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Pfeif drauf - morgen hast du's eh vergessen!

Vom Vergnügen, entspannt alt zu werden

AutorJürgen Brater
Verlagriva Verlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl208 Seiten
ISBN9783959719759
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
Endlich Zeit für den eigenen Garten. Oder für ausgiebige Urlaube, unabhängig von allen Ferienzeiten. Und lange, nette Weinabende mit guten Freunden - wann immer Sie Lust darauf haben! Moment - das klingt so gar nicht nach Ihrem Alltag jenseits der 60? Weil Sie viel zu sehr damit beschäftigt sind, ermüdende Gespräche über Krankheiten zu führen oder mal wieder auf die Enkel aufzupassen, weil deren Eltern 'ganz spontan' etwas dazwischengekommen ist? Schluss damit! Lassen Sie sich von Jürgen Brater in den Ruhestand führen, von dem Sie immer geträumt haben. Pfeifen Sie auf Jammer-Else, sozialen Dauereinsatz und Faltenfreiheit. Denn wenn jetzt nicht der richtige Zeitpunkt ist, das Leben zu genießen - wann denn dann?! Es ist nur ein kleiner Schritt zu einem gelassenen, vergnügten Älterwerden.

Jürgen Brater war lange Zeit als Zahnarzt tätig, bevor es ihn anschließend in die Lehre verschlug. Er ist zudem erfolgreicher Autor und verfasste unter anderem die Bücher Keine Ahnung, aber davon viel und Dr. Braters medizinisches Kuriositätenkabinett. Er lebt in Aalen.

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Leseprobe

Schock im Bus


Ich hätte mir über das Älterwerden wohl kaum ernsthaft Gedanken gemacht, wäre da nicht dieser Schock gewesen. Es passierte in einem überfüllten Bus auf der Fahrt von der Innenstadt nach Hause. Ein kurzer Rundumblick hatte mir gezeigt, dass ich, wie so oft, würde stehen müssen. Na gut, sei’s drum. Doch dann! Ein junges Mädchen, vielleicht sechzehn oder siebzehn, lächelt mich freundlich an, steht auf und bietet mir mit einer einladenden Geste ihren Sitzplatz an. Mir! Der ich doch noch vor Kurzem selbst einer gehbehinderten älteren Frau meinen Platz überlassen habe! Schließlich bin ich gerade mal siebzig geworden!

Das mit dem »gerade mal« sehe ich allerdings, das gebe ich zu, erst seit einigen Jahren so. Früher, als Schüler oder Student, war mir zwar klar, dass es Menschen gab, die dieses biblische Alter erreichen, ja, ich kannte sogar den einen oder anderen Methusalem persönlich. Aber dass ich die ominöse Zahl selbst einmal mit mir herumtragen würde, konnte ich mir damals beim besten Willen nicht vorstellen. Und wenn doch, dann verband ich damit einen grenzwertigen Greisenzustand, ein Mehr-tot-als-Lebendig, in dem es nur zwei Dinge, sofern noch nicht geschehen, zu tun galt: sein Testament machen und für ein Grab sorgen. Und zwar schleunigst. Doch mit jedem Jahrzehnt, das ich seit damals überlebte, sah ich die Sache ein wenig anders. Mit vierzig kam ich mir noch irgendwie wie Ende zwanzig vor, mit fünfzig wie Mitte dreißig und mit sechzig wie Anfang vierzig. Wobei – und diese Erfahrung machen wir wohl alle – jedes Jahr und vor allem jedes Jahrzehnt deutlich schneller vergangen ist als das vorausgegangene.

Und mit siebzig? Abgesehen von der eindrucksvollen Zahl hat sich seit meinem letzten runden Geburtstag nichts, aber auch gar nichts geändert. Klar merke ich, dass ich keine Bäume mehr ausreißen kann, mich beim Holzhacken öfter zwischendurch ausruhen muss und ich das, was andere mir zunuscheln, oft nicht mehr auf Anhieb verstehe. Doch auf dieses leidige Thema komme ich später noch ausführlich zu sprechen. Fest steht jedenfalls, dass ich für mein Alter alles in allem noch recht gut beieinander bin. Glaubte ich jedenfalls.

Und dann das! Allein dass eine Jugendliche heutzutage überhaupt noch für einen Älteren auf ihre Sitzgelegenheit verzichtet, hätte ich nie und nimmer für möglich gehalten. Früher, als ich noch jeden Morgen mit der Straßenbahn zur Schule gefahren bin, war das eine Selbstverständlichkeit. Von klein auf hatten uns unsere Eltern eingetrichtert: Ein Kind – wobei »Kind« auch Jungen und Mädchen einschloss, die wir heute Jugendliche nennen –, das in der Bahn sitzt, springt auf der Stelle auf, sobald ein Senior den Wagen betritt. Und zwar auch dann, wenn noch der eine oder andere Platz frei ist. Von denen kann der Hochgeschnellte anschließend ja wieder einen besetzen. Aber zuvor hat er unter allen Umständen dafür zu sorgen, dass der oder die Ältere bei der Abfahrt sitzt. Das war für mich seinerzeit so was von selbstverständlich, dass ich nie und nimmer auf die Idee gekommen wäre, darüber nachzudenken, wie sich der oder die so Beglückte ob der großzügigen Geste fühlte. Ich vermute, lange nicht so bedröppelt wie ich jetzt in dem Bus. Denn mit dem Von-einem-Jugendlichen-den-Platz-angeboten-Bekommen war man seinerzeit spätestens seit dem vierzigsten Geburtstag vertraut, das erwartete man ganz einfach.

Doch bei mir kann weder von Erwartung noch von Mit-der-Situation-vertraut-Sein die Rede sein, wenn mich das Mädchen offensichtlich für beeinträchtigt genug hält, um mir eine Fahrt im Stehen nicht zumuten zu wollen. Verstohlen blicke ich mich um. Wenn ich Glück habe, bin ja gar nicht ich gemeint. Vielleicht klammert sich ja hinter mir ein humpelnder Fünfundneunzigjähriger krampfhaft an seinem Rollator fest, oder der Bauch einer Hochschwangeren schwuppt in jeder Kurve gegen ihre Stehnachbarn. Doch nichts dergleichen! Das Sitzplatz-Angebot gilt zweifelsfrei mir. Also nehme ich es – was bleibt mir anderes übrig – mit einem dankenden Kopfnicken an, lasse mich neben eine beleibte Dame mittleren Alters plumpsen und vermeide, den Umstehenden ins Gesicht zu blicken. Bestimmt kann sich zumindest der eine oder andere ein hämisches Grinsen nicht verkneifen, und das muss ich mir ja wirklich nicht antun. Doch während ich krampfhaft auf den Boden starre, wird mir allmählich widerwillig bewusst, dass das Busfahren im Sitzen im Grunde doch erheblich angenehmer ist, als an eine schmuddelige Haltestange gekrallt in jeder Kurve hin und her zu schwanken wie ein Betrunkener. Und dabei denke ich unwillkürlich über das Alter oder – gefällt mir wesentlich besser – den Lebensabend nach.

Ab wann ist man eigentlich alt? Sobald man den Beruf an den Nagel gehängt hat und in den Ruhestand gegangen ist, sodass die Rente das Leben gleichsam in ein »Davor« und ein »Danach« teilt? Oder spätestens wenn, wie mein Onkel Heinz zu sagen pflegte, die Geburtstagskerzen mehr kosten als der Kuchen? Oder wenn man beim Schuhe-Binden denkt: »Jetzt bin ich schon mal unten; was könnte ich da vielleicht gleich mit erledigen?« Früher habe ich die Frage gern folgendermaßen beantwortet: Das Alter beginnt grundsätzlich mit der Zahl der eigenen Lebensjahre plus zehn. Aber das funktioniert natürlich irgendwann nicht mehr so richtig. Das wurde mir spätestens vor einigen Tagen klar, als ich an einer Online-Umfrage teilnahm, die mit ein paar Fragen nach meiner Person endete.

»Wie alt sind Sie?«, stand dort, gefolgt von mehreren Antworten, von denen eine anzukreuzen war: a) bis 29, b) 30 bis 39, c) 40 bis 49, d) 50 bis 59, e) 60 und älter. Ich gebe zu, dass ich beim Markieren von e) einen unangenehmen Druck in der Magengegend verspürt habe, bedeuteten die vorgegebenen Kategorien doch nichts anderes, als dass mit sechzig offenbar die letzte Phase des Lebens beginnt, nach der nur noch der Tod kommt. Zu dieser Gruppe von Menschen gehörte ich also. Und das sogar schon eine ganze Weile. Die Erkenntnis machte mich – das gebe ich offen zu – einigermaßen fassungslos.

Doch zurück zu dem Bus, in dem ich jetzt dank der noblen Geste der jungen Dame recht bequem durch die Stadt rolle. Denn da kommt mir plötzlich in den Sinn, dass ich das morgendliche Sockenanziehen schon seit einer ganzen Weile nicht mehr, wie früher, im Stehen, sondern auf dem Klodeckel sitzend absolviere. Dass mich mein Sohn erst letzte Woche gefragt hat, ob der Fernseher unbedingt so brüllen müsse, und dass ich vor Kurzem vom Supermarkt, weil ich den Einkaufszettel mal wieder irgendwo habe liegen lassen, nur die Hälfte – und auch davon nicht alles wie von meiner lieben Ehefrau gewünscht – mit nach Hause gebracht habe.

Doch dann – ich wohne ziemlich weit draußen in einem Vorort und habe deshalb eine Menge Zeit zum Sinnieren – machen sich in mir nach und nach positivere Gedanken breit. Habe ich es heute Morgen, als ich in unserem Mehrfamilienhaus die jungen Leute aus dem ersten Stock die Treppen herunterkommen hörte, um zur Arbeit zu gehen, nicht genossen, im warmen Bett liegen zu bleiben? Ja, mich sogar noch mal so richtig in die Kissen zu kuscheln? Finde ich es nicht immer wieder großartig, bei Vollmond auf einer Jagdkanzel bis tief in die Nacht auf Schwarzwild anzusitzen, weil ich ja am nächsten Tag, wenn ich müde werde, jederzeit ein Nickerchen machen kann? Sie müssen nämlich wissen, dass ich leidenschaftlich gern zur Jagd gehe, und das mit großem Vergnügen auch schon am sehr frühen Morgen, noch vor Sonnenaufgang oder bis weit nach Mitternacht.

Im Fall des frühen Morgens nehme ich auf der Heimfahrt aus dem Revier vom Bäcker Brötchen mit, und während Angehörige der werktätigen Bevölkerung von ihrem Chef herumgescheucht werden oder unter der Last der Termine stöhnen, frühstücke ich mit meiner lieben Ehefrau gemütlich und in aller Ruhe, lese dabei ausführlich die Zeitung und löse das alltägliche Sudoku. Und wenn mir nach der zweiten Tasse Kaffee noch nach einer dritten oder vierten ist, was spricht dagegen? Anschließend tausche ich mich am Telefon mit meinem Jagdfreund Bernhard über die morgendlichen Erlebnisse auf der Pirsch aus und hole danach genüsslich einen Teil der verpassten Nachtruhe auf dem Sofa nach. Der weitere Tagesablauf ändert sich je nach Lust und Laune, ist aber eines ganz sicher nicht: stressig. Selbst die Zeit zum Schreiben von Büchern, von denen Sie ja eines gerade in Händen halten, kann ich mir ganz nach Belieben einteilen. Solange ich das Manuskript termingerecht abliefere, kräht kein Hahn danach, ob ich gerade vor dem Computer sitze oder lieber ein paar Tage durch Wald und Flur streife. Denn Wandern ist nach der Jagd mein zweites großes Hobby. Immer öfter kommt mir dabei der Lieblingsspruch meines verstorbenen Vaters in den Sinn:

»Jedes Lebensalter hat seine Vor- und Nachteile. Man muss die Vorteile nach Kräften nutzen und die Nachteile in Gottes Namen in Kauf nehmen.«

Er hatte, soweit ich mich erinnere, mit dem Älterwerden keine Probleme. Jedenfalls hat er sich nie darüber beklagt, sondern hat, so gut es ging, einfach so weitergelebt wie vorher auch. Und ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen, wie er einmal einem Bekannten, der jeden zweiten Satz mit »Man wird halt nicht jünger« beendete, kurzerhand das Wort abschnitt und kategorisch das verkündete, was er immer zu sagen pflegte, wenn er klarmachen wollte, dass ihm irgendetwas ganz und gar gleichgültig war: »Weiß du was? Darauf pfeif’ ich!«

Und dort, im Bus, auf einem von einem jungen Mädchen freundlicherweise überlassenen Sitzplatz, nehme ich mir vor, künftig exakt nach dieser Devise zu leben und zu handeln. Das Altwerden soll mir in Zukunft nicht nur nichts ausmachen, es soll...

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