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Zweikanalton

Eine Kindheit in Kitzbühel und Hamburg

AutorSabina Moser
VerlagTyrolia
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl112 Seiten
ISBN9783702236625
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Eine Kindheit in den Sechzigerjahren, zwischen Nachkriegshunger und erster Wohlstandssattheit: Niemand musste sich schämen, wenn er noch keinen eigenen Telefonanschluss, kein Auto oder keinen Fernseher besaß. Trotz Strenge in Schule und Elternhaus erlebten viele Kinder eine große Unbeschwertheit und Freiheit. Von diesem Lebensgefühl sind die Kindheitserinnerungen von Sabina Moser getragen. Aufgewachsen in Kitzbühel und Hamburg erzählt sie leichtfüßig und amüsant von ihrer Familiengeschichte, dem 'Zweikanalton' zwischen Dialekt und Hochdeutsch, vom Kulturclash zwischen Tirol und Hansestadt, von Tradition und Aufbruch. Kurz: vom Land der Kindheit, das uns ein Leben lang prägt. Die Generation 50+ wird vertraute Bilder und Empfindungen dieser Zeit wiederfinden und auch all jene mit kosmopolitischem, mehrsprachigem Elternhaus können sich in den vorliegenden Geschichten erkennen.

SABINA MOSER, 1961 in St. Johann in Tirol geboren, wuchs in Kitzbühel und Hamburg auf. Sie studierte Vergleichende Literaturwissenschaft in Innsbruck, Modernen Tanz in Paris und Filmregie in Athen; war Redakteurin bei Print und TV und ist als Autorin, Übersetzerin und Filmemacherin sowie als Chronistin der Gemeinde Ellmau am Wilden Kaiser tätig. Nach vielen Stationen im In- und Ausland lebt sie heute wieder in Kitzbühel.

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Leseprobe

Gingalein


Ich bin in Kitzbühel aufgewachsen, der kleinen Stadt in den Nordtiroler Alpen, die durch Wintersportpionier Franz Reisch berühmt, durch das einheimische Ski-Wunderteam rund um Toni Sailer legendär und durch die sich seit nunmehr über hundert Jahren gern dort einfindende internationale Prominenz mondän wurde. Mein Zuhause lag im nicht mondänen Teil von Kitzbühel.

Drei Monate nach meiner Geburt zogen meine Eltern mit mir in die neu erbaute Gemeindesiedlung Höglrainmühle unterhalb der Felder des Höglbauern. Die Mühle gab es damals schon lange nicht mehr. Die Ache, an deren flachem, unverbautem Ufer sie einmal gestanden hatte und wo wir als Kinder oft spielten, jagt hinter den drei zusammengebauten Häusern auch heute noch im Frühjahr erdig-braunes Schmelzwasser aus den nahen Bergen vorbei. Einige Familienväter aus der Höglrainmühle hatten es nur ein paar Schritte bis zu ihrer Arbeit im Sägewerk, dessen Holzlagerplätze direkt an unser Haus grenzten. Vom Balkon im zweiten Stock blickte ich auf ein großes Feld mit dicht gereihten Türmen aus gestapelten Brettern, akkurat sortiert nach Länge, Breite und Besitzer. Die oberste Lage jedes Bretterturms schützte ein leicht schräges Lattendach, und so wirkte das Holzlager wie eine kleine Stadt aus Holzquadern.

Die Bauern der Umgebung brachten ihre gefällten Bäume in die Höglrainsäge zur Verarbeitung. Neben den Bretterstapeln türmten sich die glatten Stämme ohne Rinde zu einer wuchtigen Welle, auf der die Arbeiter herumkletterten wie Matrosen in der Takelage eines Schiffs auf hoher See. Sie schlugen lange Eisenhaken in das Holz und rollten die Stämme in eine stabile Position. Löste sich einer aus der Verankerung, brach sich eine donnernde Brandung ihren Weg und die massigen Baumstammdepots fielen wie Mikadostäbe in sich zusammen. Wenn sie Nachschub für die Säge brauchten, ließen die Arbeiter die Stämme absichtlich herunterrollen. Wir hörten dann oben das polternde Holzgewitter. Dabei mussten die Männer aufpassen, nicht überrollt oder eingeklemmt zu werden. Wir Siedlungskinder liebten die Hügel aus gefällten Bäumen. Sie zu betreten war uns strengstens verboten, doch nutzten wir jede Abwesenheit der Sägemänner, um die Holzstufen hinauf- und hinunterzuspringen oder einfach darauf zu sitzen, bis wir entdeckt und weggepfiffen wurden.

Geld war in allen Familien der Höglrainsiedlung knapp, das war in den 1960er-Jahren nichts Besonderes, es fiel nicht weiter auf. So merkte ich selten, wie genau bemessen bei uns alles war, außer wenn meine besten Freunde vom Nachbarhaus bei mir spielten und nach einem Apfel aus der Obstschüssel fragten, da sie sich bei uns zuhause fühlten. Dann geriet die Wochenkalkulation meiner Mutter kurz durcheinander. Weniger vertraute Kinder hätten niemals um etwas zu essen gebeten. Oft verboten Eltern ihren Kindern sogar vor einem Besuch, etwas anzunehmen, auch wenn man es ihnen aufdrängen sollte. Da es bei den meisten daheim wenig gab, fürchteten sie, die Gier ihrer Kinder könne sie verraten.

Hinter unserem Wohnblock stand etwas abgesetzt ein Haus, in dem die Zigeunergroßfamilie der Kogler sesshaft geworden war. Entlang der Ache besaßen sie noch einige Wohnwagen und auf einem Teil des Geländes befand sich eine Halde, wo der Clanchef Schrott sammelte und verkaufte. Bei uns am Hof nannte man sie nur abfällig die „Koarner“. Ich war lange überzeugt, das sei ein Tiroler Ausdruck für „Abschaum“, was auch irgendwie stimmt, bis ich lernte, dass damit eigentlich die Karrner, das fahrende Volk, gemeint waren.

Die Bewohner der Höglrainsiedlung und die Kogler, die offiziell zur Siedlung gehörten, ignorierten sich gegenseitig, so gut es ging. Die Asphaltstraße rund um die Mietshäuser bildete eine Abgrenzung zum Koglerhaus. Jedes Mal, wenn eines ihrer Kinder unseren Hof betrat, wurde es von unseren Buben mit Steinen verjagt. Wir bekamen auch manchmal eine Ladung ab, wenn wir uns auf ihr Territorium wagten, doch waren sie in der schwächeren Position, denn der öffentliche Weg entlang der Ache führte an ihrem Gebiet vorbei und so konnten sie nur gelegentliche Angriffe lancieren.

Als ich fünf Jahre alt war, taten sich die Frauen der Höglrainmühle kurz vor Weihnachten zusammen und sammelten Lebensmittel, Kleidung und etwas Geld für eine Frau der Koglersippe, die allein für ihre kleinen Kinder sorgen musste, da ihr Mann gerade im Gefängnis saß. Ich sollte bei der Übergabe der Sachen den Umschlag mit dem Geld überreichen und man schärfte mir ein: „Du musst sagen: alles Gute zu Weihnachten.“ Heimlich genoss ich, unter diesem Vorwand endlich in das verbotene Haus zu gelangen, und als ich beim Reingehen in den dunklen Flur vorsichtig nach links und rechts lugte, war ich erstaunt, wie schüchtern und freundlich uns die Leute dort begrüßten. Der Frau selbst war es unangenehm, so bedürftig zu erscheinen, und zugleich spürte ich ihre Erleichterung über die wohl dringend benötigten Gaben und die Zuwendung der Nachbarinnen. Sie erschien mir wie ein hübsches Mädchen, das früh müde geworden ist. Ihr Gesicht war bleich und wie durchsichtig, eingerahmt von schulterlangen schwarzen Haaren. Wenn ich ihr auf der Straße begegnete, hatte sie immer einen abwesenden Blick, den sie dann kurz zu einem leicht erschreckten, freundlichen Nicken sammelte. Es kam traurig von weit her. Ich trat nun mit dem Umschlag vor sie hin und sagte angestrengt: „Alles Gute zum Geburtstag!“ Da habe ich ihre Augen das einzige Mal lachen sehen.

Der Hof vor unseren Häusern war zur Hälfte asphaltiert und begrenzt von Garagen, der Rest bestand aus einem Zierrasen, dem Heiligtum des Hausmeisters, und einem Platz festgetretener Erde mit vereinzelt hartnäckigen Grasflecken, auf dem wir im Sommer fast täglich Völkerball spielten. Am Rand einer kleinen Böschung standen zwei große Bäume, deren Stämme sich idealerweise in derselben Höhe gabelten. Dazwischen hatten einige Väter, die ja auf dem Holzplatz arbeiteten, einen langen Baumstamm gelegt und Schrauben für Schaukeln hineingedreht. Sechs oder sieben solche „Hutschen“ reihten sich so aneinander. Dahinter erhebt sich fast senkrecht der Höglrain und begrenzt die Siedlung im Westen. Richtung Norden führt der Blick zum Massiv des Wilden Kaisers, auf immer schlafend hingestreckt mit seinen langen, fließenden Haaren aus Stein und den auf der Brust gefalteten Händen. Jedenfalls dann, wenn man das in der Silhouette der mächtigen Gebirgskette erkennen will.

Wir waren etwa zwanzig Kinder der Höglrainsiedlung, sobald ein Kind laufen konnte, gehörte es dazu. Die älteren Halbwüchsigen gingen bereits eigene Wege und gesellten sich nur selten zu uns. So hatten wir keinen Anführer, die Buben gaben abwechselnd den Ton an, je nachdem, wer gerade eine Idee hatte. Oft ging es dabei um Mutproben. Mädchen wurden zu Buben, sobald sie den Hof betraten, die Puppen blieben oben in ihren Stuben.

Wir wuchsen in einem Klima von Schuld und Sühne auf, ohne uns dessen bewusst zu sein. Dabei verführten wir uns gegenseitig zu immer neuen Versuchungen, wie um den Spielraum auszureizen, bis die Strafe über uns hereinbrechen würde. Kinder zu schlagen gehörte damals zur Erziehung. Auch die Kinder anderer Leute wurden schon mal geohrfeigt, wenn sie es nach Ansicht der Erwachsenen verdient hatten. Manchmal hörte ich abends die Buben einer Familie im Erdgeschoß unseres Hauses schreien, wenn ihre Mutter sie mit dem Gürtel verdrosch. Der Vater saß wegen Einbruch ein und die drei Söhne führten, jeder auf seine Art, auch oft etwas im Schilde. Schläge und Geschrei waren das einzige Mittel ihrer Mutter, sich durchzusetzen. Strafe war allgegenwärtig und willkürlich, wir hatten uns daran gewöhnt und integrierten sie in unser Spiel. Dabei wurde der Hausmeister der Höglrainmühle unser wichtigster Mitspieler. Er selbst sah seine Aufgabe vor allem darin, die Bewohner mit Verboten und Anordnungen zu schikanieren. Blasius Salvenmoser, hinter seinem Rücken nur Blasi genannt, arbeitete zwar eigentlich als Kitzbüheler Vertreter einer Versicherung, schaffte es aber irgendwie, ständig präsent zu sein auf dem Hof oder hinter den Garagen, wo er Kaninchen züchtete. Er besaß einen inneren Radar, der sofort anschlug, wenn einer von uns seinen Rasen betrat. Sofort schoss er aus dem Haus oder um die Ecke und schrie den Missetäter minutenlang nieder. Sein Gesicht färbte sich dann schlagartig krebsrot und hob sich leuchtend von dem Dunkelgrau seines Hausmeisterkittels ab. Bekam er einen Burschen als vermeintlichen Übeltäter zu fassen, setzte es zu „Sakradi, ehs nixnutzign Fratzn ehs!“ eine saftige Watschen. Bei Mädchen beschränkte er sich aufs Brüllen. Wenn uns langweilig war, machten wir uns einen Spaß daraus, mit einem Fuß auf den Rasen und wieder herunter zu hüpfen. Im Lauf der Jahre erschöpfte Blasi das viele Schreien. Also erklärte er das gepflegte Grün, das er hingebungsvoll mähte, zur Liegewiese für die Erwachsenen und stellte seinen Liegestuhl unter die drei dünnen Birken in der Mitte.

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