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WAS IST EMOTIONALE AKTIVIERUNG?
In der Einleitung habe ich erzählt, wie es mir eines schönen Tages im Schwimmbad erging, als eine mir wildfremde Person mich anblaffte. Damals hatte ich keine Worte, um meine Erfahrung zu beschreiben. Heute nenne ich das, was damals geschehen ist, emotionale Aktivierung.
Als emotionale Aktivierung bezeichne ich sowohl den Moment als auch den Zustand, wenn etwas in unserem Rucksack aus seinem weitgehend harmlosen Schattendasein herausgerissen wird. Wir werden in einen Ausnahmezustand versetzt, der jedoch bei Weitem nicht immer so dramatisch sein muss, wie das bei mir im Schwimmbad der Fall war. Fast noch verbreiteter sind in unserem Kulturkreis Aktivierungszustände, die auf den ersten Blick gar nicht emotional wirken. Sie sind eher durch eine Abwesenheit von Gefühl gekennzeichnet, durch eine gewisse Dumpfheit, die sich wie eine zähe Masse über Menschen und Situationen legt.
Was auf den ersten Blick wie ein krasser Widerspruch erscheint, löst sich bei genauerem Hinsehen auf. Letztlich sind beide Ausprägungen emotionaler Aktivierung – jene der übermäßig dramatischen Emotionalität und jene der gefühlsarmen Dumpfheit – Strategien, um nicht zu fühlen, was jetzt gerade in uns geschieht. Unabhängig davon, ob wir übersteuern oder abstumpfen: Das aktivierte Päckchen und die dazugehörige Ladung haben die Kontrolle über uns. Unsere emotionale Steuerung entgleist in die eine oder andere Richtung, wodurch wir nicht mehr Herr unserer selbst sind. Wir sagen und tun dann Dinge, die wir normalerweise nicht sagen oder tun würden: Schimpfwörter verwenden, Geschirr schmeißen, Freundschaften kündigen. Und wir schaffen es umgekehrt nicht, Dinge zu tun oder zu sagen, die normalerweise selbstverständlich wären: uns entschuldigen, jemandem unsere Hilfe anbieten, zärtlich sein. Wenn wir ehrlich sind, bereuen wir unser Verhalten oft im Nachhinein. Oder wir rationalisieren es, da wir der Tatsache nicht ins Auge sehen können, dass wir uns total daneben verhalten haben.
Bevor wir uns mit dem Mechanismus beschäftigen, der emotionaler Aktivierung zugrunde liegt, möchte ich genauer darauf eingehen, wie diese sich bemerkbar macht. Beginnend mit den emotionalen Merkmalen, gefolgt von den körperlichen und mentalen Symptomen, möchte ich die große Bandbreite möglicher Erscheinungsformen kurz anreißen.
Emotionale Merkmale
Merkmale emotionaler Aktivierung
1. Starke Emotionen oder emotionale Taubheit
2. Körperliche Stresssymptome
3. Veränderte Sinneswahrnehmungen
4. Irrationalität
5. Veränderte Stimmlage
6. Verzerrte Wahrnehmung
Eine emotionale Aktivierung kann sich in einem heftigen Emotionschaos äußern, wie das bei mir im Schwimmbad der Fall war. Dieses Chaos kann, je nach Temperament und Art der emotionalen Ladung, die berührt wurde, ganz unterschiedlich gefärbt sein. Während der eine haltlos in Tränen ausbricht, bekommt der andere einen Wutanfall. Ein Dritter hat eine Panikattacke, während ein Vierter plötzlich von Selbsthass überflutet wird. Und ein Fünfter ist womöglich plötzlich von einer völlig überdrehten Heiterkeit ergriffen.
Häufig hat unsere Emotionalität bei einer Aktivierung nicht nur eine bestimmte Färbung, sondern pendelt zwischen mehreren Erscheinungsformen hin und her, vermischt diese zu einem unkenntlichen Wust: der Wutanfall, dem die Selbstzerfleischung folgt, die Panik, die in hysterisches Gelächter übergeht, das Schluchzen, das gespickt ist von Selbstvorwürfen.
Und dann gibt es eben jene andere Art, mit einer emotionalen Aktivierung umzugehen, die auf den ersten Blick wesentlich subtiler, schleichender, lavierender und damit irgendwie undurchschaubarer erscheint. Statt mit heftigen Emotionen auf die Welt zu reagieren, ziehen wir uns hier von der Welt zurück. In unserem Innenleben dominiert dann vielleicht eine Taubheit, die mal in ein diffuses Unwohlsein übergehen oder mal einem inneren Druck weichen kann. Das kann plötzlich geschehen, was die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass wir es selbst bemerken, es kann sich jedoch auch langsam einschleichen. Solche Zustände können sich im Laufe eines Lebens so weit verfestigen, dass die Bezeichnung Ausnahmezustand absurd erscheint. Was ursprünglich mal als vorübergehende Überlebensstrategie des emotionalen Systems gedacht war, ist dann zum Normalzustand geworden.
Körperliche Merkmale
Plötzliche und eher dramatische Aktivierungen gehen oft mit körperlichen Stresssymptomen einher: Der Puls erhöht sich, die Hände werden feucht, unser Temperaturempfinden verändert sich. Auch unsere Sinneswahrnehmungen können stark beeinträchtigt sein. Unser Sichtfeld verändert sich, wir bekommen einen Tunnelblick oder, wie bei mir im Schwimmbad, es scheint der Himmel einzustürzen. Auch unsere Wahrnehmung von Geräuschen kann plötzlich anders sein, als hätten wir Wattebausche in den Ohren, oder alles ist auf einmal unerträglich laut. Auch die eigene Stimme kann sich plötzlich ganz anders anhören.
Bei Aktivierungen, die in Richtung Rückzug und Dumpfheit gehen, fällt es dem Betroffenen vor allem schwer, sich selbst zu spüren. Zusammen mit dem Kontakt zur emotionalen Ebene ist auch der Zugang zur körperlichen Ebene verloren gegangen. Der eigene Körper wirkt fremd, irgendwie weit weg, vielleicht wie eine Art Anhängsel oder Gefäß, jedoch nicht wie ein lebendiger Organismus, durch den wir die Welt sinnlich erleben. Bei beiden Aktivierungsformen kommt es häufig zu einer Veränderung der Stimmlage: Die Stimme ist plötzlich belegt, etwas heiser, lauter oder leiser, höher oder tiefer als sonst.
Mentale Merkmale
Auf der mentalen Ebene kann es zu panischer Aktivität kommen. Gedanken, die wie wild im Kreis galoppieren und verzweifelt eine Ursache, einen Ausweg oder einen Schuldigen suchen – irgendetwas, das uns aus diesem unangenehmen Zustand befreien könnte. Diese Gedankenspiralen können sich auch in heftigen Argumentations- und Rechtfertigungstiraden äußern, die wir entweder mit uns selbst ad infinitum durchspielen oder mit denen wir unsere Mitmenschen traktieren. Dahinter steckt der verzweifelte Versuch, mental zu lösen, was emotional nicht rundläuft. Durch den riesigen Lärm, den wir in Gedanken veranstalten, lenken wir uns von den Emotionen ab, die eigentlich gerade unsere Aufmerksamkeit fordern. Umgekehrt kann auch eine plötzliche Unfähigkeit, kohärent zu denken, eintreten, als wäre alles in schweren Sirup getaucht.
Diese Auflistung macht vor allem eines deutlich: Emotionale Aktivierung hat sehr viele, sehr unterschiedliche Erscheinungsformen. Vielleicht hast du direkt beim Lesen einige für dich wiedererkannt, während andere dir eindeutig fremd sind. Oder du kennst sie nur von Menschen aus deinem Umfeld. Manche haben viele verschiedene Aktivierungszustände, andere sind eher auf ein oder zwei Symptomsets eingefahren. Was alle Aktivierungszustände gemein haben, ist, dass wir von etwas in Beschlag genommen werden, das unsere Handlungsfähigkeit, unsere Selbststeuerung, unsere emotionale Schwingungsfähigkeit und unser rationales Reflexionsvermögen massiv beeinträchtigt. Und dieses Etwas ist unser emotionaler Rucksack. Wie ein Alb setzt er sich auf uns drauf und lässt uns anders denken, handeln, fühlen, wahrnehmen, zuhören und sprechen, als wir es normalerweise tun würden.
Wenn eine Aktivierung sehr stark ist, kann dieser Ausnahmezustand uns zu einem komplett anderen Menschen machen. Jeder, der schon mal eine schlimme Trennung oder Scheidung mitgemacht hat, wird leider nur zu gut wissen, wovon ich spreche: Der Traummann wird zum Albtraum, die Traumfrau zur Furie, und man fragt sich im Stillen, was aus dem netten Menschen geworden ist, mit dem man sich ursprünglich eingelassen hat.
Wie die Aktivierung sich konkret zeigt, ist nicht so wichtig. Ausschlaggebend ist, ob es uns gelingt, sie frühzeitig zu erkennen. Denn nur so haben wir die Möglichkeit, anders mit ihr umzugehen. Je besser wir darin werden, eine Aktivierung frühzeitig zu erkennen, desto mehr wird uns auch bewusst, wie fruchtlos unsere Bemühungen sind, einfach weiterzumachen, als wenn nichts wäre. Alles ist verzerrt, unserer Wahrnehmung ist nicht mehr zu trauen, unsere Worte haben eine emotionale Ladung, die auch harmlose Aussagen sehr verletzend machen kann, und Entscheidungen, die in diesem Zustand getroffen werden, sind selten von Erfolg gekrönt. Folgende Übung soll dich dabei unterstützen, deine ganz persönlichen Aktivierungszustände besser kennenzulernen, indem sie die Erforschung dieser Zustände auf der rationalen Ebene mit dem körperlichen Erleben verknüpft.
Übung 2: Wie bist du, wenn du aktiviert bist?
Damit wir einen neuen Umgang mit unserem Rucksack entwickeln können, müssen wir lernen, unsere emotionalen Ausnahmezustände frühzeitig zu erkennen.
- Wann warst du das letzte Mal emotional aktiviert?
- Welche Symptome hattest du dabei?
- Stell dich hin und nimm dir einen Moment Zeit, um die Erinnerung an diesen Zustand in deinem Körper wachzurufen. Wie hast du dich gefühlt?
- Erlaube deinem Körper nun, diesen inneren Zustand in einer Haltung, einer Geste auszudrücken. Es kann eine ganz kleine oder eine sehr dramatische Geste sein, das ist nicht wichtig. Worauf es ankommt, ist, dass sie mit deinem inneren Fühlen verbunden ist. Lass dir Zeit dafür.
- Lass die Geste dann bewusst wieder los und mit ihr auch den Aktivierungszustand.
- Du kannst diese Übung für verschiedene Aktivierungsmomente wiederholen,...