Prolog oder Nekrolog?
Ja, ich weiß: Der Verlierer von 2013 sollte sich mit einer Analyse der Wahlniederlage der SPD vom September 2017 zurückhalten. Für manch einen könnte es so aussehen, als versuchte ich, eigene Verantwortung kleinzuschreiben oder nachzutreten. Es besteht jedenfalls das Risiko, missverstanden zu werden. Aber es geht hier nicht um Aufrechnung, und jeder Anflug von Häme liegt mir fern. Bereits nach der Bundestagswahl vom September 2013 drängte ich auf eine ungeschminkte Ursachenanalyse – nicht zu einer bloßen Aufzählung von Fehlern im arglistigen Blick zurück, sondern zur Sammlung von Lehrmaterial im Vorausblick auf eben diese Bundestagswahl 2017. Aber sowohl über den Koalitionsverhandlungen und der Regierungsbildung im Herbst 2013 als auch nach dem Start in die zweite große Koalition innerhalb von drei Legislaturperioden fehlte meiner Partei dafür offenbar nicht nur die Zeit, sondern auch der Wille.
Natürlich hätte eine Analyse der heftigen Wahlniederlagen der SPD 2009 und 2013, die nicht bloß auf der Oberfläche gesurft wäre, viele Tücken für Programm, Ausrichtung und Organisation der Partei sowie nicht zuletzt für einige Spitzenleute und deren Stellung im parteiinternen Kräftefeld offenbart. Deshalb blieb der Deckel auf dem Topf. Schmerzhafte und unfreundliche Abschiede von Illusionen und Ambitionen wurden niemandem zugemutet. Die SPD konzentrierte sich vier Jahre lange auf solide Sachbearbeitung ihrer Koalitionsaufgaben. Die Quittung wurde ihr am 24. September 2017 ausgestellt.
Einer der Antriebe zu dieser Streitschrift liegt in meiner Sorge, dass sich diese Verdrängung der tieferen programmatischen, strukturellen und organisatorischen Ursachen für den Abstieg der SPD wiederholen könnte. Trotz eines noch größeren Wahldebakels 2017 und im Widerspruch zu den verbalen Bekenntnissen aus vielen Ecken der Partei bis hin zum Parteivorsitzenden Martin Schulz, die SPD müsse neu anfangen oder sich neu erfinden. Was das Führungsdeck dem staunenden Publikum bis zum Abschluss dieser Niederschrift Mitte Dezember 2017 geboten hat, vermittelt den Eindruck, dass der Donner nicht gehört worden ist.
Kaum stand die SPD nach dem Knock-out des Wahlabends wieder auf den Beinen, wurden die alten innerparteilichen Reviere neu abgesteckt. Dabei folgte man der zementierten Gepflogenheit, Personalbesetzungen nach Regional-, Flügel- und Geschlechterproporz vorzunehmen. Als ob der Proporzschlüssel auch für Kompetenz, Ausstrahlung, Urteilskraft und Durchsetzungsvermögen stünde. Die Postenverteilung in der SPD-Bundestagsfraktion und in der Geschäftsführung der Parteizentrale drohte zu einer Farce zu werden.
Den wohltuenden Lichtblick des niedersächsischen Wahlergebnisses Mitte Oktober 2017 verstanden einige schon wieder als Entwarnung. Man müsse den eingeschlagenen Weg nur in Verdoppelung aller bisherigen Anstrengungen und in großer Geschlossenheit fortsetzen – Geschlossenheit als Selbstzweck und Instrument des internen Machterhalts, wie der Journalist Christoph Hickmann schrieb. Im Übrigen befinde sich die Union mit einer geschwächten Angela Merkel und angesichts einer offenen Nachfolgefrage auf einem absteigenden Ast, worüber es im Fall leichter Aufwinde für die SPD ja wieder zu einem Punkt gleicher Augenhöhe kommen könnte – fragt sich nur, auf welchem Niveau. Das hat die Qualität von politischen Sandkastenspielen – wie auch die trickreiche Vorstellung in einigen Köpfen, man solle auf einen weiteren Machtverlust von Angela Merkel setzen, indem man eine große Koalition verweigert und dann ihren Verschleiß in einer Minderheitsregierung abwartet.
Der Wahlniederlage folgte alsbald eine Reihe von Papieren – ich zählte fünf bis hin zum Entwurf eines Leitantrages für den Bundesparteitag auf Initiative des Parteivorsitzenden –, die alle den Begriff «Erneuerung» oder dessen Synonyme zum Wort des Jahres der SPD machten. Die meisten gelangten allerdings viel zu schnell an die Öffentlichkeit, ohne dass sie schon bis zum Kern der Misere der SPD vorstoßen konnten beziehungsweise wollten. Möglicherweise dienten sie in erster Linie der innerparteilichen Aufstellung ihrer Autoren mit Blick auf die bevorstehenden Wahlen zum Parteivorstand. Die Protagonisten hielten sich mit schmerzhaften Befunden zur Wahlniederlage überwiegend zurück oder segelten in vertrauten Gewässern, um sich nach einer möglicherweise transitorischen Phase mit dem amtierenden Parteivorsitzenden die Startposition für das nächste Rennen nicht zu vermasseln. Man schützte sich durch taktische Einlassungen, hielt den Kopf aber nicht über die Brüstung.
Olaf Scholz, der sich am stärksten exponierte («schonungslose Betrachtung der Lage»), weckte die üblichen Reflexe, die einer unbefangenen Debatte im Wege stehen. Er stieß zwar auch auf Zustimmung, wurde aber bei der Wahl der stellvertretenden Parteivorsitzenden auf dem Bundesparteitag der SPD im Dezember 2017 mit 59,2 Prozent abgestraft. Damit bestätigte sich, dass solche Wahlen nicht unbedingt die Anerkennung einer präzisen politischen Grammatik widerspiegeln, über die Olaf Scholz wie nur wenige andere verfügt, sondern vielmehr ein Testat innerparteilicher Empathie und Gesinnungstreue sind.
Das Ensemble der engsten Parteispitze wurde im Dezember in einigen Rollen neu besetzt, aber mit Ausnahme einer Genossin, die bis vor kurzem noch Geschäftsführerin des namhaften bayerischen Landesverbandes war und sich im Paternoster so schnell emporgehoben sah, wie sie sich das selbst gewiss nicht hatte vorstellen können, traten weitgehend bekannte Protagonisten auf. Der eine oder andere, der eigentlich eine Hauptrolle übernehmen sollte, fehlt. Und der eine oder andere, der eigentlich in die Provinz geschickt werden sollte, darf weiterhin überall und jederzeit seine Texte aufsagen – unabhängig davon, ob sie ankommen oder nicht.
Der nunmehr mit knapp 82 Prozent bestätigte Parteivorsitzende Martin Schulz machte die unter seinem Vorgänger durchgeführte Verkleinerung des Parteivorstandes auf 35 Mitglieder rückgängig und kehrte zu einem 45köpfigen Vorstand zurück. Abgesehen von der Frage, ob ein Gremium in nahezu halber Kompaniestärke tatsächlich geeignet ist, zielführend zu beraten, oder nicht eher Gefahr läuft, das Format einer geselligen «Palaverrunde» am Lagerfeuer anzunehmen, darf bezweifelt werden, ob diese Volte der Weisheit letzter Schluss ist. Denn es geht gerade nicht darum, die verschiedenen, teils fest gefügten «Strömungen» der SPD zu sammeln, sondern im Gegenteil das Diffuse einzudämmen, der Partei ein markantes Profil zu geben und Führungsanspruch zu erheben. Das muss keineswegs zu Lasten einer lebendigen, also auch kontroversen innerparteilichen Debatte gehen.
Die Erweiterung des Parteivorstandes lieferte jedenfalls kein Indiz dafür, dass an der Parteispitze für gößere Erkennbarkeit und schärfere Konturen gesorgt wird. Es bleibt bei dem frechen Spruch von Helmut Schmidt: «Jeder macht, was er will, keiner macht, was er soll, aber alle machen mit.» Abgesehen von den zehn zusätzlichen Mitgliedern, die vielleicht eher einige altgediente hätten ersetzen sollen, wurde der Parteivorstand weitgehend bestätigt. Ob er die Kraft zur Erneuerung hat und vor allem den Willen, alte Pfade zu verlassen und innerparteiliche Denk- und Verhaltensmuster zu überwinden, wird sich erweisen müssen.
Nun muss man der SPD zugute halten, dass zweieinhalb Wochen vor ihrem Parteitag, am Sonntag, den 19. November 2017, spät abends etwas passiert war, was sie offenbar kalt erwischte: das Jamaika-Aus. Die Sondierungen zu einer schwarz-gelb-grünen Koalition waren gescheitert, indem die FDP glattweg vom Platz ging. Mit diesem Datum veränderte sich die politische Grundkonstellation fundamental. Der Druck richtete sich nicht vorrangig auf den Spielverderber FDP, sondern vielmehr auf die SPD, die sich völlig unvorbereitet zeigte, obwohl doch ein solches Szenario – nicht gewünscht und von vielen auch für unwahrscheinlich gehalten – am Kartentisch in seinen Konsequenzen hätte durchgespielt werden müssen. Direkt nach dem Hakenschlag der FDP flüchtete die Führung der SPD – ohne die angekündigte Ansprache des Bundespräsidenten als Herrn des weiteren Verfahrens abzuwarten und ohne Temperaturfühlung mit der Fraktion – unter der Anleitung ihres Vorsitzenden, der die Zugbrücke zur Union mit jedem Interview höher gezogen hatte, in ihre Burg und wiederholte in einem einstimmigen Beschluss, der wie in Beton gegossen schien, dass die SPD «für den Eintritt in eine große Koalition nicht zur Verfügung» stehe. ...