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E-Book

Geburtstag

Wie es kommt, dass wir uns selbst feiern

AutorStefan Heidenreich
VerlagCarl Hanser Verlag München
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl176 Seiten
ISBN9783446259546
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Als Kinder können wir ihn kaum erwarten, später wird er vielen peinlich: Einmal im Jahr ist Geburtstag, und wir lassen uns von der Familie und den Freunden feiern, auch wenn es sonst keinen Grund zu feiern gibt. Aber wie ist dieses Ritual entstanden, was hat es zu bedeuten? Es brauchte eine Bürokratie, um den Tag der Geburt jedes Untertanen festzuhalten, dazu Bürger, die das Feiern nicht dem Adel überlassen wollten. Heute überbieten sich Amerikas Superreiche mit ausschweifenden Geburtstagspartys, und wem das nicht so liegt, der kann nachzählen, wie viele Glückwünsche er in den sozialen Medien erhalten hat. Eine schräge und vergnügliche Kulturgeschichte - das definitive Geburtstagsgeschenk eben.

Stefan Heidenreich, geboren 1965 in Biberach an der Riss, lebt in Berlin und forscht über Kunst, Medien und Ökonomie. Er hat an verschiedenen Universitäten und Akademien unterrichtet, so an der ETH Zürich, der Kunsthochschule in Kassel, der Düsseldorfer Akademie und zuletzt an der Universität Köln. Sein jüngstes Buch ist Geburtstag. Wie es kommt, dass wir uns selbst feiern (2918), davor erschienen: Geld. Für eine non-monetäre Ökonomie (2017), Mehr Geld (2008), Forderungen (2015), Flipflop. Digitale Datenströme und die Kultur des 21. Jahrhunderts (Hanser 2004) und Was verspricht die Kunst? (1998). www.stefanheidenreich.de und auf Twitter: @h8nr8

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Leseprobe

Die Zutaten


Um den eigenen Geburtstag feiern zu können, reicht geboren zu sein bei weitem nicht aus. Wir benötigen bereits eine ganze Menge an verschiedenen Zutaten, bevor wir von den Umständen und dem Zeitpunkt der eigenen Geburt überhaupt verlässliche Kenntnis haben. Und auch das genügt noch lange nicht. Es braucht auch ein Selbstbewusstsein, ohne das vermutlich niemand auf die Idee käme, sich selbst an einem bestimmten Tag im Jahr zu feiern. Das Geburtstagsfest ist also keinesfalls so normal und selbstverständlich, wie es uns heute erscheint. Vielmehr handelt es sich um eine vergleichsweise komplizierte Erfindung, geboren aus einer Vielzahl kulturhistorischer Voraussetzungen.

Die offenen Fragen beginnen damit, dass wir uns an unsere Geburt bekanntlich ganz und gar nicht erinnern können. Wir sind auf andere angewiesen, die uns davon berichten. Beim menschlichen Gedächtnis handelt es sich aber leider um eine recht unzuverlässige Quelle. Besonders ein Detail, das wir für das Fest unbedingt benötigen, fehlt in so gut wie allen Berichten. Die Erinnerung der Eltern mag zwar viele Einzelheiten speichern, also etwa die Dauer oder die Uhrzeit der Geburt und auch den Ort des Geschehens. Was aber mit ziemlicher Sicherheit fehlt, ist das Datum. Denn am Ende hilft es wenig zu wissen, dass ich einen Tag nach Vollmond an einem Herbstnachmittag zur Welt kam. Nicht einmal für das genaue Jahr gibt es einen brauchbaren Platz im Gedächtnis.

Um für ein Jubiläum zu taugen, müssen wir unsere Erinnerung daher unterstützen. Nur so kommen wir über das bloße »weißt du noch« hinaus. Am besten helfen wir unserem Gedächtnis mit einer schriftlichen Notiz auf die Sprünge. Das aber ist nicht jedermanns Sache. In der Regel werden Geburtsakten nur dort geführt, wo es Ämter und Behörden gibt, die über das Leben der Bürger Bescheid wissen wollen. Noch heute ist das rund um den Globus keinesfalls selbstverständlich. Jedes Jahr werden gut 50 Millionen Kinder geboren, also fast jedes dritte, ohne dass jemand ihren Geburtstag registriert.

Die Verwaltung der Bürger führt uns geradewegs zur nächsten Geburtstagszutat. Ihr Alter übersteigt das der modernen Urkunde um etliche tausend Jahre. Um einen bestimmten Tag notieren zu können, müssen wir erst einmal alle Tage benannt und sortiert haben. Dazu brauchen wir einen Kalender. Die Erfindung des Kalenders liegt weit vor dem massenhaften Notieren von Geburtsdaten.

Ein Datum zu notieren ist nicht der einzige Grund, warum wir für das Geburtstagsfest einen Kalender brauchen. Er sagt uns nicht nur, wie der Tag heißt, sondern misst auch die Länge des Jahres. Er erfüllt also eine doppelte Aufgabe, was unseren Geburtstag betrifft, jedenfalls wenn wir ihn jährlich feiern wollen.

Damit haben wir die drei Grundzutaten beisammen, ohne die es schlicht unmöglich ist, einmal im Jahr am selben Tag Geburtstag zu feiern:

  • eine Erinnerung, am besten schriftlich notiert,
  • im Datumsformat und
  • den Kalender.

Dabei handelt es sich allerdings nur um die technischen Zutaten. Sie reichen bei weitem nicht aus, um die Feier zu erklären. Um überhaupt auf die Idee zu kommen, die eigene Geburt zu feiern, braucht es einige weitere Verfeinerungen, gerade so wie bei allen guten Rezepten. Wäre der Geburtstag eine Torte, so würde es sich um eine Art von kulturphilosophischer Glasur handeln. Wahrscheinlich wäre die Torte auch ohne selbstgemachtes Johannisbeergelee, ohne Buttercremeverzierung aus dem Spritzbeutel mit Nüssen und ohne dass wir die Tortenböden mit Obstsaft und einem Schuss Rum besprühen, machbar, aber eben ein wenig staubig und trocken.

Allein weil wir wissen, wann wir geboren wurden, feiern wir noch längst kein Fest an diesem Tag. Jubiläen gibt es viele, aber der Geburtstag kommt nicht ohne Grund recht spät dazu. Tatsächlich erweist er sich im Vergleich zu all den Festen, die wir sonst so kennen, als ein eher ungewöhnliches Jubiläum.

Etwas zu feiern ist immer eine gemeinsame Sache. Natürlich gibt es Ausnahmen wie den römischen Dichter Ovid, der ganz für sich allein einen Geburtstag beging, und zwar nicht einmal seinen eigenen, aber dazu später mehr. Im Normalfall feiert es sich am besten in Gesellschaft. Dazu gehört üblicherweise, dass alle miteinander aus einem gemeinsamen Anlass ein Fest feiern. Zu solchen Anlässen zählen etwa große Märkte, das Ende der Ernte, Festtage von Heiligen und Göttern, Jubiläen von Gründungen oder großen Ereignissen oder in neuerer Zeit auch Festivals aller Art.

Was die Geburtstage von all diesen Festen unterscheidet, ist ihr privater Anlass. Sich selbst zu feiern galt die längste Zeit als Privileg von Herrschern. Oft allerdings bezog sich das Jubiläum nicht auf die Geburt der Königin, des Königs oder eines Fürsten oder sonst eines Aristokraten, sondern auf die Amtseinführung oder Thronbesteigung. Dabei handelte es sich um Feiern, die den gesamten Staat und damit alle Bürger miteinander betrafen. Um überhaupt darauf zu verfallen, das eigene Datum der Geburt als privaten Anlass eines Festes zu nehmen, benötigen wir drei weitere Zutaten.

Die erste sind wir selbst. Dieses »Ich« ist nicht so alt, wie man vermuten mag. Und es kommt keinesfalls so selbstverständlich daher, wie es uns heute erscheint. Zwar haben schon die alten Griechen den Wahlspruch ausgegeben: Erkenne dich selbst. Aber sosehr sie sich auch um sich selbst sorgten, sie sahen sich doch immer als soziale Wesen eingebunden in den Zusammenhang ihrer Stadt und ihrer Familie und Freunde, und dazu standen sie noch unter dem Schutz ihrer vielen Götter. Die Aufschrift »Erkenne dich selbst« stand bezeichnenderweise über dem Tempel von Delphi. Sie richtete sich nicht an ein modernes, selbstbezügliches »Ich«, sondern forderte die Besucher auf, im Orakel der Götter ihr eigenes Schicksal zu erkennen.

Das »Ich« als modernes Subjekt entsteht viel, viel später. Es hat die Macht, oder eher die Pflicht, selbst zu denken und sich selbst zu begreifen. Den »Ausgang aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit« hatte der Philosoph Immanuel Kant als dringendste Aufgabe des aufgeklärten Menschen gefordert. Dass er dabei lediglich einen »geschärften Befehl zum Selbstdenken« befolgte, den der preußische Minister von Fürst am 26. Mai des Jahres 1770 vom König an die Universitäten weitergeleitet hatte, wird in der Heldengeschichte der großen Philosophen gerne unterschlagen.

Was hat es mit diesem »Subjekt« auf sich? Betrachten wir es an einem Beispiel. Wir gehen heute ganz fraglos davon aus, dass wir für unsere Taten selbst verantwortlich sind. In seltenen Fällen können wir mildernde Umstände anführen. Aber wir wissen sehr genau, dass wir uns weder auf das Schicksal noch auf die Launen der Götter berufen können. Wir haben gelernt, dass wir am Ende ganz allein für uns selbst zuständig sind und selbst bedenken müssen, was wir tun. Das war nicht immer so. Solange sich der Mensch im Reich des einen Gottes oder der vielen Götter gut aufgehoben fühlte, war selbst zu denken nicht angesagt. Im Jahr 1619 hatte ein französischer Soldat in Diensten der bayrischen Armee in seiner überheizten Stube zu Neuburg an der Donau ein paar eigenartige Träume. »Ich denke, also bin ich«, notierte der Herr mit Namen René Descartes. Um die gleiche Zeit beginnen die Leute nicht nur damit, für sich selbst zu denken, sondern auch, sich selbst zu feiern. Irgendwie scheinen, jedenfalls an diesem zweiten Beginn des Geburtstagsfestes, Denken und Feiern zusammenzugehören.

Aber das »Ich« allein reicht noch nicht. Zwei weitere Zutaten fehlen noch, um mit dem Feiern wirklich beginnen zu können. Dass wir uns selbst denken, erklärt zwar den Wunsch, uns auch zu feiern, nicht aber die Tatsache, dass wir es am Tag unserer Geburt tun.

Das »Ich«, das wir nun einmal sind, muss dazu noch zwei entscheidende Dinge lernen. Erstens müssen wir uns als ein Wesen begreifen, das in der Zeit lebt. Am deutlichsten wird dieser Bezug zur Zeit wohl in der Erfindung der Kindheit. Nicht umsonst üben die Kindergeburtstage eine derart große Attraktion aus. Kindheit erfinden? Wie soll das gehen? Hat denn nicht seit Ewigkeiten jedes Kind eine Kindheit? Sind Menschen nach der Geburt nicht immer Kinder, erst kleine, dann große? Die Antwort der Kulturhistoriker auf diese Frage fällt eindeutig aus: Nein! Ein klares und deutliches Nein. Die Kindheit musste als eigenständige Phase des Lebens erst erfunden werden. Das geschieht ungefähr im 18. Jahrhundert. Vorher galten junge Menschen einfach als kleinere Ausgaben der Erwachsenen. Für manche Aufgaben waren sie unbrauchbar, für andere gut geeignet. Bevor sie sprechen konnten, kümmerte man sich besser nicht so sehr um sie. Die ersten Jahre überlebten nicht viele. Eine Kindheit als abgesonderten Abschnitt des Lebens kannte man nicht. Dass wir Jahr für Jahr wachsen und uns entwickeln, anstatt einfach nur im Kreislauf des Immergleichen dasselbe zu tun, musste erst in unser Bewusstsein gebracht werden. Zum Ausdruck dieses neuen Bewusstseins wurde, unter anderem, der Geburtstag. Nämlich ein Tag, an dem wir uns als ein Wesen begreifen, das wächst, größer wird und sich mit der Zeit verändert, von Jahr zu Jahr.

Aber auch das genügt nicht. Noch fehlt eine weitere Zutat, um Geburtstag feiern zu können. Wir sind jetzt Subjekte geworden, die sich Mühe geben, selbst zu denken, und wir wissen, dass wir jedes Jahr älter werden. Aber damit »haben« wir noch lange keinen Geburtstag. Es mag zwar Behörden, Ämter oder auch Pfarrer geben, die das Datum unserer Geburt notiert haben und deshalb kennen....

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