Kapitel 1
Was ist Religiosität oder Gesetzlichkeit?
Die meisten Menschen verstehen unter „religiös sein“, dass man an einen Schöpfer glaubt oder zumindest, dass es eine höhere Macht gibt, irgendwo im Universum; manche sprechen gar von Gott und geben sich Mühe, sich mit ihm zu arrangieren. Man kann es auch Frömmigkeit nennen; fromme Leute sind „gläubig“, „gottergeben“, „gottesfürchtig“.
So verstanden, ist Religiosität ja erst mal nicht verkehrt. An einen Gott zu glauben ist nicht schlecht. Es ist besser, an Gott zu glauben, als nicht an ihn zu glauben, und eine gesunde Gottergebenheit ist durchaus löblich. Leider legen viele Leute kaum mehr Wert darauf, das zu tun, worüber Gott sich freut, oder zumindest das Richtige zu tun und das Verkehrte bleibenzulassen. Eine gesunde Art Gottesfurcht zu haben ist also auch gut!
Was soll daran so schlimm sein?
Doch in den letzten Jahrzehnten hat das Wort „Religiosität“ noch eine andere Bedeutung bekommen, einen Bedeutungswandel erlebt. In vielen christlichen Kreisen will man nicht mehr religiös sein, alles, nur das nicht. „Religion“, „religiös“ oder „Religiosität“ – davon
distanziert man sich ausdrücklich, diese Wörter werden abfällig gebraucht, sie sind zu einer Art Schimpfwort geworden.
Wie kann das sein?
Religion, Religiosität ist heutzutage ein Synonym für „Gesetzlichkeit“.
Gesetzlichkeit fügt dem Wort Gottes noch Menschengebote und Zusatzregelungen hinzu, von denen Gott nie etwas gesagt hat: Die Freiheit, zu der Christus uns befreit hat, wird eingeschränkt.
Und das nun ist gar nichts Neues. Schon Jesus hat den überaus gesetzlichen Pharisäern klargemacht, dass er von ihrer Haltung und ihren Handlungen nichts hielt:
Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr den Zehnten gebt von Minze, Dill und Kümmel und lasst das Wichtigste im Gesetz beiseite, nämlich das Recht, die Barmherzigkeit und den Glauben! Doch dies sollte man tun und jenes nicht lassen.
Matthäus 23,23
Gesetzlichkeit erkennen
Wenn nun Religiosität, Gesetzlichkeit so schlimm ist, dass Jesus sie so klar verurteilt, woran kann man sie dann erkennen?
Gesetzlichkeit schafft neue Gesetze innerhalb der Gebote Gottes.
Zum Beispiel behauptet sie, dass ein Christ keinen Fernseher haben darf. Warum dieser Verzicht? Weil Fernsehen zur Sünde verleite und Zeit fresse, die man doch viel besser nutzen könnte. Dieses Gesetz, diese Zusatzregelung soll also helfen, einen Schutzraum zu bauen, in dem man möglichst wenig Gelegenheit zur Sünde hat.
Gesetzlichkeit bedeutet, dass man klare Regeln einhält und darin eine gewisse Sicherheit findet. Gesetzlichkeit hat einfache, klare Regeln nach dem Wenn-dann-Prinzip: „Wenn ich lieb bin, segnet Gott mich. Wenn ich böse war, segnet Gott mich nicht, im Gegenteil, er bestraft mich“ (angeblich bleibt ihm gar nichts anderes übrig) – und schon fängt man an, Gewissenserforschung zu betreiben und nach Sünde in seinem Leben zu suchen!
Meine Oma sagte immer zu mir: „Die Strafe folgt auf dem Fuße!“ Wenn mir etwas Schlechtes passierte, zum Beispiel dass ich mir den Kopf anstieß, oder ich hatte etwas verloren, dann war das die Strafe Gottes für etwas, was ich vorher falsch gemacht hatte. Dieses Denkmuster brannte sich in meinem Kopf ein. Klare Regel: Wenn man nichts falsch macht, gibt es auch keine Strafe. Wenn man aber etwas falsch macht, dann folgt die Strafe auf dem Fuß!
Gesetzlichkeit und Religiosität gründen sich auf „Leistung und Gegenleistung“: Gott erwartet eine Leistung von mir und ist dann auch geneigt, mich zu segnen – oder, wenn ich seinen angeblichen Ansprüchen nicht Genüge getan habe, dann eben nicht. Wenn es in diesem
System Gnade und Barmherzigkeit überhaupt gibt, dann wird ihnen nur ein winzig kleiner Raum zugestanden.
Lieblingswörter
Wer zu Gesetzlichkeit neigt, legt Wert auf Wörter wie „biblisch“ oder „schriftgemäß“, „ordnungsgemäß“ und „vorschriftsmäßig“, „dem Gesetz entsprechend“, „nicht gesetzwidrig“.
Weitere Lieblingswörter der Gesetzlichkeit sind:
• Gehorsam: „Wenn du nicht gehorsam bist, dann …“
• Demut: „Wenn du nicht demütig bist, dann …“
• Disziplin: „Wenn du dich gehen lässt, dann …“
• Fleiß: „Wenn du nicht hart an dir arbeitest, dann …“ (Vielleicht ist die Konsequenz auch nur, dass Gott mich dann nicht gebrauchen kann, keine Freude an mir hat.)
• Gebote: „Wenn du nicht seine Gebote hältst, dann …“
• Buße: „… und wenn du dann nicht Buße tust, dann …“
• Strafe: „… dann wird Gott dich bestrafen!“
• Welt (Alles, was als „weltlich“ gilt, muss gemieden werden.)
„Strafe muss sein“
Gesetzlichkeit denkt immer über die Konsequenzen für das Verhalten nach. Das Denken kreist um die Frage, was der Herr von uns erwarten könnte und was wir nicht erfüllt haben oder auch nur vielleicht nicht erfüllt haben. Man erwartet schon die nächste Ermahnung, die nächste Strafe (gern auch „Züchtigung“, Erziehungsmaßnahme genannt).
Ich habe es oft miterlebt: Glaubensgeschwister waren in Sünde gefallen – und „mussten“ bestraft werden. Dabei interessierte es keinen, ob sie Gott bereits um Vergebung gebeten und die Sache in Ordnung gebracht hatten: sie mussten für ihre Sünde büßen, ohne Strafe geht es nicht! Also durften diese „Sünder“ jahrelang nicht mitarbeiten, mussten in der letzten Reihe sitzen, und während einer gewissen „Bußzeit“ durften sie auch nicht am Abendmahl teilnehmen. Das steht so nicht in der Bibel, und Gott sei Dank wird das auch nicht in allen Gemeinden so gehandhabt.
Gesetzlichkeit = Gottes Gebote wichtiger als Liebe und Barmherzigkeit
Gesetzlichkeit stellt Gottes Gebote über seine Liebe und Barmherzigkeit. Sie denkt wie die Pharisäer: Am Sabbat wird nicht geheilt! Das Gesetz ist wichtiger als der Mensch. Das Gesetz ist wichtiger als die Liebe.
Doch Gott sei Dank hat Jesus sich durchgesetzt; wie wir alle wissen, hat er Liebe über das Gesetz gestellt. Seine Liebe hat über das Gesetz hinaus am Sabbat geheilt. Er sagte: „Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen“ (Markus 2,27).
In anderen Worten: Das Gesetz ist um des Menschen willen geschaffen worden, nicht der Mensch wurde geschaffen, um das Gesetz zu halten. Und Liebe und Barmherzigkeit stehen immer über dem Gesetz.
Verboten oder erlaubt?
Die Devise der Gesetzlichkeit lautet: Alles, was verboten ist, ist nicht erlaubt; aber darüber hinaus, als Zusatzregel, gilt: Alles, was nicht ausdrücklich erlaubt ist, ist verboten. Das Tanzen zum Beispiel. Dazu mehr in Kapitel 5.
Mit Argusaugen
Wenn jemand oder eine ganze Gruppe gesetzlich ist, kann man das auch daran erkennen, dass sie wie mit Argusaugen darauf achten, dass auch die anderen die Gesetze und Gebote befolgen, oder ob sie vielleicht irgendetwas falsch machen.
Gesetzlichkeit macht sich viele Gedanken darüber, wie sie den „irrenden Geschwistern“ ihren Irrtum oder Fehltritt anhand von Bibelversen klarmachen und sie zur Buße bewegen kann; mindestens bis zu diesem Erfolg werden sie aber verurteilt.
Wenn man es richtig macht, dann hat man Gottes Segen verdient. So weit, so gut? Naja, Gesetzlichkeit hat nichts zu verschenken und gönnt sich auch selbst nichts, aber wenn andere gesegnet sind, melden sich oft Neid und Missgunst: „So unheilig wie der lebt, warum geht es dem so gut? Warum zieht Gott ihn nicht zur Rechenschaft? Stattdessen lässt er zu, dass er so viel Erfolg hat!“
Vor den Richterstuhl Christi
Und wenn andere sich „Freiheiten“ herausnehmen, die die Gesetzlichkeit selbst sich nicht gestattet, dann kann sie noch ganz andere
Saiten aufziehen! Am liebsten würde sie solche „Falschverhalter“ und „Frevler“ umgehend vor den Richterstuhl Christi zerren!
Allerdings hat sie kein großes Bedürfnis, als Angeklagter vor selbigem zu stehen, nein, davor hat sie große Angst! Angst ist für sie ein mächtiger Beweggrund, etwas zu tun oder aber zu lassen. Zum Beispiel die Angst, man hätte sich nicht genügend angestrengt für den Herrn, sich noch nicht richtig bemüht, ein wahrhaft christliches Leben zu führen, die Angst, man könne den Ansprüchen Gottes nicht gerecht werden.
Also fasst man gute Vorsätze – man überlegt sich Strategien, wie man sich dazu bringen könnte, dies und das zu tun, um dem Herrn näher zu sein, ihm (noch) mehr zu gefallen: man stellt den Wecker eine Stunde früher, um mehr in der Bibel zu lesen und mehr zu beten. Oder man spendet mehr, mehr Geld oder auch mehr Zeit – man übernimmt noch einen Dienst in der Gemeinde.
Aus eigener Kraft
Gesetzlichkeit hat ein ehrbares Gesicht, sie tritt leise auf und ist schwer zu erkennen. Sie versteckt sich hinter dem Vorwand, dass man doch ein guter Christ sein möchte; schließlich habe der Herr selber gesagt, man solle sich gut benehmen; man achte auf einen guten Ruf und solle ein Brief Christi sein.
Natürlich, all das ist wahr. Die Frage ist nur: Wie bewerkstelligt...