State of Trance Festival, Utrecht
Der 27. Februar ist ein gewöhnlicher Tag. Ein Samstag. Ein eher langweiliger Tag, ohne Paul; ich ordne Unterlagen. In unserem Appartement in Los Angeles. Mein Kopf ist voll von der bevorstehenden Reise nach Mexiko, übermorgen schon, wo er mich beim letzten Mal gefragt hat, ob ich ihn heiraten würde. »Margarita und Paul« – ein schönes Gefühl. Wir sind jetzt seit einem Monat verlobt.
Allerdings irritiert mich etwas. Und zwar meine Unruhe.
Nicht wegen der unzähligen Details, die bei einer Hochzeit im Vorfeld zu klären sind, nein, es ist etwas anderes, eher unbestimmt. Und dieses Nicht-Greifbare beschäftigt mich. Ich bin sehr sensitiv für solche Erscheinungen; und ich habe schlecht geschlafen. Schon seit einigen Tagen habe ich Albträume. Sehr dunkel alles, kaum konkrete Bilder. Ich wache morgens auf und fühle mich gerädert und nervös. Zudem gibt es seit einigen Tagen eine ungewöhnliche Häufung von Zufällen, an beinahe jeder Ecke, überall dort, wo Paul und ich herumschlendern. Das Ganze ist derart auffällig, als ob etwas Schlimmes in der Luft läge.
Was ist mit LA los?
»Sei vorsichtig«, habe ich deshalb heute Morgen zu Paul gesagt, als wir uns an der Haustür verabschiedeten. Dieses Konzert in Holland ist einer der seltenen Auftritte, bei denen ich nicht dabei bin.
Mit einem charmanten Lachen sagte er zu mir, ich solle mir keine Sorgen machen und wir könnten jederzeit telefonieren.
Wir haben uns an der Tür geküsst, ein wenig geweint, wie meist, wenn wir uns trennen müssen; da ist eine Innigkeit zwischen uns beiden, die Außenstehende nicht immer begreifen. Paul und ich teilen alle Geheimnisse, wir sind miteinander vertraut, wie ich das vorher noch nie mit einem Menschen erlebt habe. 24/7, wie es heute gern heißt, immer zusammen, Tag und Nacht, Stunde für Stunde, Minute für Minute. Haut an Haut. Und das auch noch mit Absicht, voller Verlangen. Grausam allein die Vorstellung, meinen Tag ohne Paul zu beginnen oder ohne ihn ins Bett gehen zu müssen. Ich vermisse ihn jede Sekunde, die wir nicht zusammen verbringen.
Der Tag darauf brachte eine weitere Reihe an bizarren Vorfällen, aber ich beschloss, ihnen nicht allzu viel Aufmerksamkeit zu schenken und mich stattdessen auf die Dinge zu konzentrieren, die ich zu tun hatte.
Am Abend, als er anruft, bin ich unterwegs, ich erinnere mich genau an seine Worte: »Ich gehe jetzt auf die Bühne, ich rufe dich später noch mal an, wenn ich mit der Show fertig bin.«
»Ich liebe dich«, antworte ich.
Zurück in meiner Wohnung, bereite ich mir ein Tiefkühlgericht zu und öffne meinen Laptop, um mir dabei den Livestream von Pauls Auftritt anzusehen. Heute passt es aufgrund der Zeitverschiebung, und ich sehe ihm zu. Es ist das Übliche. Er spielt seine Musik. Eine grandiose Atmosphäre. Er geht vor die Bühne.
Das Übliche.
Aber er ist plötzlich verschwunden.
Wo ist er hin? Warum zeigt die Kamera ihn nicht?
Leere.
Bei einem schweren Schädel-Hirn-Trauma, einer Gehirnquetschung, dauert die Bewusstlosigkeit länger als 60 Minuten, verursacht durch Einklemmung des Gehirns durch Blutungen. Das ist ein medizinischer Ausdruck.
Ansonsten fühlt ein Mensch im komatösen Zustand nichts.
Er denkt nicht, er fühlt nicht; er atmet.
Er fragt nicht einmal: Wo bin ich?
Das Gehirn ist vollständig von Knochen umgeben. Als Schutz. Aber infolge der Einklemmung wird genau das zur Gefahr, da das Gehirn unter dem Druckanstieg leidet. Die Folge ist ein Koma. Zur Entlastung wird oft die Entfernung eines Teils der Schädeldecke angewandt. Dauerhafte Hirnverletzungen gelten als wahrscheinlich.
Leere.
Paul ist nicht zu sehen. Es passiert nichts.
Aber seine Musik hämmert unverändert weiter. Wenn es ein technisches Problem gäbe, dann müsste doch auch die Musik verstummen! Aus meiner Kameraperspektive sehe ich nur einen dunklen Saal.
Ich suche mein Handy auf dem Wohnzimmerschrank und wähle die Nummer des Tour-Managers.
Keine Reaktion.
Plötzlich stoppt die Musik.
Dunkelheit. Und: Stille.
Die ersten Pfiffe ertönen im Saal.
Es ist eine grausame Stille. Beängstigend. Und wieder frage ich mich, warum die Musik die ganze Zeit weitergelaufen ist, wenn es ein technisches Problem gegeben haben sollte.
Die ersten Kommentare trudeln ein, in einer Spalte neben dem Livestream: Er ist gefallen! Paul ist gestürzt!
Mein Herz schlägt wie irre. Wieder rufe in den Tour-Manager an (ergebnislos), schreibe ihm eine SMS, er solle bitte, bitte zurückrufen. Nichts. Die Kommentare werden zahlreicher, aber offensichtlich weiß niemand wirklich Bescheid, was passiert ist. Ich poste ebenfalls: Wenn jemand gerade in dem Saal in Utrecht ist, bitte, meldet euch!
Mein Atem geht schnell und hektisch. Okay, denke ich und versuche mich zu beruhigen, Paul ist vermutlich gestolpert, vielleicht hingefallen, möglicherweise hat er sich den Fuß angeknackst. Schlimmstenfalls sogar gebrochen. Oder auch eine Hand. Was ärgerlicher wäre. Ich bete zu Gott, dass es nichts Schlimmes ist.
Aber niemand meldet sich.
Was ist los?
Es dauert eine Ewigkeit, bis tatsächlich der Tour-Manager zurückruft. Ohne Begrüßung. Seine einzige Frage lautet: »Hat Paul irgendwelche Medikamente genommen?«
Ich verstehe nicht. Paul hatte eine Erkältung, ja, deshalb habe ich ihm einige rezeptfreie Medikamente eingepackt, gegen Schnupfen, Fieber, gegen Kopfschmerzen. Mir fällt unser Treffen morgen ein und dass Paul doch gleich, um sechs Uhr mitteleuropäischer Zeit, zum Flughafen nach Amsterdam aufbrechen muss. »Was ist denn los?«
»Ich rufe dich zurück«, sagt er.
»Du musst mir sagen, was los ist. Wo ist Paul? Ich habe versucht, ihn auf seinem Handy zu erreichen, es ist ausgeschaltet.«
Schweigen.
»Ich rufe dich zurück …«
Mir bleibt also nichts anderes übrig, als zu warten.
In Utrecht, sehe ich im Livestream, greift mittlerweile Armin van Buuren, der Gastgeber des Abends, ein Mikrofon und sagt: »Paul ist von der Bühne gefallen.« Er spricht weiter, erschrocken, wie mir scheint, ehe er noch sagt: »Aus Respekt vor Paul werden wir jetzt aufhören.«
Ich wähle mir die Finger wund und rufe so ziemlich jede Person an, die meiner Meinung nach Auskunft geben könnte. Aber niemand antwortet.
Irgendwann erreiche ich Pauls Booking Agent. »Was ist passiert? Irgendjemand muss mir sagen, was los ist!«
»Ähm …« Langes Schweigen. »Paul ist auf dem Weg ins Krankenhaus … Aber keine Sorge, alles ist gut.«
»Was? Was hat er denn?«, frage ich heiser.
»Ähm … Ich muss hier noch ein paar Dinge organisieren, lass uns später telefonieren.« Pauls Agent ist Engländer. Er redet sehr schnell, mit starkem Akzent, was er sonst nie tut. Ich verstehe kaum ein Wort, aber ich spüre an dieser Erregung, dass nichts normal ist. Ohne mir wirklich vorstellen zu können, dass etwas Schlimmes passiert ist. Nein!
Ich muss wieder warten. Und warten.
Und während ich warte, ist es, als ob Tausende von Nadeln mich am ganzen Körper stechen und ich gleichzeitig von einer unsichtbaren Anakonda gewürgt werde, sodass ich nicht mehr atmen kann. Ich kann keinen klaren Gedanken fassen, weiß nicht, was passiert ist, innerhalb einer Minute änderte sich alles von Normalzustand in Unsicherheit. Paul ist auf dem Weg ins Krankenhaus und musste seine Show abbrechen – das ist nicht normal! Er ist zu professionell, als dass er auch nur in Erwägung zöge, seinen Job nicht zu machen, was immer ihn auch beeinträchtigt. Selbst wenn er seine Hand oder seinen Fuß bräche, würde er weiterspielen. Das ist einfach Paul. Was könnte passiert sein?
Auf Pauls Facebook-Seite schaukeln sich mittlerweile verärgerte Kommentare hoch, weil die Show abgebrochen wurde. Mit grausamem Unterton. Paul van Dead, schreibt jemand. Lachende Smileys, Hahaha, als ich das lese, raste ich aus. Ich beschimpfe die Kommentatoren, bin völlig außer mir.
Mach das nicht. Ein Freund setzt ebenfalls einen Kommentar ab und rät mir dringend, mich aus dem Netz zu klinken und auf diese »Kommunikation« mit hämischen Fremden zu verzichten. Es zieht dich nur runter. Das ist auch alles richtig, aber was soll ich denn anstelle dessen tun? Warum geht Paul nicht ans Telefon?
Keine...