Kapitel 2
Festhalten
Nicht der Himmel ist meine Grenze –
ich selbst bin es.
T. G. Hodge
Dezember 2015, Marina La Gomera, San Sebastián, La Gomera
Der große Tag begann früh, schon um sieben Uhr fand eine Einweisung statt. Wobei der zeitige Start eigentlich nicht weiter schlimm war, da in der Nacht zuvor ohnehin keine von uns richtig geschlafen hatte. Was uns wach gehalten hatte, war mehr als Reisefieber. Es war das beklemmende Gefühl, jetzt nicht mehr bremsen zu können, was wir vor so langer Zeit in Gang gesetzt hatten. So lange hatten wir auf diesen Tag gewartet, und nun war er da.
In aller Frühe setzten wir uns in einem Café am Strand zu einem »letzten Frühstück« zusammen und genossen schweigend, jede in ihre eigenen Gedanken vertieft, diese letzte richtige Mahlzeit, die wir voraussichtlich in den nächsten drei Monaten bekommen würden. Wir konnten uns nicht losreißen – es war, als wollte in Wirklichkeit keine von uns aufbrechen.
Janette platzte mitten in das Schweigen hinein. »Ich bin so nervös, als würde ich noch mal heiraten.«
»Was zum Teufel tun wir hier überhaupt?«, fragte Helen.
»Tja, wer weiß das schon?«, gab Niki zurück, und wir sahen einander an.
»Mensch, jetzt kommt!« Frances stand auf. Sie war diejenige, die die ganze Sache ins Rollen gebracht hatte, sie war nicht bereit, uns herumtrödeln zu lassen, als hätten wir nichts vor. »Los, auf die Beine!« Damit wandte sie sich vom Tisch ab und ging uns voraus. Ihre Sonnenbrille ließ sie liegen.
Im Besprechungsraum war es still, während Carsten Heron Olsen, Geschäftsführer und Renndirektor, noch einmal die Sicherheitscheckliste durchging, doch Lauren vom Team Row Like a Girl war, wie wir bestürzt bemerkten, vor Nervosität vollkommen aufgelöst. Ganz abgesehen davon, dass sie uns natürlich leidtat, erschreckte uns das, denn sie war eine der wenigen, die wusste, was da draußen wirklich auf uns wartete. Und das Geschenk, das die Leute von La Gomera jeder Mannschaft mit auf die Reise gaben, war kein großer Trost – ein erbauliches Bild der Jungfrau Maria für die Kabinenwand, das (wie uns auffiel) niemand zurückwies. Es war, als erhielten wir die Letzte Ölung. Worauf hatten wir uns da nur eingelassen?
Die Atmosphäre angespannter Stille im Besprechungsraum stand in krassem Gegensatz zu der lärmenden Kulisse draußen. Als wir blinzelnd ins Sonnenlicht hinaustraten, empfingen uns Mengen jubelnder, winkender Menschen und eine lautstarke einheimische Band. Wir ließen die Geräusche über uns hereinbrechen und folgten benommen dem ohrenbetäubenden Donnern der Trommeln.
Den Yorkshire Rows war die Ehre zuteilgeworden, den Hafen als Erste zu verlassen. Es würde wahrscheinlich das einzige Mal sein, dass wir in diesem Rennen die Führung übernahmen, und wir waren unheimlich stolz, aber mindestens ebenso aufgeregt auf unserem Weg zur Rose, die am Steg vertäut lag. Uns schlug das Herz bis zum Hals. Unsere Hände waren feucht. Es war so weit. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Helen, deren Mundwerk normalerweise kaum stillsteht, gab keinen Ton von sich. Wir versuchten, uns voll zu konzentrieren. Plötzlich bekam das, was scheinbar in Zeitlupe begonnen hatte, ein rasendes Tempo. In heller Panik fingen wir an, uns zu fragen, ob wir auch alles dabeihatten. Wo war dies? Wo das? Frances vermisste ihre Sonnenbrille. Wo zum Teufel war die geblieben? Janette fummelte mit der Pinne, prüfte in letzter Minute noch einmal, ob alles in Ordnung war – Batteriestand, Rettungsgurte, Funkgerät. Niki bekam ihre Füße nicht in die Schuhe, und Helen suchte nach irgendeinem Zeichen, dass alles gut gehen würde.
Helen sucht immer nach einem Zeichen. Sie hat eine sehr gute Freundin, Dawn, die Engelkarten und Tarot legt.
»Sie hat mir beigebracht, auf Zeichen zu achten«, erklärte sie uns einmal. »Man muss nur die Augen offen halten, um sie zu erkennen. Früher bin ich immer mit gesenktem Kopf herumgelaufen und habe überhaupt nicht wahrgenommen, was um mich herum vorgeht. Ich war blind für die Chancen und Möglichkeiten, die jede Situation bietet. Sie hat mir beigebracht, dass man nur hinzuschauen braucht und immer jemand da ist, der einem eine helfende Hand reicht. Aber man muss hinschauen und hinhören.«
In der Vorbereitungszeit auf das Rennen hatte Helen überall Zeichen gesehen. Sie betrat ein Restaurant und, siehe da, Ruder schmückten die Wand. Sie machte Urlaub in einem Cottage in Robin Hood’s Bay und stieß in der Küche auf ein riesiges Ruderblatt. Aber vor allem hatte sie’s mit Federn. Sie sah sie allerorten. Sie waren ihr kleines Zeichen der Bekräftigung und Unterstützung.
»Helen!«, schrie Sara, eine der PR-Frauen von Talisker, als wir schon startbereit an den Rudern saßen. »Schau! Schau ins Wasser neben dir.« Wir drehten alle die Köpfe, und da auf dem Wasser, direkt neben Helen, schaukelte eine große weiße Feder.
»Na also!« Helen nickte zuversichtlich lachend dem Ozean entgegen. »Es wird alles gut gehen. Wir werden es schaffen. Wartet nur ab …«
Wir machten uns also auf den Weg zur Startlinie. Mit Janette am Steuer legten wir drei anderen uns in die Riemen und ruderten mit so viel Stil und Eleganz, wie wir nur aufbringen konnten. Wir wussten, dass unsere Familien jetzt, fünf Tage vor Weihnachten und mutterlos, daheim auf dem Sofa saßen, um sich auf BBC Breakfast den Start anzusehen. Wir wollten ihnen etwas bieten.
»Okay, Mädels«, rief Janette lachend, als wir unsere Startposition einnahmen, über uns ein kreisender Hubschrauber, rundherum kleine Boote und große Schiffe, Fernsehteams, rufende, winkende Menschen. »Zeigen wir’s ihnen.«
Wir waren bereit. Janette hielt die Landleine umfasst, Carsten hielt das andere Ende. Das war das Einzige, was uns noch zurückhielt.
»Viel Glück«, rief Carsten. »Wir sehen uns in Antigua.« Er ließ die Leine los. Das letzte Band zum Festland war durchschnitten.
Janette zog sie an Bord. Es war ein seltsames Gefühl. Jetzt ging es wirklich los. Wir waren unterwegs. Unsere Herzen rasten, unsere Nerven flogen. Die letzte Verbindung. Die letzte Berührung mit festem Land und anderen Menschen.
Von nun an würden wir vier auf uns selbst gestellt sein. Es würde hart werden, aber wir würden es schaffen, verdammt noch mal.
Janette stand hoch erhobenen Hauptes, bereit uns zu führen. Sie wusste, dass wir alles geben würden, um der Welt zu zeigen, wer wir waren: entschlossene, starke Frauen.
»Kommt, Mädels!«, feuerte sie uns an, das Gesicht von blonden Haaren umflattert. »Packen wir’s an.«
Carsten gab das Hupensignal, ohrenbetäubend heulte der Ton durch den Hafen. Die Menge jubelte, und wir schossen los, gaben unser Bestes, während wir zu dritt in unseren schwarzen Lycra-Shorts und den Talisker-Westen die Ruder gleichmäßig durchs Wasser zogen, mit Kraft und ganz aufeinander abgestimmt.
»Eins! Zwei!«, brüllte Janette. »Lächeln«, befahl sie. »Ich komm mir vor wie die Königin Boudicca mitten unter ihren Sklavinnen.« Sie lachte. »Wir sind Amazonen.«
»Ziemlich alte Amazonen«, meinte Frances, während sie auf ihrem Sitz gleichmäßig vor- und zurückrollte.
»Nicht alt, sondern reif«, verbesserte Niki sie.
»Reife Amazonen«, stimmte Helen zu, »die einen Ozean überqueren.«
Die Boote starteten im Fünfzehn-Minuten-Takt von La Gomera, und es dauerte nicht lang, da sahen wir das Row-Like-a-Girl-Team mit mächtigem Schlag an uns vorbeiziehen. Wir hatten die Führung genau eine halbe Stunde gehalten. Möglicherweise nicht ganz so lange. Aber das störte uns nicht, uns ging es mehr darum, überhaupt den ersten Wegpunkt zu erreichen, den wir brav in unserem GPS-System gespeichert hatten und jetzt dem immer stärker werdenden Seegang zum Trotz anzupeilen versuchten. Das Problem war, wie wir bald merkten, dass niemand da ist, dem man folgen kann, wenn man als Erster startet. Inzwischen waren auch alle anderen Boote ausgelaufen und wenig später schon verschwunden.
Eben noch hatten wir ein von Booten gesprenkeltes Meer vor uns gehabt – Menschen um uns, mit denen wir uns in den drei Wochen auf der Insel angefreundet hatten. Und nun war plötzlich niemand mehr zu sehen. Es war wie ein ozeanisches Versteckspiel. Wir waren allein.
Aber wir hatten gar keine Zeit, uns darüber Gedanken zu machen. Gewiss, rundum war noch Land in Sicht, doch der Ozean übernahm schon die Herrschaft. Die Wellen wuchsen, die Strömung wurde stärker und riss die Rose mit sich. Immer wieder versuchten wir zu rudern, und immer wieder wurden uns die Ruder aus den Händen gezerrt. Es tat höllisch weh.
Der Seegang war so stark, dass wir in den Wellen keinen Kontakt fanden, und wenn doch, wurden wir mit den Rudern nach hinten geschleudert, unfähig, ihren Schlägen auszuweichen, die uns an Beinen und Oberschenkeln trafen, wie Schwerthiebe auf dem Hals landeten oder, besonders schmerzhaft, auf dem Schambein. Es war ein qualvoller Kampf, auf den wir nicht vorbereitet gewesen waren. Und es war kalt, bitterkalt; wir wurden unablässig von zwölf Meter hohen Wellen mit eisigem Salzwasser übergossen. Von links und rechts peitschte der Ozean auf uns ein, und die Ruder taten, was sie wollten. Es war eine echte Feuertaufe; wir zogen ständig unsere Regenausrüstung an und wieder aus und klammerten uns verzweifelt ans Boot. Und dabei waren wir gerade erst ausgelaufen.
»Das soll eine Ruderregatta sein?«, schrie Frances, an die Bootsseite geklammert, während wir schon wieder eine zwölf Meter hohe Wellenwand ritten. »Da geht’s...