"Kapitel 3.1.1, Zur politischen Funktion der Geschichte in der DDR:
Da demokratische Wahlen zur Legitimation politischer Herrschaft im Gesellschaftssystem der DDR nicht vorgesehen waren, kam der Geschichte als vermeintlicher Legitimationsgrundlage der SED-Diktatur eine besondere Bedeutung zu. Gemäß den ideologischen Vorgaben der SED war es die Aufgabe der Geschichtswissenschaft, zur Systemstabilisierung beizutragen. Sie hatte ein einheitliches, sozialistisches Geschichtsbild zu entwerfen, um so ein spezifisches Geschichtsbewußtsein zu erzeugen, das die Bürger der DDR ‘zu aktivem (rational und emotional stimuliertem) Einsatz für die DDR (motivieren sollte).’ Ausgehend von den erkenntnistheoretischen Prämissen des Dialektischen und Historischen Materialismus, wonach Klassenkämpfe das bestimmende Element der Geschichte sind und die Universalgeschichte sich als aufsteigende gesetzmäßige Linie ökonomischer Gesellschaftsformationen von der Urgesellschaft bis zum Sozialismus/Kommunismus vollzieht, sollte die Geschichtswissenschaft die Entwicklung der DDR als Höhepunkt und Vollendung aller ‘progressiven’ Entwicklungslinien der deutschen Geschichte darstellen. Auf der Basis eines fundierten, sozialistisch geprägten Geschichtsbewußtseins sollte sich ein eigenständiges Staatsbewußtsein der DDR-Bürger entwickeln, ‘zum einen als unverzichtbares Identifikationselement eines sozialistischen, hochindustrialisierten Gesellschaftssystems, zum anderen als Funktion der politisch-ideologischen Immunisierung’ gegen Einflüsse aus der BRD.
Zudem hatte die Historiographie der DDR die Aufgabe, die Führungsrolle der SED historisch zu begründen, d.h. den ‘Nachweis für die Kontinuität und Richtigkeit der Politik der SED’ in Vergangenheit und Gegenwart zu erbringen sowie die aktuelle Politik der Partei als Fortsetzung der ‘auch schon in der Vergangenheit ‘wissenschaftlich’ begründeten Strategie und Taktik’ der Partei darzustellen. Dementsprechend stand insbesondere die Zeitgeschichtsschreibung der DDR in der Gefahr, ‘die Geschichte als rückprojizierte Gegenwart zu behandeln, d.h. die aktuelle Politik in die Vergangenheit zu transformieren. Nach jeder politischen Kurskorrektur (der SED) erwies es sich dann als notwendig, jeweils auch die Geschichte umzuschreiben’.
Die politische Indienstnahme der Geschichte durch die SED als ‘genuiner, unverzichtbarer Teil der Staatsideologie’, die u.a. die Überlegenheit und Fortschrittlichkeit der DDR gegenüber der BRD historisch belegen sollte, blieb bis 1989 eine Konstante. Gleichwohl war die Instrumentalisierung der Geschichte in ihren Inhalten und Ausdrucksformen seit 1949 Wandlungen unterworfen, die durch Veränderungen in den politisch-ideologischen Weichenstellungen der SED-Führung initiiert wurden.
Das marxistisch-leninistische Geschichtsbild der SBZ/DDR war in der Zeit von 1945 - 1950 geprägt von der sogenannten Miseretheorie, einer pessimistischen Geschichtsperspektive, die den Verlauf der deutschen Geschichte einseitig als Abfolge von Niederlagen der ‘progressiven’ Bewegungen und Kräfte (Arbeiterbewegung, Bauernkriege, liberales Bürgertum) interpretierte, die im Nationalsozialismus kulminierte. Diese ‘mentale historisch-politische Barriere wirkte (jedoch) wie eine Art Selbstblockade’ und behinderte die Entwicklung eines positiven, identitätsstiftenden Geschichtsbildes zur Legitimation der 1949 gegründeten DDR. Dementsprechend wurde in der Zeit von 1951 bis 1956 eine Neuinterpretation der deutschen Geschichte vorgenommen, die ‘Freiheits- und Kampftraditionen des deutschen Volkes’ (Reformation, Bauernkrieg, Befreiungskriege, Revolution von 1848, Arbeiterbewegung und antifaschistischer Widerstand der KPD) in ein selektives, aber positives Geschichtsbild mit nationalen Akzenten integrierte. Die Jahre 1957 bis 1970 waren bestimmt von einer überproportionalen Konzentration auf die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, als deren ‘Krönung’ die DDR dargestellt wurde. Diesem positiven Verlaufsstrang der deutschen Geschichte wurde ein negativ bewerteter Entwicklungsstrang entgegengesetzt, der in der Gründung der BRD gipfelte. Nach dem Machtwechsel von Walter Ulbricht zu Erich Honecker im Frühjahr 1971 wurde auch im Geschichtsbild ein Wechsel von einem gesamtdeutschen Bezugsrahmen zugunsten einer internationalistischen Leitlinie vollzogen. Die DDR wurde nun als eigenständige sozialistische Nation ohne nationale Gemeinsamkeiten mit der BRD dargestellt, deren Entwicklung im Einklang mit der Entwicklung der anderen sozialistischen Staaten unter Führung der Sowjetunion innerhalb eines revolutionären Weltprozesses verlaufen sei.
Da die Eliminierung des ‘national-ethnischen Elements’ sowie die Ausklammerung bestimmter historischer Zeiträume und sozialer Klassen aus dem Geschichtsbild die Identifikation der Bürger mit der DDR nicht fördern konnte, blieb dies eine Zwischenphase, die nur bis 1976 dauerte. Danach begann eine Rückwendung auf die gesamte deutsche Geschichte sowie die Darstellung der DDR als sozialistische, deutsche Nation. Ab 1980 versuchte die SED, ihr Geschichtsbild von simplifizierten Wertungen zwischen progressiv-positiven und negativ-reaktionären Elementen der deutschen Geschichte zu befreien und sich der gesamten deutschen Geschichte als Grundlage zu bedienen. So sollte ein integrales Geschichtsbild entstehen, das nicht mehr nur die Arbeiterklasse, sondern auch die sogenannten herrschenden Klassen ins Blickfeld rückte. Außerdem sollten nicht mehr bestimmte ‘progressive’ Zeitabschnitte der Geschichte einseitig betont werden, sondern die Totalität der deutschen Geschichte wurde als historisches ‘Erbe’ begriffen. Dabei wurde jedoch politisch ausgewählt, was von diesem Erbe als bewahrenswerte und zu pflegende Tradition zu werten sei. Als Tradition in diesem Sinne konnte nur das Erbe der revolutionären deutschen Arbeiterbewegung, die Geschichte der DDR inbegriffen, betrachtet werden. So entstand ein differenzierteres Geschichtsbild, das die deutsche Geschichte in ihrer Totalität und Widersprüchlichkeit erfassen konnte und gleichzeitig einen ‘Anspruch der DDR auf bestimmte, progressiv gedeutete ‘Erbteile’ reklamierte.’ Es handelte sich bei den hier dargestellten Veränderungen im Geschichtsbild jedoch stets nur um einen ‘graduellen Wandel’, da vom Marxismus-Leninismus nie abgerückt wurde, der seit 1948 auch für die Historiographie die verbindliche Ideologie war.
Da die Zeitgeschichte von ihrem Gegenstand her aufs engste die Politik und unmittelbaren Traditionen der SED berührte, konnte Zeitgeschichtsschreibung in der DDR gemäß dem Selbstverständnis der SED als führender gesellschaftlicher Kraft in Geschichte, Gegenwart und Zukunft ‘nichts anderes als eine von dieser Partei ausgehende Geschichtsschreibung sein.’ Zeitgeschichte als Parteigeschichtsschreibung war dementsprechend ‘immanenter Bestandteil der SED-Politik und ihrer jeweiligen Strategie.(...) (Sie) war charakterisiert durch methodische, inhaltliche und ergebnisorientierte externe Vorgaben, die in hierarchisch strukturierten politischen und wissenschaftlichen Einrichtungen formuliert wurden.’ So konnte in der DDR ein zwar politischen Wandlungen unterworfenes, aber offiziell verordnetes Geschichtsbild mit dem Anspruch auf allgemeine Verbindlichkeit für Wissenschaft, Schule und Öffentlichkeit etabliert werden."