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Marxismus und Stalinismus

Politische Aufsätze

AutorGeorg Lukács
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2018
ReiheLukács: Ausgewählte Schriften 4
Seitenanzahl252 Seiten
ISBN9783688109586
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
? Autobiographisches Vorwort: Mein Weg zu Marx ? Aktualität und Flucht ? Über Preußentum ? Schicksalswende ? Parteidichtung ? Literatur und Demokratie ? Freie oder gelenkte Kunst? ? Der Kampf des Fortschritts und der Reaktion in der heutigen Kultur ? Postscriptum 1957 zu: Mein Weg zu Marx ? Brief an Alberto Carocci ? Zur Debatte zwischen China und der Sowjetunion. Theoretisch-philosophische Bemerkungen ? Probleme der kulturellen Koexistenz ? Enzyklopädisches Stichwort: Sozialismus als Phase radikaler, kritischer Reformen ? Quellennachweis ? Personen- und Sachregister

Georg Lukács (1885-1971) war ein ungarischer Philosoph, Literaturwissenschaftler und -kritiker.

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Leseprobe

I. Aktualität und Flucht


Jeder Krieg treibt die politischen und sozialen Probleme der beteiligten Länder auf die Spitze; sonst verborgene Widersprüche werden offenbar, und scheinbar verharschte Wunden brechen auf. Der moderne, der «totale» Krieg bedeutet nicht nur die militärische und wirtschaftliche, sondern auch die ideologische Mobilmachung des ganzen Volkes.

In der zweiten Frage scheint jedoch in der kapitalistischen Welt kein restloser Erfolg der sonst allmächtigen Staatsapparate vorzuherrschen. Aus verschiedenen Ländern, vor allem aus Deutschland, vernahmen wir Klagen und Anklagen, daß die Literatur sich nicht mit voller Kraft für die entscheidende aktuelle Aufgabe, für den Sieg einsetzte, daß viele, oft nicht unbeträchtliche Schriftsteller abseits stehen, daß sie sich auf der Flucht vor dem großen aktuellen Thema befinden.

Diese Frage haben die faschistischen Länder in der Form direkter staatlicher Aufrufe an die Schriftsteller aufgeworfen. Soweit es sich um wirkliche, aus innerem Bedürfnis schaffende Schriftsteller der bürgerlichen Welt handelte, war jedoch die Wirkung nicht beträchtlich. Mehr Erfolg versprechen die indirekten Methoden. Die Literaten stellen selbst die Frage der Aktualität als schriftstellerisches Problem, als zentrales Problem eines wirklich großen Schrifttums.

Im allgemeinen mit vollem Recht. Denn es hat noch nie eine wirklich große Literatur gegeben, die an den großen, historisch und sozial entscheidenden Fragen ihrer Zeit achtlos vorbeigegangen wäre. Haben Schriftsteller, die noch so begabt gewesen sein mögen, den Aufruf der Epoche zu ignorieren versucht, der – wie wir später sehen werden – mit den Aufrufen der Regierungen und mit den Propagandalosungen der offiziellen Literatur insbesondere in reaktionären Ländern keineswegs ohne weiteres identisch ist, so haben sie selbst im voraus das Todesurteil über ihre entstehenden Werke gesprochen. Die Aktualität der wirklich bedeutenden Literatur scheint also, allgemein gesprochen, eine Selbstverständlichkeit, ja ein Gemeinplatz zu sein.

Aber nur allgemein gesprochen. Konkret nimmt die Frage in den verschiedenen Ländern, in den verschiedenen Entwicklungsperioden sehr unterschiedliche Gestalt an. Das in seiner Allgemeinheit selbstverständlich Erscheinende wird unter bestimmten Umständen höchst problematisch. Und diese Problematik enthüllt dann, auf dem Umweg über die fragwürdige Beziehung der Literatur zur Gegenwart, die innerste Problematik eines ganzen gesellschaftlichen Systems.

In den aktuellen Debatten in Deutschland wurde tatsächlich die Frage zuweilen so gestellt. Es wird darauf hingewiesen, daß die öffentliche geistige Aussprache über gewisse Gegenstände oft andeute, Werte und Anschauungen, die mit diesen Gegenständen in irgendeiner Verbindung oder in irgendeinem Zusammenhang stehen, seien fragwürdig geworden. Die Schriftsteller stellen die Frage vom Standpunkt der qualitativ hochwertigen Literatur, besser gesagt, des Fehlens einer solchen Literatur. Gehen sie jedoch bis zum Grunde, so kommt zumindest das Gefühl, wenn auch nicht die begriffliche Anschauung auf, daß etwas fehle, etwas nicht in Ordnung sei. Ein Schriftsteller vergleicht die Literatur nicht unrichtig mit einer Uhr, die die Weltstunde anzeige. Und er fügt mit einer gewissen Melancholie hinzu, sie sei zu Goethes Zeiten ein Wunderwerk gewesen. Wer mag es zerstört haben?

Dieses Unbehagen kann durch eine reiche und vielfältige aktuelle Tagesliteratur nicht behoben werden. Eine solche gab es und gibt es immer. Besonders in den Anfangszeiten eines Krieges. Begeisterte Gedichte, hymnische Reportagen, sachliche und gefühlsbetonte Fronterlebnisberichte über interessante Abenteuer, über Bewährung der Kameradschaft usw. entstehen massenhaft. Aber die Erfahrungen des ersten imperialistischen Weltkrieges zeigen, daß diese Stimmungen und ihr literarischer Ausdruck, die nicht bis zur Quelle, bis zu den wirklichen Kriegszielen und ihrem wirklichen Zusammenhang mit den echten Interessen der Nation hinunterreichen, keine dauerhafte Wirkung auszuüben imstande sind. Insbesondere müssen sie versagen, wenn der Krieg seinen Höhepunkt überschritten hat und wenn die soziale Problematik, die ihm zugrunde liegt, offen zutage tritt.

Das Unbehagen an den gesellschaftlichen Zuständen ist in der kapitalistischen Welt schon lange eine allgemeine Erscheinung. Freilich wird es zeitweilig von rauschartigen Hoffnungen über eine innere Erneuerung abgelöst. Solange jedoch das wirkliche Fundament, die kapitalistische Wirtschaftsordnung, nicht verschwindet, muß selbst die höchstgespannte Erwartung unerfüllt bleiben und zu Enttäuschungen führen. Man hat den Eindruck, daß diese Enttäuschung schon vor dem Ausbruch des zweiten imperialistischen Krieges weite Kreise erfaßt hatte, natürlich ohne daß den Enttäuschten die wirklichen sozialen Gründe klargeworden wären. Haben doch auch die Wünsche und Hoffnungen, die rauschartigen Begeisterungen einen verworren messianischen Charakter an sich gehabt. Die Enttäuschung drückt sich also schriftstellerisch darin aus, daß das Ideal einer so tiefen Sehnsucht in seiner Verwirklichung ganz anders aussieht als in den Träumen, daß man aus der poetischen Hoffnung einer erneuerten Welt in der alten Prosa des Kapitalismus erwacht.

Diese Enttäuschung kann deshalb schriftstellerisch eindrucksvolle und angemessene Verkörperungen erhalten, auch dort, wo die Autoren bewußt nicht einmal ahnen, was sie mit dieser Gestaltung wirklich zutage fördern. So hat ein italienischer Dramatiker, Cesare Meano, das uralte romantische Thema vom Troubadour Geoffroy Rudel und Melisande von Tripolis dramatisch bearbeitet. In der Sage und in ihren bisherigen Bearbeitungen (Uhland, Heine, Rostand) entsteht ein Hohelied der Sehnsuchtserfüllung. Der Troubadour hat sich in die unbekannte Prinzessin verliebt, setzt sein Leben ein, um sie zu sehen, erreicht nach langen Irrfahrten todkrank das ersehnte Ziel und stirbt im Augenblick des Findens in den Armen Melisandes. Der dichterische Sinn der Legende ist klar: es hat sich gelohnt, für eine solche Sehnsucht sein ganzes Leben einzusetzen, selbst wenn die Erfüllung nur im Augenblick des Todes, nur für die Minuten des Sterbens gegeben ist. Meano gibt nun der Sage eine sehr eigenartige, neue und bezeichnende Wendung. Die letzten Worte seines Helden im Augenblick der Erfüllung seiner Lebenssehnsucht sind: Es war der Mühe nicht wert.

Man könnte die Enttäuschung allerdings auf das bloß Private, bloß Erotische beschränken. Es ist aber für die wirkliche Dichtung bezeichnend, daß ihr Symbolgehalt – gewollt oder ungewollt – über den auslösenden Anlaß hinausgeht, und sei dieser noch so lebenswichtig und an sich hinreißend. Die triumphierende Hymnik der Liebe Romeos und Julias ist zugleich der Fanfarenton des Sieges der neuen Welt über den zusammenbrechenden Feudalismus. Die enttäuschte Melancholie in der Liebe Frédéric Moreaus zu Madame Arnoux in Flauberts ‹L’éducation sentimentale› ist zugleich eine vernichtend desillusionierende Kritik des Bürgerkönigtums und des Zweiten Kaiserreichs in Frankreich. So scheint uns, daß auch Meanos Desillusionspointe – gewollt oder ungewollt – über das bloß Erotische hinausgeht, daß das Sich-nicht-Lohnen eine Zusammenfassung der verschiedenartigsten Formen der Sehnsucht ist, die in der Nachkriegszeit große Massen der europäischen Völker erfaßt haben.

Solche Stimmungen der Enttäuschung und des Unbehagens sind in der kapitalistischen Welt weit verbreitet, aus ihnen entsteht literarisch die Flucht vieler Schriftsteller vor den Problemen der Gegenwart, vor dem aktuellen Stoff. Es ist kein Zufall, daß aus solchen Stimmungen eine Wendung vieler Schriftsteller zur Geschichte entstanden ist, obwohl die große Rolle der historischen Dichtung, des historischen Romans und Dramas, in den letzten Jahren keineswegs ausschließlich, wahrscheinlich nicht einmal vorwiegend diese Grundlage hat; vor allem nicht in der Literatur der antifaschistischen Emigration. Es ist aber verständlich, daß gerade im zweiten Jahr des letzten Weltkrieges, zu der Zeit, da seine Langwierigkeit und Schwere immer stärker ins allgemeine Bewußtsein drang, die Frage der Aktualität der literarischen Themen wieder auftaucht und Diskussionen über den historischen Roman hervorruft.

Ist die Wendung der Schriftsteller zur Geschichte notwendig eine Flucht vor der Gegenwart, vor der Aktualität? Dies ist der teils offen ausgesprochene, teils latente Inhalt der Diskussionen in der deutschen Literatur. Eine eindeutige Antwort ist hier nicht möglich; das wissen auch die meisten Diskussionsteilnehmer. Insbesondere wenn, was häufig vorkam, der historische Stoff eine spontane Antwort von Schriftstellern und Publikum in der kapitalistischen Welt auf ein bestelltes aktuelles Thema, auf bestellte Bekenntnisse gewesen ist, wenn infolgedessen das Publikum über eine solche Aktualität «mit den Füßen abgestimmt» hat, wenn die Schriftsteller vor den erzwungenen Bekenntnissen in ferne Zeiten geflohen sind. Insofern die Mode des historischen Romans in einigen Ländern, vor allem in Deutschland, solche Grundlagen hat, bedeutet sie ohne Frage eine Flucht.

Auf dieser Grundlage gedeihen aber notwendigerweise nur Werke von ebenso schlechter Qualität wie jene, vor deren Stoff man die Flucht ergriff. Darum steht verständlicherweise im Mittelpunkt der Diskussionen die Frage der literarischen Qualität. Verständlicherweise, aber keineswegs mit der erwünschten Lösung. Von autoritativer Seite erhielt das Dringen auf Qualität zeitweilig große Aufmunterungen. Es wird z.B. gesagt, daß jedes gute Buch ein politisches Buch sei. Allgemein ästhetisch gesprochen ist das zweifellos wahr. Es...

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