Es fährt ein Zug aufs Dach der Welt
Nadelöhr Einreise – ein Entschluss, eine Beamtin und ein Schlaumeier
Gleich geht es los – dachten wir. Aber nun warten wir schon eine halbe Stunde, stehend, mit prall gefülltem Rucksack auf dem Rücken, umringt von Männern. Soldaten in Zivil, Geschäftsreisende, chinesische Touristen? Schwer einzuschätzen. Nur einzelne Tibeter sind dabei. Vor uns prangt das Schild mit unserer Zugnummer: K 9811. Eine Absperrung mit einer roten Kordel verhindert, dass wir einfach so auf das Gleis gehen. Auch hier im Bahnhof von Xining, im tiefen Westen Chinas, hat alles seine Ordnung, was bedeutet: einchecken wie auf dem Flughafen. Reisende nach Lhasa, so scheint es, bedürfen einer besonderen Disziplinierung. Wir müssen in vier Reihen anstehen, dicht an dicht und vor allem eng hintereinander. So eng, wie sich Durchschnittseuropäer niemals freiwillig hinstellen würden.
Uniformierte starren bedeutungsschwanger in die Luft. Mein tonnenschwerer Rucksack treibt mir den Schweiß aus allen Poren. Ich schere einen halben Schritt nach links aus, entziehe mich dem Geruch von Schweiß, Rasierwasser und Yakbutter. Deren süßlich-ranzigen Geruch kennen wir von den Butterlampen der Klöster. In Tibet werden damit auch Haut und Haare eingecremt. Yakbutter hilft angeblich bei fast allem, wie in Russland der Wodka und in Bayern das Bier.
Mein Ausfallschritt ist dem Bahnpolizisten ein Dorn im Auge, aber er übersieht ihn geflissentlich. Sonst geriete er womöglich in die Bredouille, irgendetwas tun zu müssen. Aber wie und was, wenn man kein Englisch spricht und nichts falsch machen möchte? Mit einem Stock patrouilliert er die Reihen entlang, als beaufsichtige er eine Herde Yakbullen. Wir Westlerinnen haben den Langnasen-Bonus und ignorieren die lautstark vorgetragenen Drohungen und Mahnungen.
Gabi, neben mir eingekeilt, kämpft tapfer gegen notorische Drängler von hinten an. Ich weiß, sie ist hellwach und fest entschlossen, loszuspurten, wenn’s drauf ankommt. Schweißtropfen rinnen hinter meinen Ohren den Hals hinunter, die Tragegurte schneiden mir in die Nackenmuskeln. »Wenn wir nur nicht so viel eingepackt hätten!«, verfluche ich laut meine bleierne Last. Schon dreimal habe ich meinen Zwanzig-Kilo-Rucksack mühsam abgesetzt, um ihn mir beim kleinsten Anzeichen, dass es vorangeht, wieder auf den Rücken zu hieven. Eine ganze Bibliothek befindet sich darin, und bisher habe ich kein einziges Buch gelesen! Die Youngsters mit ihren Laptops, Tablets und Pads würden sich kringeln vor Lachen, wenn sie wüssten, was sich in den Tiefen meines alten Travellerrucksacks stapelt. Und sie wären sicherlich entsetzt bei der Vorstellung, ohne Handy auf Reisen zu gehen.
Da! Bewegung kommt in die Menge, als sich die Glastür vor uns öffnet, die Kordel entfernt wird. Fehlalarm. Zwei weitere wichtige chinesische Beamte postieren sich neben die anderen.
Bevor wir allmählich in Gleichmut versinken, spazieren zwei Reisegruppen mit Westlern, von ihren Guides geleitet, an allen vorbei, als sei dies das Selbstverständlichste auf der Welt. Irgendwie sind wir plötzlich stolz, mit dem normalen Volk in der Reihe zu stehen. Lange kann es nicht mehr dauern.
Ein unhörbarer Startschuss. Es geht los! Sofort verschmelzen die vier säuberlich bewachten Reihen zu einem kompakten, drängelnden Knäuel. Fein angezogene Chinesen im Businessanzug mit Rollköfferchen haben sich schon herangepirscht und greifen von der Seite an. Was uns nicht beeindrucken kann, schließlich sind wir »China-Profis«: Unter Einsatz des ganzen Körpergewichts inklusive Rucksack drängeln wir durch den Flaschenhals, den die Beamten bilden, und durchschreiten die verheißungsvolle Glastür.
Der Bahnsteig ist jungfräulich leer, geräumig und blitzblank sauber wie ein Geisterbahnhof. Schaffnerinnen in Habachtstellung vor jeder Zugtür. Schnell ist unser Waggon gefunden, doch die Uniformierte hält uns auf. Wo ist unser Lhasa-Permit? Verflucht! Gabi durchwühlt ihren Bauchgurt. Unser ehrgeiziges Ziel, möglichst schnell das Abteil zu erreichen, um das Gepäck gut verstauen zu können, schwindet dahin. Seelenruhig inspiziert die Schaffnerin das Stück Papier, dreht es in alle Himmelsrichtungen. Riesenkoffer schieben an uns vorbei. »Was macht die denn?«, raunt Gabi zwischen zusammengebissenen Zähnen. Sie täuscht Gewissenhaftigkeit vor, denke ich mir. Energisch zupft meine resolute Liebste der Frau das Schriftstück aus der Hand. Die Schaffnerin schaut etwas verdutzt, wir verschwinden im allgemeinen Gewusel. Komisch, sie hält uns nicht auf!
Zwei Männer haben sich im Abteil schon häuslich eingerichtet, doch sie helfen uns sogar, unsere Rucksäcke und die Gitarre zu verstauen. Einer Nacht auf freier Liege steht nichts mehr im Weg!
»Richtig gemütlich hier«, sage ich erleichtert, denn es ist sauber und ruhig. Die Pritschen sind mit Kissen und Decken bestückt, fein säuberlich mit einem Bettüberzug aus weißem Papiervlies überzogen. Eigentlich hatten wir auf ein Zweierabteil umdisponiert, aber das erwies sich als frommer Wunsch. »Die Tickets sind höchst selten zu kriegen«, erklärte uns Norbu von der Agency. So nebenbei erfuhren wir, dass auch die Reiseagentur die Karten auf dem Schwarzmarkt besorgen musste. Unser Gepäck wird mit Kabel und Zahlenschlössern gesichert, und dann sitzen wir auf dem unteren Bett wie zwei Hühner auf der Stange und begutachten die Männer gegenüber. Einer mittleren Alters, ein Jüngerer, kurz gestutzte Haare, beide offenbar alleinreisend, nicht angetrunken oder verdächtig aufgekratzt. Sie wirken eher routiniert, gelangweilt, distanziert. Militärs in Zivil? Parteikader? Und sie scheinen auch nicht befremdet zu sein, dass sie mit zwei Langnasen-Frauen in robusten Trekkingklamotten die Nacht in einem Abteil verbringen werden. Entwarnung also, wir können durchatmen.
So langsam sickert es in unser Bewusstsein: Wir sitzen im Zug nach Lhasa, juhu! Potala, wir kommen! Tsurphu, Namtso, Reting, Everest und Kailash, wir sind auf dem Weg! Dreißig Tage auf dem Dach der Welt erwarten uns! Welch ein Luxus, dass wir dieses geheimnisvolle, sagenumwobene, extreme, abgeschiedene und doch in der ganzen Welt so bekannte Land besuchen können! Eine Mischung aus Befriedigung und Vorfreude kitzelt in meinem Brustkorb. Ich muss aufpassen, dass ich nicht dauernd dümmlich vor mich hin grinse.
Es ist schon nach elf Uhr, als wir uns mit Wasserflasche in der Hand zum Zähneputzen den Gang entlanghangeln. Am Ende jedes Wagens gibt es vier kleine Waschbecken, zwar mitten auf dem Gang, aber für chinesische Verhältnisse luxuriös mit Seifchen und Spiegeln ausgestattet.
Unser Schlaf ist seelenruhig, tief und fest. Gabi liegt unten, ich im oberen Bett, beide in voller Montur. Nur den Knopf an meiner Trekkinghose habe ich geöffnet, die »Bauchbinde« – wie ich meinen Geldgürtel nenne – drückt ein wenig.
Rückblick: Eine Art von Bestechungsversuch
Eine Reise nach Tibet ist schwer zu organisieren, sie muss strategisch geplant werden. Grundsätzlich sind seit mehreren Jahren nur Gruppenreisen möglich – natürlich geführt, sozusagen mit permanentem Aufpasser. Das einzige Schlupfloch bietet die Einreise über eine andere chinesische Provinz. Dort kann man in einem chinesischen Reisebüro auch als Paar oder gar Alleinreisende eine »Gruppenreise« buchen. Genau das ist unser Plan. Allerdings mit zwei kleinen Haken: In Deutschland haben wir nur ein einmonatiges Visum bekommen, und als wir von zu Hause starten, ist Tibet für ausländische Touristen gerade mal wieder gänzlich gesperrt. Was tun?
Inzwischen, zehn Tage nach unserer Einreise in China, müssten die Grenzen Tibets eigentlich wieder geöffnet sein, so hoffen wir. Also nehmen wir die Tibet-Tour in Angriff. Jetzt oder nie, wir sind bereit, bis zum Äußersten zu gehen und sogar einen Beamten zu bestechen!
Auf diese Idee kommt Liu. Wir lernen ihn in unserem Guesthouse in Xining kennen und laden ihn zu einer Tasse Jasmintee ein. Unser gemeinsames Thema: die chinesische Bürokratie. Wir reißen Witze über hilflose und überkorrekte Beamte, sinnieren über mögliche Gründe ihrer Entscheidungen, denn gerade heute ist der Versuch, unser Visum zu verlängern, fehlgeschlagen. Und ohne verlängertes Visum keine Tibet-Tour! Liu starrt auf sein Feuerzeug und meint zögerlich: »Ich kenne jemanden, der mir was schuldig ist und euch vielleicht helfen kann.« Geräuschvoll schlürft er dabei seinen Tee und zündet sich die nächste Zigarette an. Wir haben ihm von unserem gestrigen Gang zum Publik Security Bureau (PSB) erzählt und ahnen nicht, dass dies der Auftakt zu einem konspirativen Abenteuer sein wird. Unser Problem: Wir wollen möglichst sofort nach Tibet reisen, solange es noch sommerlich ist, und müssen dazu unser Visum hier in Xining verlängern, denn in Tibet selber ist keine Verlängerung möglich. »Kommen Sie in zwei Wochen wieder«, hatte uns die Beamtin des Sicherheitsbüros mit ernster Miene mitgeteilt, »dann können wir Ihren Antrag bearbeiten.«
Das PSB ist eine Polizeistation, die auch als kommunale Behörde fungiert. So modern hatten wir uns das Gebäude gar nicht vorgestellt und waren zielsicher im Nachbarhaus gelandet. Erst als wir dort vor Gittern standen, wurde uns klar, dass dies wohl das Gefängnis ist. Hektisch geleitete uns ein Uniformierter zum Nebengebäude mit Glasfassade und Blick auf eine stylische weiße Theke. Die junge PSB-Beamtin rügte ihn gleich ein bisschen, weil er nicht besser Englisch sprach. Aber trotz ihrer besseren Sprachkenntnisse blieb die Antwort abschlägig. Da halfen kein modernes Interieur, keine ausführlichen Anträge mit...