2 Case Managementorganisationen als System
Begreifen wir Case Managementorganisationen als System, eröffnen wir damit eine Perspektive, die sich in der Tradition systemischer Theorien ansiedelt. Grundlegend ist die von Niklas Luhmann ausgearbeitete Systemtheorie, die in seinem Werk „Soziale Systeme“8 dargestellt wird.
Systeme unterscheiden sich von dem, was nicht zum System dazugehört, der Umwelt. System und Umwelt bedingen sich somit wechselseitig. Damit wird gleichzeitig auch schon auf einen Zweck von Systemen und damit auch von Organisationen verwiesen. Das System hilft uns in seiner Abgrenzung von der Umwelt dabei, mit Komplexität umzugehen. Oder wie es Luhmann ausdrückt: Bei der Differenz von System und Umwelt ist davon auszugehen, „dass die Umwelt immer sehr viel komplexer ist als das System selbst“9. Case Manager setzen das bei ihrer Arbeit häufig voraus, weil sie, ausgehend vom Einzelfall, Teilen dieser komplexen Umwelt begegnen, aber nur dann damit umgehen können, wenn sie in ihr Case Managementsystem wechseln und z. B. im Assessment beschreiben. Überschreiten sie das Regime ihrer eigenen Organisation und gehen hinaus in die Lebenswelt der Klienten, werden sie wahrscheinlich feststellen, dass sie allein durch das „mitgebrachte“ Regelwerk, die vorgegebenen Prozesse und Ressourcen im Umgang mit der Komplexität der individuellen Systeme in Schwierigkeiten geraten. Vertiefen sie sich dabei zu weit in „das Leben der Anderen“, geschieht es zuweilen, dass das Case Management von der eigenen Organisation zur Raison gerufen wird. Systemisch betrachtet bringt ein so agierendes Case Management das System oder die Organisation in Gefahr, indem es vom vorgegebenen, wesentlichen Zweck abweicht. Wenn wir als Autofahrer versäumen, das System Autoverkehr gegenüber dem System Handykommunikation abzugrenzen, wird spätestens bei der Suche nach dem richtigen Emoji die Beachtung der Systemgrenze des Autoverkehrs (in Abgrenzung zum System des Messengers) zur lebenserhaltenden Größe. Luhmann beschreibt die Ausdifferenzierung eines Systems „als Steigerung der Sensibilität für Bestimmtes (intern Anschlussfähiges) und Steigerung der Insensibilität für alles übrige“10 Denken wir einmal an die häufig über Jahre ausgefeilten Zuständigkeitsregeln, die Kooperationsvereinbarungen oder die Prozessbeschreibungen im Rahmen eines Qualitätsmanagements, so ist es nachvollziehbar, dass Case Management mit seinen Spezialisierungen als einzelfallorientiertes und bereichsübergreifendes Verfahren nicht ohne Weiteres als „Bestimmtes“, sondern oft auch als „Übriges“ verstanden wird, vor allem, wenn es sich, wie z. B. im Monitoring, von außen in die Angelegenheiten anderer Einrichtungen einmischt.
Der Systemerhalt der Organisationen auf Kosten der Umwelt hat viele Argumente auf seiner Seite. Die systemimmanenten Spezialisierungen führen in der Regel dazu, dass immer schwierigere Aufgaben gelöst werden können. In Krankenhäusern werden Hi-Tech-Verfahren eingesetzt, die mit ihren Erfolgen, aber auch mit ihrer Rentabilität das System prägen. Indirekt sind diese Verfahren auch in der Lage, die Störmanöver der Umwelt, beispielsweise durch die Einführung der Fallpauschalen, zu kompensieren. Sie reagieren auf den zeitlichen und finanziellen Druck mit dem Einsatz technischer Mittel und mit Verfahrensoptimierung, sodass im System immer mehr Fälle in immer schnelleren Folgen erfolgreich bewältigt werden können. Auf der anderen Seite scheut sich das System Krankenhaus im Entlassverfahren häufig vehement dagegen, seine Systemgrenzen gegenüber der komplexen Umwelt der poststationären Versorgung zu öffnen. Nachgehendes Monitoring beim Entlassmanagement ist nicht machbar – weder im Einzelfall noch im Rahmen der Systemsteuerung. Ein Weiteres Beispiel für die Entwicklung von Systemen ist der erstaunlich unterschiedliche Umgang mit der Zeit. Case Manager, die sich für einen Klienten engagieren, der sich in einer schwierigen Situation befindet, können daran verzweifeln, wenn sie mit Sozialverwaltungen zu tun haben, die ihren eigenen Umgang mit der Zeit entwickelt haben. Tatsächlich bedeutet der Umgang mit Zeit in den Verwaltungen, häufig eine sorgfältige Prüfung anhand der internen Regeln und Voraussetzungen, deren Außerkraftsetzen immer auch eine Destabilisierung der eigenen Organisation zur Folge hätte. Zudem sind die Handlungsaufforderungen aus der Umwelt ja immer eine unter vielen und es gehört auch zum Systemerhalt, die eigene Steuerungskompetenz nicht aus der Hand zu geben. Dies kann unter Umständen so weit führen, dass die Regeln strenger formuliert oder die Grenzen verstärkt werden (wie am Beispiel vieler Staaten im Umgang mit Flüchtlingen und Zuwanderern gut zu beobachten ist).
Angesichts dieser systemischen Zusammenhänge muss man sich allerdings fragen, wie einzelne Organisationen und politischen Programme überhaupt auf die Idee kommen, Funktionen wie Case Management einzuführen, deren ausgemachte Aufgabe es ist, Systemgrenzen zu überschreiten, kontaminierende Umweltpartikel in das Innere gut sortierter Organisationen zu tragen und mühsam bewältigte Komplexität mit neuen Möglichkeiten und Zusammenhängen zu belasten. Dafür gibt es eine Erklärung, die sich zu einer übergeordneten Beschreibung zusammenfassen lässt. Es sind die Blickwinkel, oder systemisch ausgedrückt, die Differenzierungsschemata, mit denen auf das Innen und Außen geschaut wird. Ein treffendes Beispiel ist die Idee, die Beratung der Pflegekassen auf die Kommunen zu verlagern, weil diese auch für die regionale Strukturplanung verantwortlich sind.11 Diese Verlagerung passt dem System der Pflegekassen natürlich überhaupt nicht, weil sie aus ihrer Sicht ein gut funktionierendes System aufgebaut haben und sie alles dafür tun, ihr System der Pflegeberatung zu optimieren. Die Kommunen argumentieren aus ihrer Sicht für die Übertragung, weil sie den Zusammenhang von Beratung und Planung im Kopf haben und auf eine bessere Steuerung der Versorgung ihrer pflegebedürftigen Bürger hoffen. Das rivalisierende Gegenüber dieser beiden Systeme ergibt sich aus der jeweiligen Bestimmung der Systemgrenzen. Während die Pflegekassen sich hauptsächlich über ihre Mitglieder und ihre Strukturen zur Administrierung der Versicherungsleistungen definieren, sind Kommunen viel heterogener ausgerichtet und sprechen ganz allgemein von kommunaler Daseinsfürsorge, Quartiersmanagement und Sozialraumorientierung. Beide Systeme reagieren damit auf die Komplexität ihrer Umwelt und versuchen im systemischen Sinne die „eigene Komplexitätsunterlegenheit durch überlegene Ordnung auszugleichen“12.
An dieser Stelle kommt das Care und Case Management ins Spiel. Unser Handlungskonzept kann in diesem Zusammenhang als „Interne Differenzierung“ bzw. „Systemdifferenzierung“13 betrachtet werden, mit dem unsere Organisationen spezifische Probleme zu bewältigen versuchen. So gesehen dient Case Management als systemeigener Mechanismus, der sich an der wahrgenommenen Unterscheidung von System und Umwelt orientiert, um mit der Behandlung systemunverträglicher Probleme umzugehen. Anders ausgedrückt, Case Management als interner Prozess zeigt uns (genau wie alle anderen internen Prozesse), wie wir – die Case Managementorganisation – das Innen und Außen unseres Systems definieren und mit welchen Schritten wir im Umgang mit der wahrgenommenen Differenz – der Umwelt und den anderen Systemen – glauben, erfolgreich sein zu können. Damit wird die Vorstellung einer Case Managementorganisation zum Abbild, das wir mit Hilfe des Konzepts Case Management schaffen – nicht mehr und nicht weniger.
Welche Auswirkungen haben nun diese Vorüberlegungen für die Auseinandersetzung mit Case Managementorganisationen?
Organisationen, die für ihre Arbeit mit Fällen Case Management eingeführt haben, und diesen Handlungsansatz dazu nutzen, das eigene System anzupassen und zu erweitern, haben, im Sinne eines konsequenten Konzeptverständnisses, damit auch entschieden, das eigene System gegenüber einer komplexen Umwelt offener zu gestalten. Dies sollte im Sinne der Systemtheorie nicht so verstanden werden, dass damit die Grenze zwischen System und Umwelt durchlässiger gestaltet ist oder Case Management als Instrument in die Umwelt hinausragt (das ist entsprechend der Systemtheorie nicht möglich). Case Management als Organisationsbestandteil kann aber als gewollter systeminterner Prozess verstanden werden, der als Regulation beim Ausbalancieren von systemverunsichernden und systemstabilisierenden Effekten eingesetzt wird. Case Management übernimmt also die Funktion, Organisationen mit ihren Strukturen und Abläufen davor zu bewahren, einseitige Muster oder gar ein bürokratisches Regime auszubilden, um mit komplexen Anforderungen umzugehen. Letztlich würde dies zu erstarrten Systemen führen, die sich durch das Festhalten an Regeln und Abläufen scheinbar stabilisieren, tatsächlich aber auch isolieren und damit ihre Anschlussfähigkeit verlieren. „Komplexe Systeme benötigen vielmehr ein recht hohes Maß an Instabilität, um laufend auf sich selbst und auf ihre Umwelt reagieren zu können, und sie müssen diese Instabilitäten laufend reproduzieren“14. So gesehen ist Case Management eine Vorgehensweise, die dazu beiträgt, die Stabilität des eigenen Systems mit Instabilität auszugleichen, um das Ziel einer ständigen Reaktionsfähigkeit aufrechtzuerhalten. Man kann in diesem Zusammenhang von der Vigilanz (Daueraufmerksamkeit, Wachheit) humandienstlicher Organisationen sprechen, die durch den...