KAPITEL 1
DIE ANFÄNGE
Svetlana und Nicholas Romanov im Jahr 1972
DIE SUCHE NACH DER IDEALEN LAUFTECHNIK
»Notwendigkeit ist die Mutter jeder Erfindung.«
Jonathan Swift
An einem kühlen, regnerischen Oktobermorgen im Jahr 1977 kam ich vom Leichtathletikstadion der pädagogischen Universität zurück. Dort hatte ich gerade ein Seminar über Leichtathletik für meine Studenten von der Sportfakultät gehalten. Zu dieser Zeit war die pädagogische Universität in Tscheboksary – etwa 700 Kilometer von Moskau entfernt – ein wichtiger Baustein für die sportliche Vormachtstellung der Sowjetunion. Viele Athleten, die Medaillen bei Olympischen Spielen holten, neue Weltrekorde setzten und die starken sowjetischen Teams anführten, meldeten sich dort an und absolvierten ihr tägliches Training auf den Plätzen und in den Übungsräumen der Universität.
Ich hatte selbst dort studiert und war dann Dozent und Leichtathletiktrainer geworden. Obwohl viele unserer Athleten großartige Erfolge feierten und die Fakultät ein hohes Ansehen genoss, passte meine Laune zu diesem trüben Tag: Ich war mürrisch und etwas niedergeschlagen. Ich unterrichtete bereits seit zwei Jahren und arbeitete an meiner Promotion, als ich realisierte, dass ich in einem Paradoxon gefangen war. Auf der einen Seite standen mir mehr Fakten und Wissen zur Verfügung als jemals zuvor. Auf der anderen Seite hatte ich trotz der ganzen Universitätsbildung nichts an der Hand, um meinen Studenten eine so einfache Übung wie das Laufen zu lehren.
Es war ein merkwürdiges Dilemma. Ich hatte mich, angeleitet durch unsere wunderbaren Professoren und die hervorragenden Lehrbücher, mit fast allem auseinandergesetzt, was bis zu dieser Zeit in Wissenschaft und Praxis zum Thema Laufen geschrieben worden war. Aber ich fand nicht, wonach ich suchte: Es gab keine Methode zum Lehren der Lauftechnik – weder in der Theorie noch in der Praxis.
Die Meinungen über die Bedeutung der Lauftechnik und deren Lehrmethode gingen auseinander. Nach der vorherrschenden Meinung lag Laufen so sehr in unserer Natur, dass man Lauftechnik nicht unterrichten konnte und sollte. Der individuelle Laufstil ist uns demnach durch unsere Körperstatur in die Wiege gelegt worden. Eine andere weitverbreitete Meinung besagte, dass es für Sprint-, Mittel- und Langdistanzen verschiedene Lauftechniken gäbe und diese daher auch unterschiedlich unterrichtet werden müssten.
In einem Punkt waren sich Trainer und Lehrer aber einig, egal, welcher Meinung sie nahestanden: Laufen ist eine einfache Bewegung; die besten Läufer sind diejenigen, die gute genetische Voraussetzungen mitbringen und besonders hart trainieren. Dieser Logik zufolge gab es keine Notwendigkeit, sich mit der technischen Ausbildung der Läufer auseinanderzusetzen – ganz im Gegensatz zum Springen, Hürdenlauf oder Werfen. In diesen Disziplinen wurde der Technik eine ebenso hohe Bedeutung beigemessen wie im Ballett, Karate oder im Tanz. Um diese Sportarten zu beherrschen, musste man Bewegungsabläufe strukturieren, mentale Bilder entwickeln und sich wiederholende Bewegungen perfektionieren. Nur bei der elementarsten menschlichen Bewegungsform, dem Laufen, ging man davon aus, dass keinerlei technische Ausbildung nötig sei.
Langsam realisierte ich: Ich wusste überhaupt nicht, wie Laufen aus biomechanischer und psychologischer Sicht funktioniert. Wie hätte ich dann wissen können, was und wie ich unterrichten sollte? Ich fühlte mich hilflos und herausgefordert zugleich – ich war bei diesem Problem auf mich selbst gestellt. Es ging mir zwar schon lange Zeit durch den Kopf, aber niemals zuvor fühlte es sich so dringend an wie an diesem grauen, tristen Tag.
Auf meiner Suche nach Antworten studierte ich Kampfkünste, Tanz und Ballett. Letzteres bot sich besonders an, da in Russland die Kunst und die Tradition des Balletts bis zur Perfektion getrieben wurden. Ich hatte Freunde unter den Balletttänzern und konnte sie während des Trainings und während ihrer Aufführungen beobachten – eine sehr angenehme Verbindung aus Arbeit und Vergnügen.
Wenn ich einige der weltbesten Ballerinas beobachtete, brannte mir eine Frage auf der Zunge: Warum sind die Bewegungen im Ballett, im Tanz oder im Karate so perfekt? Liegt es nur an den unzähligen Wiederholungen einfacher Übungen? Die Antwort auf diese Frage traf mich an diesem grauen Oktobermorgen wie ein Blitz: Alles ist einfach!
Die Einfachheit selbst ist der Schlüssel. Die Ausbildung im Ballett, im Tanz und in den Kampfkünsten erfolgt durch bestimmte Schlüsselpositionen, besser gesagt durch eine ganze Serie dieser Positionen. Die Perfektion der Bewegung entsteht durch die fließenden Übergänge von einer zur nächsten.
In diesem Moment fügte sich für mich alles wie ein Puzzle zusammen: Neuromotorische Muster lernen und verfestigen sich leichter durch bestimmte festgehaltene Einzelpositionen der Gesamtbewegung. Nun stand ich vor der nächsten Frage: Welches sind diese Positionen beim Laufen und wie könnte ich sie aus den unendlich vielen Positionen isolieren, die der Körper während der Bewegung durchläuft? Was sind die Auswahlkriterien? Die Positionen mussten Gleichgewicht und Kompaktheit miteinander verbinden und die Muskeln bereit sein, von einer Position in die nächste zu wechseln.
Nach vielen Jahren des Studiums und der Beobachtung fühlte ich mich endlich bereit, den Geheimnissen des Laufens auf die Spur zu kommen. Der Plan war einfach – ich musste die gesamte Bewegung auf einzelne Positionen reduzieren und für diese ein System entwickeln, mit dem sie jedem Läufer beigebracht werden konnten.
Seit diesem grauen Oktobermorgen sind viele Jahre vergangen. Die Entscheidung, die ich damals getroffen habe, hat mein ganzes Leben und meinen beruflichen Werdegang bestimmt: Ich habe mich dem Verständnis der elementarsten Bewegung des Menschen verschrieben und eine Lauftechnik entwickelt, mit der jeder länger, schneller und mit weniger Belastung für den Körper laufen kann.
Inzwischen hat es viele Veränderungen in meinem Leben gegeben: Ich bin mit meiner Frau Svetlana und meinen Kindern aus Russland ausgewandert und habe ein neues Zuhause in Miami, Florida, gefunden. Dort habe ich mich als Wissenschaftler, Coach und Autor selbstständig gemacht und begonnen, mit einzelnen Athleten und Gruppen zu arbeiten. Währenddessen habe ich meine Konzepte für die ideale Lauftechnik stetig weiterentwickelt und verfeinert – aber der Kern ist immer noch der gleiche wie am Anfang.
Während dieser ganzen Zeit habe ich immer mit Läufern aller Leistungsstufen zusammengearbeitet – von Olympiateilnehmern und Weltmeistern bis zu 80-Jährigen. Denn wenn es wirklich eine ideale Lauftechnik gibt, dann muss sie für alle funktionieren, nicht nur für Weltklasseathleten.
Ich bin sehr stolz auf die stark verbesserten Laufleistungen meiner olympischen Triathleten, aber als eine noch größere Befriedigung empfinde ich die Entwicklung meiner vielen Teilnehmer mittleren Alters, die wegen chronischer Verletzungen das Laufen schon fast aufgegeben hatten und jetzt wieder schmerzfrei laufen – schneller und leichter als 20 Jahre zuvor.
Durch mein wachsendes Verständnis der menschlichen Bewegungen hat sich meine Frustration aus dem Jahr 1977 gewandelt: Wo ich mich einst abmühte, der Natur des Laufens auf die Schliche zu kommen, frustriert mich heute mehr der Anblick von Menschen, die gern laufen wollen, aber durch fehlendes Wissen und schlechte Lauftechnik daran gehindert werden. Für all diese Läufer habe ich das Buch Besser Laufen mit der Pose Method® geschrieben. Es stellt die Ideen, Forschungen und praktischen Erfahrungen vieler Jahrzehnte vor. Ich hoffe sehr, dass es auch Ihnen ermöglichen wird, besser zu laufen, als Sie es jemals für möglich gehalten haben. Ich wünsche Ihnen, dass sich Ihre Gesundheit verbessert und Ihr Leben durch die Begeisterung für diesen elementaren, menschlichen Sport bereichern wird.
PHILOSOPHIE DES LAUFENS
»Wo die Natur nicht will, ist die Arbeit umsonst.«
Lucius Seneca
Die Menschen haben schon immer nach Wundermitteln gesucht, um ihr Leben zu verbessern – die alten Griechen waren da keine Ausnahme. Keine andere Sportart war damals für jedermann so einfach zugänglich. Hören Sie auf die alten Griechen: Laufen ist gut für Sie, wenn Sie es mit einem ausgeglichenen Lebenswandel kombinieren.
Die alten Griechen haben die Bedeutung des Laufens schon früh erkannt, was in ihrer Liebe zum Sport und in ihrer Kunst zum Ausdruck kommt: Auf vielen antiken Vasen sind Läufer abgebildet. Die Zeichnungen reflektieren die emotionale und ästhetische Beziehung der Menschen zum Laufen. Wir wissen nicht genau, ob die Künstler die Athleten realitätsnah abbildeten oder ob sie eine ästhetisierte Darstellung schaffen wollten, um die Helden ihrer Spiele zu würdigen. Unabhängig davon, aus welchen Beweggründen diese Abbildungen entstanden sind, zeichnen sie sich durch große Detailtreue aus. Sie veranschaulichen deutlich die Anstrengungen der Sportler auf verschiedenen Strecken und bei verschiedenen Geschwindigkeiten.
Den Griechen fehlten vielleicht die...