sie vielleicht nie kennengelernt. Sie hätte nie ein Buch von mir besprochen, ich wäre weder ihrem Sohn noch meinem Verleger je begegnet. Nur zu gerne komme ich deshalb ihrer Neugier nach, da meine Memoiren auf Gedeih und Verderb mit dem Bau der Staatsbibliothek verbunden sind.
Bereits bei der Präsentation des ersten Bandes machte mich Gerwin Zohlen, ein versierter Analytiker urbaner Verwicklungen, auf die Untiefen aufmerksam, in denen dieser Bau vor Anker liegt. Seine Nutzer sind ihnen unmerklich ausgeliefert. Dem hatte ich beim Einstieg ins Paradies nicht genügend Beachtung geschenkt. In einem erhellenden Artikel Zohlens über das Kulturforum, dessen gesamte Ostseite die Bibliothek einnimmt, wird die ganze Bandbreite erkennbar, zu der dieser monumentale Baukörper gehört – das Wort Bandbreite in sinnlicher und übertragener Bedeutung.
Es ist ziemlich normal, wenn man das Äußere eines Gebäudes, in dem man täglich zu tun hat, außen vorlässt. Man schaut allenfalls von innen nach außen, nimmt aber nur das wahr, was sich dem Auge zwanglos offenbart. Im Fall der Staatsbibliothek hat man von der breiten Fensterfront aus einen prächtigen Blick, sowohl zu den Bauten gegenüber: Philharmonie etc., wie auch in die Ferne – bis zur Siegessäule mit der goldenen Victoria auf ihrer Spitze.
Den Auto- und Busverkehr unmittelbar vor der Fensterfront hatte ich im 1. Band zwar noch erwähnt, ihn auch den Absichten Scharouns entsprechend als einen durch ein Tal dahinströmenden Fluss beschrieben, aber wohin dieser Fluss fließen sollte, war mir keine weitere Erwähnung wert. Ich dachte nur so weit, wie mein Auge reichte. Dabei wird das ganze Ausmaß des Verkehrs erst deutlich, wenn man den Ausschnitt der Fensterfront hinter sich lässt.
Da sollte, wenn es nach Scharoun ging, nicht nur ein Fluss fließen, sondern viele, und sie sollten sich ganz in der Nähe der Bibliothek kreuzen, um den aus den verschiedensten Richtungen anschwellenden Verkehr zu leiten. Und zwar möglichst so zu leiten, dass es für den mit dem Auto kommenden Besucher der Bauten am Kulturforum ein Leichtes wäre, die jeweilige kulturelle Stätte zu erreichen. Mit einem Wort: Der Verkehr sollte diese Bauten berühren. Parkplätze inklusive.
Die erst 1984 aufgegebene Westtangente, gegen deren Lärm das Magazin der Bibliothek, ihr riesiger Bücherbuckel, gerichtet war, sollte auf der Ostseite des Gebäudes diese Funktion erfüllen. Eine der ersten Bürgerinitiativen Berlins hat sich erfolgreich dagegen gewehrt. Doch die Westtangente war in der Konzeption Scharouns nur eine unter vielen. Das nördlich der Bibliothek gelegene Autobahnkreuz sollte sie aufnehmen, dort, wo früher der ansehnliche Kemperplatz gelegen hatte. Heute ist an dieser Stelle zwar kein Autobahnkreuz zu sehen, dafür befindet sich dort das Maul des Tiergartentunnels.
Das Verdienst des Artikels von Zohlen ist es, die Dimension der Ströme, die Scharoun im Sinn hatte, wieder in Erinnerung gerufen und sie in dessen Gesamtplan von Berlin eingeordnet zu haben. Es ging diesem so schiffsbegeisterten Mann um nicht weniger als eine gigantische Stadtzerstörung, für die ihm der Zweite Weltkrieg gerade recht gekommen war. Was der nicht dem Erdboden gleichgemacht hatte, das wollte er als Architekt vollenden. Zohlen zieht treffsicher die Parallele zur tabula rasa von CIAM, des Congrès International d’Architecture Moderne von 1925, wo Le Corbusier mit seinem Plan de Paris Furore machte. Er hätte der Kapitale des 19. Jahrhunderts das Totenglöckchen geläutet.
Scharoun wäre mit Spree-Athen genauso umgesprungen. Die Anspielung auf dessen Stadt-Land-Fluss-Spiele in meinem Einstieg ins Paradies war zwar nicht völlig falsch, doch ich verfehlte die Dimension seines Plan total. Sie ging mir im Inneren des Baukörpers verloren. Ich vergaß, dass dieses Schiff ein Teil des oben erwähnten Bandes war. Eines geistigen Bandes. Es sollte sich materiell vom Alexanderplatz über das Kulturforum bis zu den Museumsbauten in Charlottenburg erstrecken und das Konzept der Stadt-Zonierung untermauern: Wirtschaftliches Band, kulturelles Band und so weiter. Wen bei dem Begriff der Moderne, die der CIAM propagierte, noch nicht fröstelte, dem lief es angesichts einer so totalen Vernichtung überkommener städtischer Strukturen spätestens jetzt eiskalt über den Rücken.
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Wieso die Propagandisten des Zonen-Gedankens von diesem Band so fasziniert waren, dass sie ihm gleich ganze Städte unterwarfen, ist mir nicht geläufig. Ich tappe noch im Dunkeln, denke an das Aufkommen der funktionalen Architektur, die möglicherweise außer den Gebäuden auch den Städten Funktionen zuordnete und damit das neue architektonische Agens totalitär erweiterte: form follows function als Allroundprinzip. Aber es ist nicht totalitär. Das Wort ist viel zu harmlos und auch zu politisch, um den Vorgang zu erfassen. Vom CIAM bis zu Hans Scharoun zieht sich der rote Faden einer einheitlichen architektonischen Gesinnung. Sie ist eher außer- oder apolitisch und – modern. Kurzum: verhängnisvoll.
Wenn es so wäre, würde sich leichter erklären lassen, warum sich Funktionen nicht nur an der Gestalt städtischer Gesamtkomplexe und der von Gebäuden ausprägten, sondern sich auch im Inneren der Räume fortsetzten. Das ist jedenfalls die Absicht Hans Scharouns in der Staatsbibliothek gewesen. Sein Büro-Kollege, Edgar Wisniewski, der den Bau nach dem Tod des Flussschiffbauers 1972 im Sinn des Meisters fertigstellte, hat dessen leitende Gedanken aufgegriffen und in der Festgabe zur Eröffnung des Neubaus 1978 zusammengefasst. Danach besteht sein Innenraum nicht mehr aus dem einen, überschaubaren Lesesaal, wie man ihn aus barocken Bibliotheken kennt, schon gar nicht aus einer mittelalterlichen Klause, vielmehr löst er sich in ein fortlaufendes Band ineinander übergehender Säle auf.
Man kann Scharoun nun nicht genug für diese sich aneinanderreihenden Räume loben. Das Lob gilt nicht minder Edgar Wisniewski, vielleicht ihm sogar noch mehr, da keine ausgefertigte Skizze des großen Nautikers, sein letztes Mammutprojekt betreffend, vorliegt. Er hatte, wie Zohlen bemerkt, mit der Philharmonie sein Meisterwerk geliefert und an den Folgebauten nur noch ein halbes Interesse bekundet. Gleichviel, diesem faszinierenden Band von Lesesälen ist, wenn ich es richtig einschätze, das immense Freiheitsgefühl zu verdanken, welches der Nutzer gleich beim ersten Betreten spürt. Man ist in sie aufgenommen wie in einen Strom. Man strömt irgendwie dahin – Flanieren wäre zu wenig. Wer weiß, ob nicht jener königliche Gang, den ich einer Nutzerin in Band 1 abzusehen glaubte, letztlich von diesem Strömungsgeschehen inspiriert war. Ihre Art zu gehen hatte auch etwas Schläfriges, ja Somnambules an sich, als verströmte sie sich.
Dieses Freiheitsgefühl hervorzubringen, war von vorneherein beabsichtigt, so wieder Wisniewski. Damit überträgt sich der Strom des Bandes von außen, vom vermaledeiten Autobahnkreuz, nach innen und entfaltet dort seine mehr als wohltuende Wirkung. Das ist meisterhaft gemacht. Und diesem Transfer, dieser Transformation der Außenströme in den Binnenbereich der Bibliothek ist vielleicht das Vergessen dessen, was draußen passiert, geschuldet – wenn ich mich nicht wieder täusche. Wo man sich so wohlfühlt wie dort, denkt man nicht an das Verhängnis, obwohl es wie ein Damoklesschwert über einem schwebt.
Darüber hinaus spielt das Moment des Bergens eine nicht zu unterschätzende Rolle. Den beiden artverwandten Architekten war bewusst, dass sie ihr Gebäude in eine Brache bauten. Einzig das Haus des Fremdenverkehrs von 1942 hielt noch eine Zeit lang die Stellung, bis es 1964 abgerissen wurde und seinen leergeräumten Platz den neuen Baumeistern für die Umsetzung ihrer monströsen Fantasien überließ. Mit einer Fortführung neoklassizistischen Stils, der in der Epoche des Faschismus’ zur Blüte kam, hatten sie nichts im Sinn. Scharoun verstand sich mit seinen organförmigen Bauten, so Zohlen, als Antitypus Albert Speers, vor allem als Gegner von dessen Planung einer Berliner Nord-Süd-Achse. Ihm behagte dagegen das Chaos, das Ungerade, das gestaltlos Amorphe der vorgefundenen Situation. Um so mehr legten die beiden Büropartner im Binnenbereich Wert darauf, sich geborgen zu fühlen. In einem chaotischen Umfeld kann man nicht...