2. Die Vandalen in Mitteleuropa
Räume und Spielräume. Die vorgeschichtliche Herkunft der Vandalen liegt im Dunkeln. Historisch (im Sinn der Überlieferung) werden sie erst im Kontakt mit dem Imperium Romanum. Spätestens seit der Mitte des 1. Jahrhunderts n. Chr. kannten die Römer Vandali oder Wandali. Das Siedlungsgebiet der mit diesem Völkernamen bezeichneten Barbaren lag damals sicherlich in Mitteleuropa und außerhalb des Römischen Reiches. Eine genaue Lokalisierung ist jedoch schwierig. Für den Historiker Cassius Dio, der im frühen 3. Jahrhundert schrieb, entsprang die Elbe in den «vandalischen Bergen» (55,1,3), womit also entweder die Sudeten insgesamt oder das Riesengebirge gemeint ist. Aber antike geographische Definitionen sind oft wenig präzise. Derselbe Autor berichtet für 171/172 n. Chr. vom Auftauchen eines vandalischen Teilstammes, der «Hasdingen», an der Nordgrenze der Provinz Dakien, im heutigen Siebenbürgen. Sicher ist jedenfalls, dass die Vandalen auch in den folgenden Jahrhunderten immer im Raum nördlich der mittleren Donau anzutreffen waren (Karte 2).
Karte 2: Geographie nördlich der Donau
Die Hasdingen kamen nicht in feindlicher Absicht, sondern um wegen der Bedrohung durch andere Stämme Aufnahme ins Römische Reich für sich und ihre Familien zu erbitten, die ihnen allerdings nicht gewährt wurde (Dio 71,12). Immerhin wurde ein Abkommen geschlossen: Die Vandalen verpflichteten sich zur Waffenhilfe und durften als neue Verbündete Roms auf einen gewissen Schutz hoffen.
Um die Mitte des 3. Jahrhunderts – im Reich wechselten sich sogenannte Soldatenkaiser in schneller Folge ab, eine Instabilität, die nördlich der Grenzen nicht verborgen blieb – gehörten die Vandalen zu den Völkern, die versuchten, gewaltsam über die Donaugrenze nach Süden zu kommen. Unter Kaiser Aurelian (270–275) wurden sie indes besiegt, mussten zweitausend Reiter für das römische Heer stellen, und die Vornehmen des Stammes, darunter die beiden «Könige», wurden gezwungen, den Römern ihre Kinder als Geiseln zu übergeben (Dexipp, Fragment 30).
Namen und Traditionen. Wenn in diesen und anderen vereinzelten Nachrichten von Vandalen die Rede ist, wissen wir meistens nicht, ob deren Gesamtheit oder ein Teilstamm gemeint ist. Immerhin ist bei Cassius Dio von den Hasdingen die Rede, was heute mit ‹Langhaarträger› übersetzt wird, ein Begriff, der besser auf ein vandalisches Adelsgeschlecht passt als auf einen ganzen Stamm. Zu Beginn des 5. Jahrhunderts trug eine vandalische Königsdynastie diesen Namen. War dies auch schon im 2. Jahrhundert der Fall? Die Existenz eines Doppelkönigtums bei den Vandalen zur Zeit Kaiser Aurelians spricht jedenfalls dagegen, dass es damals nur eine einzige Königsfamilie gegeben hat.
Unabhängig von dieser wenig profitablen Quellenlage müssen wir schon in dieser Zeit mit der Weitergabe von Traditionen rechnen (auch wenn wir ihre Medien nicht kennen), nicht nur von Namen und Geschlechterfolgen, sondern auch von kultisch-sakralen Überlieferungen und von – wie auch immer verformten – historischen Ereignissen, wobei die Vandalen im 3. und 4. Jahrhundert wenig Kriegsglück hatten. Für die Zeit Kaiser Maximians (286–305) überliefern römische Beobachter eine spektakuläre vandalische Niederlage, wohl am Pruth, gegen gotische Rivalen. Auch unter Kaiser Konstantin (306–337) scheinen die Vandalen sich vor allem in der Defensive befunden und sich nur mit Mühe in ihrem Kerngebiet, das damals wahrscheinlich an der oberen Theiß lag, gegen gotische Gruppen verteidigt zu haben, die ihnen in Kampfesweise, Bewaffnung und wohl auch generell in kultureller Hinsicht sehr ähnlich waren.
Dies sind spärliche Informationen, aber wenn man sie etwas ordnet und im Licht der späteren, besser bekannten Entwicklung betrachtet, sind sie nicht unergiebig. Immerhin erfahren wir, dass der Stammesname ‹Vandalen› ein erhebliches Alter hatte (auch wenn wir nicht wissen, wie er sich zu Ober- und Unterstämmen verhielt); wir treffen schon früh auf adlige Traditionen und «königliche» Anführer; wir beobachten die scharfe Konkurrenz zwischen benachbarten Stämmen, und zwar trotz kultureller Gemeinsamkeiten, was für dauerhafte Kriterien der Distinktion spricht; wir können von den Migrationsbewegungen, zu denen sie gezwungen waren, auf ihre prekäre wirtschaftliche Grundlage schließen, eine Not, die sie offensichtlich mit ihren Nachbarn teilten. Das Römische Reich hatte hier immer einen Ansatzpunkt, wenn es darum ging, Hilfstruppen zu finden oder den einen Stamm gegen den anderen auszuspielen.
Zwei scheinbar einfache Fragen lassen sich dagegen kaum mit Genauigkeit beantworten: Welches war ihr ursprüngliches Siedlungsgebiet in Mitteleuropa, und von wo aus brachen sie schließlich nach Westen auf, wodurch sie dann erstmals zu einem Problem für die Römer (und für uns zu einem historischen Thema) wurden? Diese Fragen sind nicht nur wegen fehlender Quellen schwierig, sondern auch, weil sie eine eindeutige Bestimmung dessen voraussetzen, wonach wir eigentlich suchen, wenn wir «die Vandalen» sagen. Die widersprüchlichen Aussagen der literarischen Zeugnisse ihrer Frühgeschichte stimmen ja gerade in dem Punkt überein, dass die antiken Termini vielschichtig waren. Es gab Vandalen, wie wir bereits gesehen haben, als Ober- und als Unterbegriff, aber sie konnten offenbar auch (vielleicht wenn es um kultische Gemeinsamkeiten ging?) unter dem Namen der «Lugier» subsumiert werden, vielleicht eine Bezeichnung der vorher, vor der Einwanderung der germanischen Vandalen, in jenem Gebiet ansässigen Bevölkerung. Da diese Beziehungen in den Quellen einfach vorausgesetzt, jedoch niemals erklärt werden, bleiben sie für uns mit vielen Fragezeichen versehen. Und es ist auch nicht möglich, die modernen archäologischen Funde in der betreffenden Region anhand der einen oder anderen antiken Lokalisierung zu klassifizieren, obwohl es sich bei dem mitteleuropäischen Großraum, in dem die frühen Vandalen siedelten, um eine sogenannte Kulturprovinz handelt, die durch Gemeinsamkeiten in den Bestattungsformen und den gefundenen Sachgütern (vor allem Tongefäße, aber auch Trachtbestandteile) definiert ist – man spricht wegen des wichtigsten Fundorts von der Przeworsk-Kultur. Wir befinden uns dabei im heutigen Mittel- und Südpolen beziehungsweise in der Slowakei und in Rumänien, Grenzen sind Oder und Bug (beziehungsweise oberer Dnister) im Westen und Osten, die Netze im Norden und der Karpatenbogen im Süden (Karte 2).
Wie aber könnte man die Träger dieser Kultur spezifisch als Vandalen ansprechen und von anderen, kulturell verwandten Stämmen in diesem riesigen Gebiet, etwa den Burgundern, trennen? Immerhin lässt sich beobachten, wie in dieser Kultur, die vom 3. vorchristlichen Jahrhundert bis zur Mitte des 5. Jahrhunderts n. Chr. bestand, einzelne Gräber durch die Kostbarkeit ihrer Beigaben derartig herausstechen, dass man von einer Elite, genauer von einer Kriegerelite, sprechen kann. Denn dass der hier vorgeführte Reichtum wesentlich auf Handelsgewinnen beruhte (durch das Gebiet führte die berühmte Bernsteinstraße zur Ostsee), ist unwahrscheinlich. Sicherlich aber waren Kontakte zum Römischen Reich für die Entwicklung der gentilen Sozialstruktur wichtig, und der Karpatenbogen stellte für die Vandalen keine Barriere dar, ob sie sich der römischen Donaugrenze nun als Angreifer und Räuber, als Verbündete oder als Schutzsuchende näherten.
Warum auswandern und wie? Leider sind wir über die Gründe, die bald nach 400 n. Chr. die Vandalen dazu bewogen haben, ihre Wohnsitze an der oberen und mittleren Theiß und anderswo aufzugeben, besonders schlecht informiert. Bekanntlich haben die Hunnen, die im späteren 4. Jahrhundert aus der eurasischen Steppe nach Westen drängten, bei den gentilen gotischen Reichen am Schwarzen Meer zu schweren Verwerfungen geführt. Ein Teil der Goten musste sich unterwerfen oder wurde vernichtet, ein Teil floh über die Donau ins Römische Reich. Die Römer konnten diese Grenze letztlich nur dadurch stabilisieren, dass sie die geschaffenen Fakten akzeptierten und mit den Eindringlingen Verträge abschlossen (Seite 18f.).
Dass der Aufbruch der Vandalen ebenfalls eine direkte Folge hunnischer Angriffe war, ist nicht wahrscheinlich, weil diese so weit im Westen damals nicht bezeugt sind und weil überdies ein Teil der Vandalen ihre Wohnsitze gar nicht verließ, ohne deshalb sofort von den Hunnen beherrscht zu werden. Nichts spricht also dagegen, den überlieferten Nachrichten von einer Hungerkrise bei den Vandalen, die sie zur...