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Who´s who in Mozarts Meisteropern

Die Gestalten in Mozarts Meisteropern von Alfonso bis Zerlina

AutorJoachim Kaiser
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl312 Seiten
ISBN9783492977388
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Wer kennt sie nicht, die Königin der Nacht, Don Giovanni oder Figaro. Kaiser versucht, Mozarts Gestalten so zu betrachten, als wären sie lebendige Menschen. Was sind sie, wie fühlen sie, wie verhalten sie sich, welche Wünsche verbergen oder offenbaren sie? Porträts lustiger, aufregender oder ungewöhnlichen Menschen - Joachim Kaiser ist ein »Who is who bei Mozart« gelungen, in dem auch unbekanntere Charaktere ihre Würdigung erfahren. Die Gestalten in Mozarts Meisteropern von Alfonso bis Zerlina.

Joachim Kaiser, geboren 1928 in Milken/Ostpreußen, studierte Musikwissenschaften, Germanistik, Philosophie und Soziologie. Er war lange Zeit Kulturkritiker bei der Süddeutschen Zeitung in München und Professor an der Hochschule für Musik und darstellende Künste in Stuttgart. Joachim Kaiser verstarb 2017.

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Leseprobe

Donna Anna


Sopran. Tochter des Komturs. Geriet in den Bannkreis Don Giovannis, der sie überwältigen wollte und ihren Vater tötete. Steht unter seelischem Überdruck. Höchst ausdrucksvoll und labil. Ihr Verlobter, Don Ottavio, kann ihr einstweilen nur wenig helfen. Die Hochzeit wird aufgeschoben. Ob Zeit alle Wunden heilt?

Aus: Don Giovanni

Daran gibt es keinen Zweifel: Don Giovanni hat diese junge Frau berührt. Körperlich berührt – während er sie zu überwältigen versuchte. In ihrem wilden, von panischschmerzlichen Orchesterakkorden begleiteten Rezitativ berichtet Donna Anna dem Don Ottavio, was der Unhold ihr antat in jener Nacht. Die Schilderung ist eindeutig in dem, was sie sagen will, aber nicht völlig eindeutig in dem, was sie besagt.

Donna Anna: »Schweigend nähert er sich mir, und er will mich umarmen. Ich versuche, mich zu befreien, er umklammert mich fester, ich schreie. Es kommt niemand. Mit einer Hand will er mir den Mund zuhalten, mit der anderen hält er mich so fest, daß ich mich schon überwältigt glaube.«

Don Ottavio: »Der Schändliche! Und dann?« Donna Anna: »Schließlich wuchs durch den Schmerz, durch das Entsetzen vor dem gemeinen Überfall derart meine Kraft, daß ich mich durch Drehen, Winden und Biegen von ihm löste.« Don Ottavio: »Ach, ich atme auf.«

»Es kommt niemand« oder »ich glaube mich schon überwältigt« – solche Aussagen deuten ein schreckliches Vergehen der Zeit an. Sie deuten die Möglichkeit von etwas Geschehendem an, worüber Donna Anna nicht spricht. Vielleicht, dann wäre sie Lügnerin, weil sie sich nicht erinnern will. Vielleicht, dann hätte sie sekundenlang das Bewußtsein verloren gehabt wie Kleists Marquise von O., weil sie die Überwältigung tatsächlich nicht erlebte, sondern nur körperlich tief verstört nach-fühlt.

Man kann das alles so deuten. Und man kann auch Donna Annas Beschreibung des Abwehrkampfes – »Drehen, Winden, Biegen« – seltsam erotisch gefärbt finden. (Gewiß, Don Juan ist, als Typus, kein Vergewaltiger. Aber die Eile, mit der man am Ende des ersten Aktes, im Schloß, Fräulein Zerlina ins Kabinett zerrt, der nicht etwa Lust-, sondern Angstschrei, welcher dann sehr schnell dem offenbar Überfallenen Mädchen abgepreßt wird: solche Fakten belegen doch, daß der Verführer sein Liebes-»Vorspiel« zumindest nicht immer hübsch umfangreich und zeitraubend gestaltete.) Beim »Aufatmen« – ausgerechnet nach dem vielleicht heikelsten, zweideutigsten Moment von Donna Annas Erzählung – verhält sich Don Ottavio schon sehr positiv-optimistisch. Man kann darüber lächeln.

Aber obwohl Don Giovanni die Donna Anna irgendwie schlimm und gewaltsam berührte, so daß sie diese Berührung nicht vergessen kann und sich ihrer vor Beginn der großen Rezitativ-Erzählung plötzlich wegen einer vielleicht spontanen Handbewegung oder Wendung Don Giovannis schockhaft erinnert, zumal der noble, innige Verlobte seine edle Braut gewiß anders zu berühren, anzufassen pflegt, als Don Giovanni es bei seinem nächtlichen Überfall tat – wir dürfen nie vergessen, wie zweideutig das Verbum »berühren« selber ist. Eine Frau »berührt« haben meint im Deutschen, im Erlesen-Schriftdeutschen, sie besessen, sie erotisch geliebt haben. (»Ich habe fast jeden Tag gegessen, ich habe Frauen berührt«, sagt etwa Herr Teste in Max Rychners Valéry-Übersetzung.) Gleichwohl kann das Tätigkeitswort »berühren« natürlich auch nur den bloßen Körperkontakt bedeuten, wie er beim Streicheln, Streiten, Sichbegegnen, Kämpfen, Ringen entsteht. Auch dieser Kontakt kann von verletzender, bannend traumatisierender Wirkung sein.

Welche Überzeugungen wohl- oder übelmeinende Interpreten über Mozarts »Erotik« oder über vermeintlich »selbstverständliche weibliche Reaktionen« hegen zu dürfen glauben: man muß hier respektieren, daß Da Ponte und Mozart Donna Anna mit einem Geheimnis umgaben. Dieses Geheimnis liegt zum einen in der Vieldeutigkeit körperlicher »Berührung« beschlossen, zum anderen in der Affektwirkung, die der indirekt sogar von Donna Anna verschuldete Duelltod des Vaters auf diese entzündbare junge Tochter hat. Wer über Donna Anna ganz eindeutig befindet, setzt, was ihm für wahrscheinlich oder sicher gilt, an die Stelle dessen, was Mozart nicht völlig entschleierte, sondern Geheimnis ließ.

Diejenigen nämlich, die Donna Anna »eindeutig« finden, sich also überhaupt nicht beunruhigen über ihre Mischung aus Expressivität und Labilität, über ihre Forciertheit und über ihre Neigung, das Bewußtsein zu verlieren, außer sich zu geraten, den Duelltod des Vaters fast in einen Mord umzustilisieren – sie harmonisieren entschlossen das, was zumindest seltsam ist, weniger eindeutig als widersprüchlich. Die anderen indessen, die Donna Annas Seltsamkeiten ohne weiteres aus nur einem Punkt interpretieren – sie beuten ein komponiertes Geheimnis im Sinne allzu rascher Psychologie aus. Donna Anna versucht eben, sich zu entziehen: nicht nur dem Leib Don Giovannis und dem Drängen ihres Verlobten, auch der Feder ihrer Interpreten.

Wenn Donna Anna von jener Nacht berichtet – »es war schon ziemlich spät« –, dann ist ihr Rezitativ vom B-Dur im es-Moll angelangt, was wahrlich keine Don-Giovanni-Tonart darstellt. Das B wird freilich bald zum Ais umgedeutet, dann kann Mozart ins h-Moll modulieren, was wiederum der D-Sphäre zumindest nahekommt. (Übrigens hat Chopin im langsamen Satz seines f-Moll-Klavierkonzerts, dessen Mitte ein gewaltiges Rezitativ ist, wortwörtlich die ersten es-Moll-Töne der Donna Anna zitiert, eingebaut. Chopin war bewundernder Don-Giovanni-Kenner: Bereits sein Opus 2 sind Variationen für Klavier und Orchester über »Là ci darem la mano«.) Vielleicht ist für die Charakterisierung Donna Annas bereits das Wort »Geheimnis« schon zu vollmundig und mystifizierend. In ihren jeweiligen Verhaltensweisen, die sich nur eben nicht ganz schlüssig ineinanderzufügen scheinen, verstehen wir Donna Anna sehr wohl. Und daß sie Augenblicke einer melodischen Inbrunst hat wie niemand sonst (etwa im Sextett des zweiten Aktes, wo sie unbeschreiblich herrlich ins c-Moll kadenziert: »Nur der Tod kann meine Tränen stillen«, Takt 45–61!), gehört gewiß auch zu ihrem Bilde.

Was immer sie auch erlitten hat: am Ende wirkt sie sicher, nicht mehr widerstrebend, ruhig. Auf die Bitte ihres Verlobten, sie solle nun endlich doch in die Ehe einwilligen – den Unhold hat mittlerweile der Teufel geholt, Ehrbeleidigung und Vatermord sind also gerächt –, auf diese Bitte antwortet Donna Anna mit einem Versprechen. Sie brauche noch ein Jahr der Beruhigung. Dann aber werde dem, der innig liebend bittet, treue Liebe gern nachgeben.

Also: nicht unmittelbar im Anschluß daran, daß Don Giovanni brutal und zerstörerisch in ihre Existenz eindrang, möchte sie heiraten; in zwölf Monaten aber glaubt sie, soweit zu sein.

Was spricht nun dagegen, daß Donna Anna hier, im herausgehobenen Moment, am äußersten Ende des Werkes, meint, was sie sagt? Überhaupt nichts. Dieses G-Dur-Larghetto-Duettieren von Donna Anna und Don Ottavio läßt musikalisch nicht den geringsten weiblichen Vorbehalt, nicht die geringste Differenz zwischen den beiden Verlobten erkennen. Im Gegenteil: wenn da etwas deutlich wird, dann ist es eine vollkommene Übereinstimmung der Haltungen, musikalischen Phrasen und Bewegungen. Reiner kann die Harmonie zweier Seelen nicht ausgedrückt werden. Die junge Frau nimmt ganz selbstverständlich und fast tongleich auf, was ihr Verlobter, der in den Anfangsszenen kaum je das Gespräch bestimmend begann, soeben äußerte. Die Kantilene des »Dem, der innig liebend bittet« klingt in Donna Annas Mund wie eine ruhige, sinn- und ausdrucksgleiche Reaktion auf Don Ottavios Bitte! Dann bleiben die beiden Stimmen innig und liniengleich zusammen (Takt 727 in der letzten Szene), und Mozart sorgt bei der Wiederholung des »AI desio« – die Takte 724–725 werden von den Takten 730–731 repetiert – sogar dafür, daß Donna Anna jetzt Don Ottavios Phrase übernimmt und Ottavio Annas Antwort wiederholt. Wenn musikalische Charakterisierung überhaupt einen Sinn haben und etwas besagen kann, dann muß das alles doch heißen: Die beiden sind eins und einig. Donna Anna liebt ihren Verlobten, verspricht ihm nach einem Trauer- und Beruhigungsjahr die Ehe. Und die Musik bestätigt diese Eintracht, diese widerspruchsfreie Harmonie.

Ein verhaltenes Happy-End also, nach grausamer Erschütterung. Bevor das Strafgericht an Don Giovanni vollzogen war, schien Donna Anna einer so ruhigen Einverständnishaltung (die hier echt und ungekünstelt wirkt) unfähig.

Auffällig nahe war sie von Anfang an dem Tod. Bereits ihr allererster Satz – sie versucht, den fliehenden Schurken festzuhalten – handelt vom Tod. Nämlich davon, daß sie für die Wahrheit ihr Leben einsetzen wolle. »Hoffe nicht, wenn du mich nicht tötest, daß ich dich je entkommen lasse.« Dann eilt sie – Konsequenz ist nicht ihre Stärke – ins Haus. Mit Dienern, die Fackeln tragen, und dem Verlobten kehrt sie auf den Kampfplatz zurück. Die düstere Bühne erleuchtet sich bei ihrer Wiederkehr magisch. Flackerndes Licht fällt auf den toten Vater.

Gleiche Helligkeit geht, fast zeremoniell hervorgerufen von fackeltragenden Bedienten, wiederum von Donna Anna und Don Ottavio aus, wenn Mozarts lichtsymbolisierende Trompetenmodulation von B-Dur nach D-Dur im Sextett des zweiten Aktes erklingt. (Dafür, diese Stelle – Sextett Takt 27–30 – erfunden zu haben, hätte Richard Strauss, wie der Dirigent Karl Böhm erzählte, gern eine ganze eigene Oper hergegeben. »Und er dachte sehr hoch...

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