„Dein Verstand arbeitet am besten, wenn du paranoid bist.“
Banksy, britischer Street-Art Künstler
Warum sind die großen Technologie-Unternehmen des Silicon Valley seit Jahren erfolgreich? Weshalb begeistern Apple, Google und Facebook immer wieder ihre Kunden und User? Eine wichtige Zutat des Erfolgsrezeptes ist das, was man „gesunde Paranoia“ nennt. Gesunde Paranoia … Sind die Silicon Valley Manager etwa alle geisteskrank? Eine Paranoia ist schließlich eine ernsthafte psychische Erkrankung mit Wahnvorstellungen. Und wie kann ein Krankheitsbild gesund sein? Der offensichtliche Widerspruch ergibt plötzlich Sinn, wenn man sich mit Managern von Google unterhält. „Die nächste Suchmaschine ist nur einen Klick entfernt“, hört man in Mountain View, der Unternehmenszentrale im Silicon Valley, häufig. Dieser Satz macht deutlich, woher der Antrieb der Google-Entwickler stammt. Sie haben die erfolgreichste Suchmaschine der Welt entwickelt, lehnen sich aber nicht zurück. Das Topmanagement und viele Mitarbeiter halten konstant Ausschau nach möglichen neuen Konkurrenten. Denn weltweit existieren Hunderte Suchmaschinen, die Google gefährlich werden könnten. Erschwerend kommt hinzu, dass die Kundenbindung im Internet in der Regel schwächer als in der realen Welt ist. Die User besitzen vielleicht einen Account, einen Log-in. Aber ansonsten entscheiden sie sich intuitiv und spontan für oder gegen eine Webseite, je nachdem, ob sie die Seite mögen. Jede andere Suchmaschine ist daher stets mit einem schnellen Klick erreichbar.
Und was, wenn aus heiterem Himmel eine neue Suchmaschine auftaucht, die bei den Usern besser ankommt? In Mountain View weiß niemand, wie der Neuling aussehen könnte. Aber allein die Möglichkeit, dass irgendwo auf der Welt schon an der nächsten Super-Suchmaschine gearbeitet wird, lässt die Google-Teams hellwach bleiben. Die potenzielle Bedrohung schwört die Mitarbeiter auf ein gemeinsames Ziel ein: Sie müssen besser als der Wettbewerb sein und dürfen sich niemals auf ihren Erfolgen ausruhen. Die Google-Manager wissen: Der Augenblick, in dem sie glauben, dass sie nicht unter Wettbewerbsdruck stehen, ist der Anfang vom Ende.
„Die nächste Suchmaschine ist nur einen Klick entfernt“ - dieser Satz steht sinnbildlich für die gesunde Paranoia, die Google und andere Branchengrößen des Silicon Valley erfolgreich bleiben lässt. Die Mitarbeiter hinterfragen jeden Tag aufs Neue ihre komfortable Wettbewerbsposition. Sie stellen ihr aktuelles Geschäftsmodell kritisch auf den Prüfstand und konfrontieren sich mit bedrohlichen Gedankenspielen: Lauert irgendwo bereits ein möglicher Konkurrent? Gibt es eine neue Idee, die unserem Produkt gefährlich werden könnte? Und falls ja, wie antworten wir darauf? Können wir unser Produkt so verbessern, dass wir den neuen Angreifer sogar übertreffen?
Diese Einstellung ist gesund. Sie lässt die Tech-Giganten kontinuierlich Innovationen entwickeln, die den Unternehmenserfolg sichern. Kein Wunder, dass viele Firmenzentralen im Silicon Valley als „Campus“ bezeichnet werden. Dieser Begriff drückt aus, wie sich die Mitarbeiter selbst sehen: als forschende Studenten, die der Zukunft neugierig entgegenfiebern. Mit einem gesunden Grad an Pioniergeist ausgestattet, sind sie ununterbrochen auf der Jagd nach der nächsten Innovation.
Die Digitalisierung führt zu Umwälzungen, deren Folgen für viele Branchen noch gar nicht absehbar sind. Daher benötigen Unternehmen ein Frühwarnsystem. Eine gesunde Paranoia ist das ideale Mindset hierzu, da sie Topmanager neue Chancen, aber auch neue Bedrohungen frühzeitig antizipieren lässt. Die Boston Consulting Group sieht die gesunde Paranoia als einen wesentlichen Erfolgsfaktor für die gelungene Transformation von Unternehmen. Das Bewusstsein, jederzeit angreifbar zu sein, sorge für eine ständige Offenheit für relevante Signale aus dem Markt.13 „Es ist fatal zu sagen, keine Gefahr zu sehen, und zu behaupten, es verändere sich nichts. Man braucht eine Healthy Paranoia.“, betont auch Hinnerk Ehlers, Vorstandsmitglied der Frosta AG.14
Jeff Bezos, Gründer und CEO von Amazon, verfolgt das „Tag-eins-Prinzip“, um sein Unternehmen auf Erfolgskurs zu halten. Für den Amazon-Chef steht der Tag eins für die Anfangsphase eines Unternehmens, für eine erfolgreiche Start-up-Kultur: Kundenfokus, Experimente, Geschwindigkeit und die Flexibilität, sich jederzeit schnell an neue Trends anzupassen. Tag zwei hingegen symbolisiert die Behäbigkeit eines Unternehmens. „Tag zwei ist Stillstand. Gefolgt von Irrelevanz. Gefolgt von qualvollem, schmerzhaftem Niedergang. Gefolgt vom Tod. Und deshalb ist immer Tag eins.“, erklärt der Amazon-Chef seine Philosophie. Um sich und seine Mitarbeiter tagtäglich an diese Mentalität zu erinnern, hat Bezos sogar sein Bürogebäude „Day 1“ genannt.15
Einer der ersten, der den Begriff der gesunden Paranoia prägte, ist Andy Grove, Mitgründer und langjähriger CEO von Intel. Gesunde Paranoia verhalf Grove zu einem der größten Turnarounds eines Weltkonzerns. Mitte der 1980er-Jahre verdiente Intel sein Geld mit der Fertigung von Speicherchips. Doch die Konkurrenz aus Asien produzierte diese bald darauf zu deutlich niedrigeren Preisen. Eine aussichtslose Situation für Intel. 1985 spitzte sich die Lage für das Technologieunternehmen dramatisch zu. Umsatz und Gewinn brachen ein. Grove fragte seinen Vorstandskollegen Gordon Moore, mit dem er insgesamt mehr als 30 Jahre zusammenarbeitete: „Wenn wir morgen gefeuert werden und ein neuer CEO diesen Raum betritt, was würde dieser tun?“ Ohne zu zögern antwortete Moore, der 1965 das fundamentale Computer-Gesetz „Moore’s Law“ geprägt hatte: „Der neue CEO würde die Speicherchips aufgeben.“ Grove entgegnete: „Warum sollten nicht du und ich zur Tür hinausgehen, wieder hineinkommen und es selbst tun?“ Und es war genau das, was sie taten. Grove verblüffte alle, Kollegen und Konkurrenten, als er verkündete: „Intel wird aus dem Markt der Speicherchips aussteigen.“ Das Unternehmen gab sich in der Schlacht um die Chips kampflos geschlagen und setzte stattdessen auf Mikroprozessoren. Einen kompletten Technologiewechsel mit 180 Mio. US-Dollar Investitionen und einen Abbau von 8.000 Stellen später war Intel wieder als Weltmarktführer etabliert. Diese Entscheidung ist umso bemerkenswerter, da damals niemand ahnen konnte, wie sich der Markt der Prozessoren entwickeln würde. Der PC eroberte erst Jahre später die Welt und leitete so auch den Siegeszug der Mikroprozessoren ein. Gewiss, Groves Kehrtwende war riskant. Doch im Nachhinein stellte sie sich als die einzig richtige Option für Intel heraus.
Grove wurde später einer der Väter des Silicon Valley. Mit seinem strategischen Weitblick übernahm er dort des Öfteren die Rolle des Mentors für die aufstrebenden Gründer. Damit prägte er ganz entscheidend die Unternehmenskultur von vielen späteren Silicon-Valley-Giganten. Seinen eigenen Führungsstil bezeichnete er als kreative Konfrontation. In Meetings verlangte er immer ausführlichere Informationen, selbst wenn seine Mitarbeiter irgendwann nur noch die Köpfe schüttelten. Seine Liebe zum Detail führte dazu, dass er jeden und alles hinterfragte - auch den eigenen Erfolg. Und das macht Sinn: Da sich die Umweltbedingungen für Unternehmen pausenlos verändern, können sich in kurzer Zeit ganze Märkte verschieben. In seinem 1996 erschienenen Managementbuch-Klassiker „Only the Paranoid survive“ zeigt er auf, dass Unternehmen nur dann nicht von Wettbewerbern verdrängt werden, wenn sie sich unentwegt verfolgt fühlen.16 Den Atem der Konkurrenz im Nacken zu spüren, dient als die tägliche Motivation, noch innovativer zu sein. Mit dieser Sichtweise wurde Grove einer der Vorreiter des Konzepts der gesunden Paranoia.