KAPITEL II
Theorie und Praxis
Karl Marx wuchs in den 1820er und 30er Jahren in einem bürgerlichen Haushalt in Trier auf. Das in diesem Provinznest herrschende geistige und politische Klima war weniger hinterwäldlerisch, als man meinen könnte. Die Stadt hatte von 1794 bis 1813 unter französischer Herrschaft gestanden, und einige der fortschrittlichen Errungenschaften dieser Periode wirkten auch fort, nachdem sie preußisch geworden war. Es gibt Hinweise darauf, dass Marx nicht nur in seinem Elternhaus, sondern auch in der Schule mit den Ideen der Aufklärung in Berührung kam. Man wird aber nicht davon ausgehen können, dass dieses Klima einem philosophischen oder politischen Radikalismus besonders günstig war. Nach dem, was wir über den heranwachsenden Marx wissen, deutete zunächst nichts auf die Entwicklung hin, die er später einschlagen sollte; er zeigte sich als normal braver Oberschüler, der in einem Abituraufsatz über Die Vereinigung der Gläubigen in Christo nach Joh. 15,1–14 Kluges zu sagen wusste und dafür von seinen Lehrern eine «gedankenreiche, blühende, kraftvolle Darstellung» attestiert bekam.
Einblicke in das Denken und Fühlen des Heranwachsenden gewährt die erhalten gebliebene reiche lyrische Produktion dieser Jahre. Sie weist die erwartbare Affinität zur romantischen Tagesmode auf. Wir finden in ihr die unvermeidlichen Topoi (die Nacht, die Sterne, die Sehnsucht) und gängigen Reime (Brust/Lust, Getriebe/Liebe und natürlich Herz/Schmerz) eines damals bereits in die Jahre gekommenen Dichtungstypus. Große Gefühle nehmen großen Raum ein und soweit philosophische Reflexionen überhaupt vorkommen, fallen sie nicht eben zugunsten des Materialismus aus. So mokiert sich der 19-jährige Student in einem um 1837 verfassten Gedicht über die Mediziner-Metaphysik:
Es hat nie einen Geist gegeben, –
Denn auch die Ochsen können leben,
Die Seele ist eitel Phantasei, –
Man kann sie im Magen nicht finden,
Und wär sie irgendwo nur zu ergründen,
’ne jede Pille trieb’ sie wohl herbei,
So daß in ganzen Strömen,
Die Geister aus den Leibern kämen. (I,1:678)
Die ästhetischen Qualitäten dieser Zeilen stehen hier nicht zur Debatte; auch seine inhaltliche Seite lohnt keine nähere Betrachtung, denn zu offenkundig ist der Rückgriff auf eine romantisch inspirierte Wissenschaftskritik, die ihrerseits auf deutlich älteren Motiven beruht. Wir haben es bei den Ärzten mit einer Bande von Atheisten zu tun, die sich verschworen hat, die Unabhängigkeit der menschlichen Seele vom Körper zu leugnen und damit auch ihre Unsterblichkeit: ‹tres medici, duo athei›. Es genügt hier, dieses Gedicht als ein Zeugnis dafür festzuhalten, dass Marx seine intellektuelle Laufbahn nicht als Materialist begonnen hat. – Während seines Studiums zunächst in Bonn, dann in Berlin hatte er Gelegenheit, entsprechende Abneigungen zu vertiefen und philosophisch zu untermauern. An der Berliner Universität galt die Hegelsche Schule als Dernier Cri, und Marx säumte nicht, diesem Schrei Folge zu leisten. Innerhalb kurzer Zeit wurde er zu einem passionierten Hegelianer, genauer gesagt: zu einem Junghegelianer. Zwar will die Wahl des Dissertationsthemas nicht recht in dieses Bild passen, denn mit Demokrit und Epikur behandelte er zwei Gründungsväter des antiken Materialismus. Bei der Lektüre der Dissertation verflüchtigt sich die Irritation allerdings, denn in ihr wird der eigentlich materialistische Gehalt der atomistischen Naturphilosophie weitgehend ausgespart. Marx folgte den von Hegel und seinen Schülern vorgezeichneten Deutungslinien und suchte den Atomismus als eine Philosophie des Selbstbewusstseins zu interpretieren.
Diese Materialismus-Ferne zeigt sich noch in seinen frühen Texten. Wenn er dort von ‹Materialismus› sprach, war damit in vielen Fällen keine philosophische Position oder Strömung gemeint; und schon gar keine, zu der er irgendwelche Affinitäten erkennen ließ. Gemeint waren stattdessen soziale Einstellungen und Gegebenheiten, die von materiellen Interessen geprägt sind. So unterschied er noch 1844 zwischen dem «Idealismus des Staates» und dem «Materialismus der bürgerlichen Gesellschaft», die er mit einem «egoistischen Geist» in Verbindung brachte. (I,2:161/1:369) Soweit es um die Philosophie ging, plädierte er in den Ökonomisch-philosophischen Schriften desselben Jahres für einen an Feuerbach orientierten «Naturalismus», der sich «sowohl von dem Idealismus, als dem Materialismus unterscheidet» (I,1:408/40:577). Er suchte also eine Äquidistanz zu beiden Strömungen einzuhalten.
Wir sehen: Es war eine Konversion nötig, damit aus Marx ein Materialist werden konnte, eine Konversion, die biographisch keineswegs erwartbar war und daher erklärungsbedürftig ist. Eine solche Erklärung kann in den folgenden Abschnitten nur andeutungsweise gegeben werden. Es soll in ihnen aber plausibel gemacht werden, dass es sich bei dieser Konversion nicht um ein isoliertes biographisches Vorkommnis gehandelt hat, dass sie vielmehr Bestandteil eines breiten geistigen Umbruchs war. In Reaktion auf die tiefgreifenden politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Veränderungen, die sich seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts angebahnt hatten, kamen viele Intellektuelle zu der Überzeugung, dass die traditionellen Inhalte und Formen des Denkens der neuen Zeit nicht mehr angemessen waren, dass die Probleme dieser neuen Zeit auch einen neuen Typ des Denkens erforderlich machten. Da ich mich im Folgenden vor allem auf die Entwicklung der philosophischen Diskussion in Deutschland beschränken werde, sei vorab darauf hingewiesen, dass sich vergleichbare Entwicklungen auch in anderen europäischen Ländern vollzogen. Zu nennen ist hier der auf Jeremy Bentham zurückgehende Utilitarismus in Großbritannien und der von Auguste Comte begründete Positivismus in Frankreich. Bei allen Unterschieden zwischen diesen Ländern und den intellektuellen Strömungen in ihnen lassen sich doch auch Übereinstimmungen feststellen: (a) die Abwendung von einem spekulativen Denkstil zugunsten einer programmatischen Orientierung an der Realität und an den Fakten; (b) ein starkes Interesse an sozialen Phänomenen und ihrem historischen Wandel; (c) das Bemühen um eine Annäherung von Theorie und Praxis.
Marx’ intellektuelle Entwicklung, insbesondere sein Übergang zum Materialismus, war Teil dieses epochalen intellektuellen Wandels. Verständlich werden die Konturen des Marxschen ‹Projekts› und die theoriestrategischen Entscheidungen, die er bei seiner Ausarbeitung traf, erst dann, wenn man sie als Antworten auf eine allgemeine Problemlage begreift und wenn man sich der Voraussetzungen vergewissert hat, von denen er dabei ausging. Dies gilt nicht zuletzt für seinen Materialismus. Nicht nur die Tatsache, dass er sich im Jahre 1845 auf die Seite dieser Denkrichtung schlug, sondern auch die Tatsache, dass er in den folgenden Jahren eine spezifische Version dieses Theorietypus entwickelte, bleiben unverständlich, wenn wir die historischen Randbedingungen außer Acht lassen, unter denen dies erfolgte.
1. Eine Rehabilitation der Materie
Unsere Zeit ist rein materiell.
Georg Büchner
Marx war zwölf Jahre alt, als die Pariser Julirevolution von 1830 die nachnapoleonische Staatenordnung in Europa erschütterte und das restaurative Klima der Demagogenverfolgung in Deutschland beendete. Die liberale und nationale Bewegung bekam Auftrieb, die Verfassungsbestrebungen schritten fort, Georg Büchner und Ludwig Weidig brachten den Hessischen Landboten heraus, und erste sozialistische Schriften wurden publiziert. Der politische Klimawandel war verbunden mit einer intellektuellen Gärung, die sich in der Philosophie ebenso bemerkbar machte wie in der Literatur der nachfolgenden Zeit. Der Tod Hegels im Jahre 1831 verstärkte den Eindruck der Zeitgenossen, dass eine Epoche zu Ende gegangen war: die Epoche des absoluten Idealismus. So jedenfalls stellte es sich nur wenige Jahrzehnte später für Lange dar, als er in seiner Geschichte des Materialismus von 1866 festhielt: «Will man einen bestimmten Zeitpunkt angeben, der sich als das Ende der idealistischen Periode in Deutschland bezeichnen lässt, so bietet sich kein so entscheidendes Ereignis dar, als die französische Julirevolution des Jahres 1830.»[1] Natürlich war das eine nachträgliche Einschätzung aus einer bestimmten Perspektive, und natürlich endete die «idealistische Periode in Deutschland» nicht abrupt in einem bestimmten Jahr, wenn sie überhaupt endete. Gleichwohl aber setzte zu Beginn der 1830er Jahre ein...