PROLOG
Am schwierigsten ist es, das zu sehen, was tatsächlich da ist.
J. A. BAKER, DER WANDERFALKE
Am Anfang war das Licht.
Doch da war noch mehr, nämlich die Schwerkraft.
Danach brach die Hölle los.
So könnte man die Erzählung des größten geistigen Abenteuers der Menschheitsgeschichte angemessen einleiten. Die Geschichte handelt von der Suche der Wissenschaft, die unserer Erfahrungswelt zugrunde liegenden verborgenen Wirklichkeiten aufzudecken – eine Suche, für die die Spitzenleistungen menschlicher Schöpferkraft und intellektuellen Wagemuts in einem beispiellosen globalen Maßstab aufgeboten werden mussten. Ohne die Bereitschaft, alle Arten von Glaubensüberzeugungen und vorgefassten Meinungen – ob wissenschaftlicher oder anderer Natur – aufzugeben, wäre dieser Prozess nicht möglich gewesen. Die Geschichte ist voller Dramatik und Überraschungen. Sie umfasst den ganzen Bogen der Menschheitsgeschichte; und erstaunlicherweise ist die aktuelle Version noch nicht einmal die letzte, sondern nur ein weiterer Arbeitsentwurf.
Diese Geschichte verdient es, in weit größerem Umfang verbreitet zu werden. In den Staaten der westlichen Welt tragen Teile dieser Story bereits dazu bei, allmählich die Mythen und den Aberglauben zu ersetzen, in denen unwissendere Gesellschaften vor Jahrhunderten oder Jahrtausenden Trost fanden. Dessen ungeachtet wird die jüdisch-christliche Bibel dank der Regisseure George Stevens und David Lean immer noch gelegentlich »die größte Geschichte aller Zeiten« genannt. Diese Bezeichnung ist deswegen so erstaunlich, weil die Bibel als literarisches Werk, selbst wenn man den häufigen Sex und die Gewalt und ein wenig Poesie in den Psalmen berücksichtigt, sich nicht mit den ebenso feurigen, aber weniger gewalttätigen griechischen und römischen Epen wie der Aeneis oder der Odyssee messen kann – auch wenn die englische Übersetzung der Bibel als Vorbild für viele nachfolgende Bücher gedient hat. Wie auch immer – als Leitfaden zum Verständnis der Welt ist die Bibel erschreckend widersprüchlich und überholt. Und man könnte mit Recht vorbringen, dass als Anleitung für menschliches Verhalten weite Teile davon ans Obszöne grenzen.
In der Wissenschaft ist schon das Wort »heilig« lästerlich. Keine Idee, ob religiös oder anderweitig, bekommt einen Freifahrtschein. Der Höhepunkt der Menschheitsgeschichte ging deshalb nicht mit der Opferung eines Propheten vor 2000 Jahren zu Ende, und auch nicht mit dem Tod eines anderen Propheten 600 Jahre später. Die Geschichte unserer Ursprünge und unserer Zukunft ist eine Erzählung, die ständig weitergesponnen wird. Und diese Geschichte wird im Lauf der Zeit immer interessanter – nicht dank einer Offenbarung, sondern dank des beständigen Vorankommens wissenschaftlicher Entdeckungen.
Diese Geschichte der Wissenschaft schließt – anders, als oft wahrgenommen – auch Poesie und eine tiefe Spiritualität ein. Doch diese Spiritualität weist den zusätzlichen Vorzug auf, dass sie an die reale Welt gebunden ist und nicht weitgehend zu dem Zweck erschaffen wurde, unseren Hoffnungen und Träumen entgegenzukommen.
Die Lektionen unserer nicht von unseren Wünschen, sondern von der Kraft des Experiments geleiteten Erkundungsfahrt ins Unbekannte vermitteln Demut. 500 Jahre Wissenschaft haben die Menschheit von den Ketten der aufgezwungenen Unwissenheit befreit. Gemessen daran: Welche kosmische Anmaßung bildet den Kern der Behauptung, das Universum sei geschaffen worden, damit wir existieren können? Welche Kurzsichtigkeit bildet den Kern der Annahme, das Universum unserer Erfahrung sei für alle Zeiten und Räume kennzeichnend für das Universum?
Diese anthropozentrische, also den Menschen in den Mittelpunkt stellende Sicht ist als ein Ergebnis der Wissenschaftsgeschichte auf der Strecke geblieben. Wodurch wird sie ersetzt? Ist uns in diesem Prozess etwas verloren gegangen, oder haben wir, wie ich erörtern werde, dabei etwas noch Größeres gewonnen?
Bei einer öffentlichen Veranstaltung habe ich einmal gesagt, dass es Aufgabe der Wissenschaft sei, den Menschen Unbehagen zu bereiten. Kurzzeitig bedauerte ich die Bemerkung, weil ich befürchtete, sie würde die Leute abschrecken. Doch es ist eine Tugend und keine Behinderung, sich unbehaglich zu fühlen. Alles in unserer Evolutionsgeschichte hat unser Denken dahingehend geprägt, dass wir uns mit Vorstellungen wohlfühlen, die uns beim Überleben halfen. Dazu gehört etwa die natürliche teleologische Tendenz von Kindern, anzunehmen, Gegenstände seien dazu da, einem Zweck zu dienen. Und dazu gehört auch die weiter gefasste Tendenz, etwas zu anthropomorphisieren und leblosen Objekten Handlungsfähigkeit zuzuschreiben, weil es eindeutig besser ist, ein reaktionsloses Objekt für eine Gefahr zu halten, als eine tatsächliche Gefahr für ein reaktionsloses Objekt.
Die Evolution hat unser Denken nicht darauf vorbereitet, lange oder kurze Zeitskalen oder auch kurze oder weite Entfernungen abzuschätzen, die wir nicht direkt erfahren können. Deshalb ist es kein Wunder, dass bemerkenswerte Entdeckungen wissenschaftlicher Art – etwa die Evolution oder die Quantenmechanik – bestenfalls nicht intuitiv zu begreifen sind und schlimmstenfalls die meisten aus ihrer Komfortzone zerren.
Das ist auch der Grund, weshalb die größte Geschichte aller Zeiten – das größte Abenteuer der Menschheit – so mitteilenswert ist. Die besten Storys fordern uns heraus. Sie bringen uns dazu, dass wir uns anders wahrnehmen und das Bild, das wir von uns und unserer Stellung im Kosmos haben, neu ausrichten. Das gilt nicht nur für die bedeutendste Literatur, Musik und Kunst, sondern auch für die Wissenschaft.
In diesem Sinne ist es bedauerlich, dass der Ansatz, alte Glaubensüberzeugungen durch moderne wissenschaftliche Aufklärung zu ersetzen, oft als »Verlust des Glaubens« dargestellt wird. Wie viel größer als die Geschichte, die wir unseren Kindern erzählt haben, wird die Geschichte sein, die sie werden erzählen können? Der größte Beitrag der Wissenschaft zur Zivilisation ist ganz sicher, dass die großartigsten Bücher nicht die der Vergangenheit, sondern die der Zukunft sein werden.
Jedes Epos vermittelt eine Moral. In unserem Epos stoßen wir darauf, dass wir, wenn wir dem Kosmos gestatten, unser Denken durch empirische Entdeckungen anzuleiten, einen unglaublichen geistigen Reichtum erzeugen können, der das Beste nutzbar macht, was die Menschheit zu bieten hat. Er kann uns Hoffnung auf die Zukunft geben, indem er es uns ermöglicht, mit offenen Augen in die Zukunft zu gehen und mit den Werkzeugen, die notwendig sind, um aktiv daran teilzuhaben.
Mein voriges Buch Ein Universum aus Nichts zeigte auf, wie die revolutionären Entdeckungen der letzten 100 Jahre die Art und Weise verändert haben, in der wir unser sich entwickelndes Universum in den größten Maßstäben verstehen. Dieser Wandel hat die Wissenschaft dazu gebracht, die Frage »Warum gibt es etwas und nicht nichts?« – sie war einst religiöses Hoheitsgebiet – direkt aufzugreifen und sie in eine weniger solipsistische und in der Anwendung nützlichere Form zu überführen.
Wie Ein Universum aus Nichts ist auch diese Geschichte aus einem meiner Vorträge entstanden. In diesem Fall handelte es sich um eine Vorlesung am Smithsonian Museum in Washington, die damals für einige Aufregung sorgte und mich wieder einmal dazu antrieb, die Ideen, die ich für einen Vortrag ansatzweise entwickelt hatte, weiter auszuarbeiten. Im vorliegenden Buch werde ich jedoch das andere Ende unseres Wissensspektrums erkunden, und dazu dessen ebenso mächtige Implikationen für das Verständnis sehr alter Fragen. Die tief reichenden Veränderungen, die über die letzten 100 Jahre in unserem Verständnis der Natur in ihren kleinsten Maßstäben erfolgten, machen es möglich, auch die ebenso fundamentale Frage »Warum sind wir hier?« mit aufzugreifen.
Wir werden darauf stoßen, dass die Realität nicht das ist, was wir glauben. Unter der Oberfläche finden sich »seltsame«, unsichtbare innere Funktionen, die unserer Intuition zuwiderlaufen und unsere vorgefassten Ansichten von dem, was Sinn ergibt, ebenso in Frage stellen können wie ein Universum, das aus nichts hervorgeht.
Und in Anlehnung an die Schlussfolgerung aus meinem letzten Buch lässt sich aus der Geschichte, die ich hier erzählen möchte, ebenfalls der Schluss ziehen, dass es für die Welt, in der wir uns befinden, keinen offensichtlichen Plan oder Zweck gibt. Unsere Existenz war nicht vorgegeben, sondern scheint ein merkwürdiger Zufall zu sein. Wir taumeln auf einem schmalen Grat, wobei das Gleichgewicht letztlich von Phänomenen bestimmt wird, die tief unter der Oberfläche unserer Erfahrung liegen – von Phänomenen die in keiner Weise von unserer Existenz abhängen. In diesem Sinne lag Einstein falsch: »Gott« scheint tatsächlich um das Universum – oder die Universen – zu würfeln, und bisher haben wir Glück gehabt. Doch wie am Spieltisch könnte es sein, dass unser Glück nicht ewig andauert.
Die Menschheit unternahm einen großen Schritt in die Moderne, als unseren Vorfahren allmählich bewusst wurde, dass das Universum mehr umfasst als das, was ins Auge fällt. Diese Erkenntnis war möglicherweise kein Zufall. Wir sind anscheinend so angelegt, dass wir eine Geschichte brauchen, die über unsere eigene Existenz hinausgeht und ihr einen Sinn gibt....