Streitbare Nachtigall
Es passiert mir oft, dass Leute in Geschäften zu mir kommen
und mir ins Ohr flüstern: »Ich bin auf Ihrer Seite!«
Ich sage dann immer: »Danke, freut mich,
aber dann sagen Sie’s bitte etwas lauter,
damit es alle hören können.«
Als blutjunge, engagierte Studentin stand sie auf den kleinen Bühnen der Ostküstenstädte der USA, beteiligte sich an alternativen Festivals, machte an progressiven Unis von sich reden und spielte als vielversprechendes Folk-Talent bereits ihre ersten Platten ein. Sie lehnte sich, eher im Stillen, gegen die Bequemlichkeit und den Konformismus einer passiven, schweigenden Mehrheit auf, indem sie ein paar jahrhundertealte, melancholische Balladen ausgrub und in Coffeeshops zum Besten gab. Sie wurde kurzerhand zum Star erklärt, nachdem sie an einem regnerischen Juli-Tag, mit nassem Haar und schlammbedeckten Füßen in »Gladiatoren«-Sandalen, vor dreizehntausend Menschen einige Lieder sang. Sie wandte sich, als sei es ihre Bestimmung, ihr ganzes weiteres Leben lang friedenshungrigen Menschen zu, und sie wandelte sich bereits zur künstlerischen Aktivistin, als der Beat noch in den Kinderschuhen steckte, die Geburtsstunde der Fab Four und der Rolling Stones auf sich warten ließ und kein Ende des Kalten Krieges abzusehen war.
Die rebellischen, unangepassten und antiautoritären Sixties prägte sie maßgeblich als Wortführerin und Mahnerin, als Songpoetin und Pasionaria – wie außer ihr nur noch Bob Dylan, dessen Karriere sie nachhaltig förderte und dem sie auch privat sehr nahekam. Dieser so überaus kreativen und experimentellen, obrigkeitskritischen und vor allem politisch brisanten Dekade, deren Akteure sich die kühnen, provokativen Forderungen des Anti-Establishments wie auch die naiven, hedonistischen Träume der Blumenkinder-Generation auf die Fahnen geschrieben hatten, lieh sie eine markante, einzigartig schöne und noch dazu unverwechselbare Stimme. Und sie schenkte diesem Jahrzehnt schon damals eine Handvoll Lieder (»im Volkston«), deren Kultstatus inzwischen unangefochten ist und die sie mit kultiviertem, schnörkellosem Gesang, betörender Lauterkeit und großer Ernsthaftigkeit einem immer größer werdenden Publikum vortrug.
Sie stellte sich in den Dienst ihrer Texte. Ihre Konzerte verstand sie weniger als Entertainment denn als Aufruf zu geschärftem Bewusstsein und zu absoluter Gewaltlosigkeit, als aktiven Beitrag zur gesellschaftlichen Veränderung. Als Appell an wirklich mündige Bürger.
In den Siebzigern gestattete sie sich, längst zum Idol erklärt und mit stetig wachsendem Repertoire, Ausflüge in Richtung Country und Pop. Und reifte rasch zur ernstzunehmenden, vielseitigen Musikerin, ja zur Liedermacherin der Sonderklasse und zur international gefeierten Berühmtheit, deren aufrüttelnden Botschaften man Gehör schenkte – zumal, wenn sie als furchtlose Friedensbotschafterin in Hanoi inmitten verheerender Luftbombardements durch ihre eigenen Landsleute große Gefahren auf sich nahm. Oder wenn sie den Völkermord in Bangladesch wie die Menschenrechtsverletzungen der kommunistischen Regierung Vietnams ohne Rücksicht auf nationale Empfindlichkeiten schonungslos anprangerte.
Zeitlebens zeigte sie Solidarität, etwa bei ihrem Auftritt beim legendären Marsch auf Washington, bei der Verteidigung schutzloser schwarzer Schulkinder oder bei der Unterstützung inhaftierter Kriegsdienstverweigerer. Und sie stellte wieder und wieder ihren Mut unter Beweis, als sie Arm in Arm mit Martin Luther King im Bundesstaat Mississippi staatlichen Autoritäten die Stirn bot oder, als Vorkämpferin für die Aufhebung der Rassentrennung, Seite an Seite mit James Baldwin und Harry Belafonte an den Märschen von Selma nach Montgomery teilnahm.
Mit derselben Selbstverständlichkeit setzte sie sich für Lech Wałęsa und streikende kalifornische Bauern ein wie für zu Unrecht Inhaftierte, für Hungerstreikende, Revolutionäre oder für die unterversorgte kambodschanische Landbevölkerung. Sie hatte sich dafür gewappnet: Ihre Munition war die hochkarätige Lyrik ihrer Vorbilder und Mitstreiter; als Arsenal standen ihr, mit Folksongs aus den Appalachen und den bewährten, von Francis James Child gesammelten Balladen aus früheren Epochen,1 qualitativ hochrangige Americana und die gesamte englisch-schottische Volksliedtradition zur Verfügung. Ihre Schlachtfelder waren öffentliche Diskussionen, Demos und Musikbühnen, die Schulhöfe der Südstaaten, Gefängnistore, Flüchtlingslager und die Straßen der USA. »Pazifist zu sein bedeutet, aktiv und aggressiv zu sein«, über »eine Kämpfernatur« zu verfügen, so definierte sie ihre Haltung unmissverständlich – Pazifismus bedeute aber nichts weniger als Passivität. Baez wünschte stets all das einzusetzen, was sie auch beherrschte: »vom kühlen Verstand bis zum Humor«. Ihre Gabe, wie sie die Natur ihr verlieh – ohne eigenes Zutun – ist zugleich ihre schärfste Waffe: »Ich mache von meiner Stimme Gebrauch.«
Politische Führungs- und Ausnahmegestalten wie Václav Havel und François Mitterrand brachten ihr, dieser streitlustigen Amazone im Gewand einer Sängerin, auch öffentlich, größte Bewunderung entgegen, und sie zollte ihrerseits monumentalen Persönlichkeiten der Zeit- und Musikgeschichte wie Nelson Mandela oder Mercedes Sosa Respekt. Jimmy Carter schickte auf ihr Geheiß eine ganze Flotte der US Navy ins Südchinesische Meer und brachte sie in Stellung, um Menschenleben zu retten. Sämtliche Begegnungen mit den Großen dieser Welt absolvierte sie mit frappierender Souveränität und ohne Minderwertigkeitskomplexe. Ohne auch nur im Geringsten aufzutrumpfen, gelang es ihr im Verlauf ihres Bühnenlebens und ihrer politisch aktiven Phase, (Willens-)Stärke und Authentizität, Kultur und Charakterstärke, Esprit und Feminität glaubwürdig in einer Person zu vereinen.
Und selbst heutzutage – in einer Zeit, da die Studentenbewegung, die guten alten Ideale von Love & Peace und der Vietnamkrieg längst der Vergangenheit angehören, in einer im Medienstrudel und Dauerchat versinkenden Welt, die um David Bowie trauert und vor Donald Trump zittert, die Hunderttausenden von Flüchtlingen kein sicheres Zuhause bieten kann und zugleich von Terrorattacken nie gekannten Ausmaßes erschüttert wird – zieht sie auch weiterhin mit ihrer Gitarre und ihren zeitlosen Songs von Freiheit, Frieden und sozialer Gerechtigkeit unbeirrt von Land zu Land. Und erweist sich damit als Garantin.
Nie ließ sie sich vereinnahmen, nie gab sie sich parteiisch, nie saß sie – die »Stimme des Protests« schlechthin – einer Ideologie auf. Nie wurde sie müde, ihre Maxime »Ich trage keine Scheuklappen« zu wiederholen, angesichts der Anfeindungen durch hartnäckige Kritiker. Man warf ihr Blauäugigkeit und politische Ahnungslosigkeit vor; man beschuldigte sie, sich im Blitzlichtgewitter internationaler Kriegsschauplätze zu sonnen und sich an Stätten des Leidens wirkungsvoll in Szene zu setzen. Man konnte ihre Kompromisslosigkeit gelegentlich mit Starrsinn oder Besserwisserei verwechseln. Auf solche Anwürfe antwortete sie mit noch mehr Präsenz. Mit Gelassenheit und mit weiteren sozialkritischen Liedern. Sie war sich ihrer Sache sicher. Glaubte standhaft an die Macht der Töne. Als Heilige wurde sie verehrt, als Heulsuse geschmäht.
Einigen war ihr Gesangsstil, der sich eher an den Tugenden klassischer Liedsängerinnen und Opernsoprane orientierte als am rauen Sound von Bluesinterpretinnen oder dem virtuosen Scat synkopierender Jazz-Diven, zuwider – zuweilen wurde ihr Dauer-Vibrato oder vorgeblich »permanentes Tremolieren« gar als »Geplärre« herabgesetzt. Doch Anfeindungen, seien sie nun ästhetischer Natur oder dogmatisch begründet, wie übertriebener Starkult oder Vergötterung beeindruckten sie kaum. Alles, was letztlich zählte, war ihr Einsatz für die Benachteiligten dieser Erde, bedingungslose Friedfertigkeit ihr wichtigstes Anliegen – und ein immerwährender, unermüdlicher Kampf um dessen Durchsetzung. Ausnahmslos mit rein künstlerischen Mitteln ausgefochten. Denn schließlich hatte sie schon als Schülerin und Jugendliche Prinzipien des zivilen Ungehorsams zur Tugend erhoben.
Die beispiellose Laufbahn von Joan Chandos Baez, der musikalischen Galionsfigur der Bürgerrechtsbewegung, der moralischen Geradlinigkeit, des uneingeschränkten Pazifismus und der US-amerikanischen Gegenkultur, umspannt mittlerweile annähernd sechzig Jahre, und unlängst, am 9. Januar 2017, mit erstaunlich geringem Medienecho auf beiden Seiten des Atlantiks und auch hierzulande, vollendete sie ihr 76. Lebensjahr.
Allein das wäre schon Grund genug, sie, die Grande Dame des Protestsongs, die Unbestechliche und Unbequeme, die Vokalistin mit dem kristallklaren Timbre und die Jahrhundertfigur mit den aparten mexikanisch-indianischen Zügen, ausgiebig zu beleuchten, angemessen zu würdigen und, in...