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Sehblitz

Almanach der modernen Kunst

AutorPaul Nizon
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl304 Seiten
ISBN9783518743966
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis16,99 EUR
Sinnlich, anschaulich, meisterhaft: Paul Nizon hat neben seinen literarischen Werken über Jahrzehnte Kunstkritiken geschrieben. Sie zeigen den promovierten Kunsthistoriker als einen genauen Beobachter und scharfen Analytiker, als empathischen Sprachkünstler jenseits einer normierten Sehweise, der bei Malern und Bildhauern Verwandtschaften findet. Das »Lebendigwerden« der Landschaften van Goghs, die »Selbstwerdung« auf den Leinwänden Jackson Pollocks - sie befeuern jene radikale Selbst- und Lebenssuche, die Nizon in seinen Romanen und Journalen bis heute betreibt.
Zum ersten Mal in einem Auswahlband versammelt, fügen sich Paul Nizons Essays und Porträts aus sechzig Jahren zu einem persönlichen Museum der modernen Kunst: von Goya über Turner bis zu Hodler, Klimt und Munch, von Picasso und Malewitsch über Soutine und Miró bis zu Morandi, Rothko und Giacometti. Und ganz en passant zeichnet er dabei sein eigenes Leben mit und in der Kunst nach.

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<p>Paul Nizon, geboren 1929 in Bern, lebt in Paris. Der »Verzauberer, der zur Zeit größte Magier der deutschen Sprache« (Le Monde) erhielt für sein Werk, das in mehreren Sprachen übersetzt ist, zahlreiche Ehrungen und Auszeichnungen, u. a. 2010 den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur.</p>

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Leseprobe

Henri Rousseau


In modernen Sammlungen genießen die Bilder Rousseaus einen Grad der Verwöhnung, bei dem man annehmen möchte, das Werk dieses Künstlers sei der Kritik entzogen. Die Legende vom armen naiven Zollbeamten bleibt unangefochten aufrecht. Unsere Erwartung vor der Ausstellung ist deshalb mit Neugier gemischt: Was hat es mit der Naivität als Bildnerkraft auf sich? Ist die in Rousseaus Kunst entfaltete Welt ein Garten der Erholung, eine Freistätte in modernen Museen, wie Volkskunst sie bereiten kann, die sich selbst von Diskussion und Vergleich ausnimmt? Könnte die Unangefochtenheit Rousseaus daher stammen, dass bei ihm eine andere, niedrigere, weniger umfassende Kategorie von Kunstbedürfnis gestillt wird, als es bei großer Malerei der Fall ist?

Henri Rousseau, 1844 in Laval (Département Mayenne) als Klempnerssohn geboren, wurde 1910 in der ihm hartnäckig anhaftenden Rolle des malenden kleinen Zollbeamten beerdigt und ist in der Naiven-Rolle eingesperrt geblieben. Warum? Bloß weil er Autodidakt war? Dabei hatte er den Stand des kleinen Beamten nur bis zu seinem 42. Lebensjahr ausgefüllt und schon lange vorher gemalt, auch im Louvre kopiert. Nach Quittierung des Dienstes widmete er sich neben seiner Malerei der Musik und Dichtkunst; es gibt Kompositionen und Stücke von ihm. Zum Broterwerb erteilte er Unterricht in Zeichnen, Violinspiel und Solfège. Sein frühester Biograph, Wilhelm Uhde, schildert ihn als kindhaften Mann, eine Art reinen Tor, der nichts weiß von den Spielregeln der Welt, ausschließlich das Gute sieht und tut, seiner Kunst mit vollkommener Leidenschaft nachhängt. In seinem Haus gehen sowohl Künstler und Literaten wie einfache Leute des Quartiers ein und aus. Ein allen Ernstes geäußerter Satz wie der: »Wenn ein König einen Krieg beginnen will, soll eine Mutter hingehen und es ihm verbieten«, muss sein Gemüt treffend spiegeln. Alldem steht gegenüber, dass er ohne jede Eitelkeit und unerschütterlich von seinem Künstlerrang überzeugt war. Er stellte alljährlich im Salon des Indépendants aus, wo seine Partizipation beim breiten Publikum unerhörte Heiterkeitserfolge auslöste; ab 1905 beschickte er den Salon d’Automne. Verkauft hat er in bescheidenem Rahmen sowohl an einfache Leute wie an Kenner. Zu den ganz wenigen ernst zu nehmenden Bewunderern zählte neben Uhde der junge Picasso.

Ich meine, die Hilflosigkeit des Publikums im Falle Rousseau ging auf folgenden Widerspruch zurück: Vom Illustrativen im Bilde, dem erzählten Ereignis her, wurde der Betrachter verleitet, das Kunstwollen realistisch einzuschätzen. Natürlich zog er unwillkürlich den Maßstab akademisch-naturalistischer Richtigkeit heran und musste den Stofftiercharakter eines Tiers, die hampelmännische Beschaffenheit einer Figur oder die klischeehaften Gesichtszüge eines Porträtierten als Missgeschick eines Ahnungslosen ansehen. Anderseits konnten die wunderschönen Klänge und das kunstvolle Dekor, in die das Erzählte gebettet war, nicht übersehen werden, so dass die Frage entstand, was wohl daran Zufall sei und was Verdienst. Man spendete der aufgewendeten Arbeit und manchen Teilen der Mache Lob, ließ das Ganze als Phänomen auf sich beruhen.

Die gegenwärtige Pariser Ausstellung vereinigt zwar verhältnismäßig wenig Hauptwerke, doch schafft sie in zwei Punkten sogleich Klarheit: Sie zeigt, dass Rousseaus typische Manier keineswegs Ausdruck nicht zu verhindernder Unfälle, weniger Manifestation gegebener Grenzen ist, sondern im Gegenteil im Lauf einer Entwicklung ausgebildet wird, die vom Pleinairistisch-Impressionistischen zum Naturunähnlichen, steif Akzentuierten führt und damit als Ausprägung eines Kunstwollens, als Reife-Aspekt, als Stilresultat zu sehen ist. Ferner wird abermals offensichtlich, wie sehr diese Kunst von Tradition gesättigt ist. Beide Tatsachen – die der Entwicklung allein schon wie die der Traditionsverankerung – zeugen gegen die Annahme volkskunstartigen Bildens. Umso stärker empfinden wir, wie Rousseau von jeder Wirklichkeitserfahrung unberührte Bildvisionen gestaltet, gleichsam auf direktestem Weg in die Kunst schreitet. Wir bemerken heute weniger das Nichtfunktionelle in seiner Körperauffassung als das Funktionieren seiner Bilder als Bilder.

Rousseaus Weg ist die Erschließung und Begründung einer Welt, in die ihm ekstatische Hingebung Zugang schafft. Zu ihrer Ausformung versteht er souverän einen großen Apparat werbender und auskalkulierter Mittel einzusetzen. Heutige Bewunderung gilt vor allem dem hochdifferenzierten Formenreichtum, dem streng durchgerechneten und durchvariierten vegetativen System, diesem künstlerisch gebändigten Dschungel, dem schlichtweg berückenden Raffinement nahverwandter und doch unendlich abgestufter Töne: mehr Faktoren des Maßes und der Beherrschung als des Ausdrucks. Dabei vernachlässigen wir, uns über die Welt Gedanken zu machen, der wir durch das harmonische Aufgehen der künstlerischen Rechnungen erliegen.

Rousseau selbst hat die Präsenz seiner im Schaffen herangezogenen Welt mitunter so gewaltig empfunden, dass ihm eng wurde. Er musste das Fenster aufreißen. Es ist eine vollständig imaginative Welt, die oft bei scheinbar engster Anlehnung an die naturvertraute Wirklichkeit verwirrend in andere Sphären übergeht. Um ein künstlerisches Kriterium anzuführen, nennen wir sie eine radikale Welt als Antwort auf das unübersehbare, trübe Leben. Ferner sei angemerkt, dass von ihr das Gefühl der Komplettheit, der Totalität und der Bestandkräftigkeit ausgeht.

Am besten lässt sich deutend eindringen, wenn man sich klarmacht, mit welchen Mitteln der Naturbezug getilgt und jede Wirklichkeitsanlehnung unterbunden wird. Vorausnehmende Feststellung: Von der Gesamtwirkung geht nicht der geringste sinnliche, stoffliche Reiz aus. In Rousseaus Dschungel ist kein Duft, kein Laut wahrzunehmen. Im Einzelnen: Die frontal und hieratisch wiedergegebenen Personen, oft gesteigert durch Wiederholung im Nebeneinander, mit den maskenhaft stereotypen Gesichtern, den ungelenken, mannekenhaften Körpern, der rührend-simplen Gestik sind auf plastische Wirkung hin konzipiert, sind modelliert. Im Eindruck aber werden sie vollkommen gewichtslos, schwebend. Formal gesehen, schwinden sie in die Fläche; erlebnismäßig beurteilt, sind sie ohne physische Gegenwart; leer und hohl das Körperliche, ungewiss der räumliche Ort. Das Aufgebot der erscheinungshaften Umschreibung dient nicht dem leiblichen Naherücken. Die Figur oder Gruppe ist Stellvertretung, dies in äußerster Bestimmtheit. Die Präsenz ist diejenige verlassener Puppen, von Hüllen, von Seelenbehältern.

Die Bäume, die Gräser sind herrlich ausgeführt, bald kühne Glasbläsereien, bald schwellende Seidenkörper. Doch sind die Stilisierungen nicht als Naturvereinfachungen lesbar. Sie werden Bildpflanzen, geblasen, gebogen, geschnitten. Wie die Kunstgebilde, die sich im Wasserglas öffnen, leben Rousseau-Pflanzen steife Entfaltung in unsere Imagination hinein, strenge Spannung.

In den Stadtansichten ist Linearperspektive angewandt. Trotz Verjüngung und Führungslinien, trotz Überschneidung und Gegensatz von Groß und Klein schiebt sich das Entfernteste vor das Nächste heran. Räumliche Ambivalenz, örtliche Nichtbehaftbarkeit. Zauberisch weiche Ungewissheit bei eindringlicher Akzentuierung. Das Eindrückliche setzt sich in einem Vorrat von Nichtfestlegbarem durch. Ein geisterhaftes, unwirkliches, oft mit Mond motiviertes Licht kommt dazu, das Körperränder anbleicht. Es wirkt als Selbstilluminierung der Dinge.

In den Farben sind mit Vorliebe Stufen von kühlem Grau, Grün, Blau da, etwa von Rosa sekundiert, Töne, die fast schmerzlich das Unbetretene, das Frische, Unerreichbare oder Versagte zaubern, darin Akzente von Rot und reinen Farben und das sagenhafte Schwarz, das Uhde »ein ergreifendes Mysterium der Seele« nennt und »dem Ton einer bewundernswerten Glocke, die zur Vereinigung mit Gott ruft«, vergleicht. Die Bilder sind dünn gemalt und haben einen Hauchbeschlag über sich, ein trennendes feinstes Mattglas.

Es bedarf keiner Betonung mehr, dass Rousseau bei thematischer Bevorzugung einer geradezu ...

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