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E-Book

Das Kind in mir ist immer da

Mein Leben für die Gleichwürdigkeit

AutorJesper Juul
VerlagBeltz
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl205 Seiten
ISBN9783407865229
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Nicht perfekt sein müssen, um Kinder dennoch gut zu erziehen - das ist Jesper Juuls Botschaft. Hunderttausenden Eltern vom Nordkap bis Sizilien hat er damit den Alltag erleichtert. Die Anerkennung der Würde jedes Einzelnen in der Familie ist für Juul die Basis für ein gutes Zusammenleben. In diesem Buch erzählt er zum ersten Mal von seiner eigenen Kindheit und seinem außergewöhnlichen Leben zwischen tiefen Brüchen und großen Erfolgen. Juuls Autobiografie wirft ein neues Licht auf den Mann, der mit dänischer Geradlinigkeit und einem großen Einfühlungsvermögen in Familien zum innovativsten Erziehungsexperten Europas wurde.

Jesper Juul (1948-2019) war einer der bedeutendsten und innovativsten Familientherapeuten Europas. Über 40 Jahre lang arbeitete der Däne mit Familien; seine Bücher sind Bestseller und wurden in viele Sprachen übersetzt. Sein »gelassener Optimismus« (Der Spiegel) wurde zu seinem Markenzeichen. Er gründete das familylab, das mit Elternkursen und Schulungen in Deutschland, Österreich, der Schweiz und 19 weiteren Ländern in Europa und Übersee aktiv ist. Jesper Juul war Vater eines Sohnes und Großvater zweier Enkelsöhne.

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Leseprobe

Meine Mutter


Am 18. April 1948 wurde ich in Vordingborg, einem kleinen Küstenstädtchen im Süden Seelands, im Nachkriegsdänemark geboren. Das Land war damit beschäftigt, sich von fünf schrecklichen Jahren deutscher Besatzung zu erholen, vom Anblick exekutierter Nazi-Kollaborateure, wir Familien lebten noch von Essensmarken. Meine Eltern stammten aus kleinbürgerlichen Verhältnissen, mein Großvater väterlicherseits war selbstständiger Maler und Anstreicher, der Vater meiner Mutter selbstständiger Sattler. Meine Eltern lernten sich über eine Partneranzeige kennen, was damals auf dem Land nicht unüblich war. Beide waren sie die jüngsten von vier Geschwistern. Meine Geburt verlief ohne besondere Vorkommnisse – für meine Mutter aber war sie ein herausragendes Ereignis: Sie bedeutete die Erfüllung eines lebenslangen Traumes.

Meine Mutter entpuppte sich von Beginn meiner Kindheit an als sehr besitzergreifend: Ich war ihr Junge, ich war ihr kleiner Mann. Den Geschichten, die man mir später erzählt hat, entnehme ich, dass ich von meinem ersten Tag an gegen diese Rolle protestiert habe. Ihre Reaktion auf meinen Protest war, noch hartnäckiger um meine Liebe und Anerkennung zu kämpfen. Ihr Leben lang. Das war krankhaft. Heute ist sie 96, hat Alzheimer und ist sehr glücklich. Sie lebt in Ebeltoft, wohin wir neun Jahre nach meiner Geburt gezogen sind.

Meinem Vater wiederum schenkte sie, soweit ich zurückdenken kann, so gut wie keine Beachtung. Und er forderte nichts ein. Als ich dreieinhalb Jahre alt war, kam er eines Tages von der Arbeit nach Hause und nahm meine Mutter mit in ihr gemeinsames Schlafzimmer im oberen Stockwerk der Wohnung. Mir wurde gesagt, ich solle unten bleiben und mit meinem kleinen Bruder spielen. Doch wie gewöhnlich gehorchte ich nicht. Ich ging die Treppen hoch, und während ich vor der Schlafzimmertür stand, hörte ich meinen Vater sagen, dass er sich in eine andere Frau verliebt habe und sich von meiner Mutter scheiden lassen wolle. Dagegen protestierte meine Mutter, wobei es ihr wohl gar nicht so sehr um ihn und das gemeinsame Eheleben ging, sie brachte vor allem uns Kinder ins Spiel: Wegen uns dürfe er sie nicht verlassen. Mit diesem einen Argument hämmerte sie auf ihn ein. Ich spürte es schon damals: Gleich würde er aufgeben, denn das tat er immer. Was ich in diesem Augenblick genau gedacht habe, daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Aber ich bin rasch die Treppen hinuntergelaufen und dabei gestürzt – die Bescherung war eine große, blutende Kopfwunde. Meine Eltern kamen aus dem Schlafzimmer heraus, und ich hörte meine Mutter sagen: »Siehst du, wie er dich braucht!«

Meine Mutter; leider besitze ich kein Foto meines Vaters.

Meine Mutter und ich.

Mein Bruder


Auch meine Beziehung zu meinem jüngeren Bruder Peter hat unter meiner Mutter gelitten. Meine Mutter zerstörte sie, falls sie überhaupt jemals existiert hatte. Ich war für meine Mutter immer die Nummer eins. Weil sie mich wollte, aber nie bekam. Peter, 1951 geboren, war immer die Nummer zwei, und das hat er deutlich gespürt. Für mich war es hilfreich, dass ich eine Distanz zu meiner Mutter herstellte, mich von ihr stark separierte.

Wie üblich, reagierten wir Geschwister unterschiedlich. Wir beide »kooperierten«, ich, indem ich mich »schwierig« verhielt, und mein Bruder, indem er ihr das gab, was sie erwartete, und gehorchte. Unser beider Verhalten würde sich in unseren späteren Beziehungen zu Frauen als hinderlich erweisen. Während ich Nähe mied, wurde mein Bruder schnell abhängig und war stets bemüht, andere zufriedenzustellen. Schließlich gelang es uns beiden, ein gesünderes Gleichgewicht zu finden – aber leicht war es nie. Aus heutiger Sicht betrachtet, könnte dies der Beginn meines lebenslangen Interesses für den Konflikt zwischen persönlicher Integrität und Kooperation gewesen sein. Auch heute noch, obschon abhängig von meinen Betreuern und Betreuerinnen, tendiere ich dazu, ihre Bedürfnisse zu priorisieren. Als Erwachsener ist mir der Konflikt jedoch bewusst, und so gelingt es mir größtenteils, auf meine eigenen Bedürfnisse zu achten.

Meine Mutter fing dann an, meinen jüngeren Bruder zu ihrem »Projekt« zu machen – und er fügte sich in seine Rolle. Er hat es mir nie verziehen, dass ich mich der Familie entzogen hatte. Er mochte unsere Mutter genauso wenig wie ich, aber er versuchte, das Vakuum, das ich in der Familie hinterlassen hatte, zu füllen. Schwierig und trotzig zu sein gehörte schon mit fünf oder sechs Jahren zu meiner Identität. Auf diese Weise konnte ich mich der Familie erfolgreich entziehen – sie ließ mich in Ruhe und erwartete nichts.

Mein Bruder (dritter von rechts), vier meiner Cousinen und ich.

Mein Großvater väterlicherseits erhält eine Auszeichnung des Königs für seine Unterstützung der Jugend seiner Heimatstadt, 1959.

Mein Vater


Ich erinnere mich noch an folgende Situation vor über 60 Jahren: Mein Vater kommt von der Arbeit nach Hause, er setzt sich an den Tisch und liest Zeitung. Nun wollte ich als kleiner Junge jedoch, dass er mir aus meinem Märchenbuch vorliest. Ich ging also zu ihm hin, bat ihn darum, und was geschah? Er schaute mich nicht einmal an, sondern meine Mutter. Und die verstand seinen Blick: »Nimm ihn weg, er stört mich!« Als »gute Frau« hätte sie mich sogar auf dem Weg zu ihm aufgehalten und mir vorwurfsvoll gesagt: »Siehst du nicht, dass dein Vater Zeitung liest? Du darfst ihn nicht stören!«

Solche Blicke und solche Sätze verletzen ein Kind zutiefst! Aber früher war es gang und gäbe, dass Kinder dafür, dass sie mit den Erwachsenen Kontakt aufnehmen wollten, zurechtgewiesen oder sogar bestraft wurden. Welch eine Enttäuschung und Kränkung für ein Kind, das seinen Vater zehn Stunden lang nicht gesehen hat, sich auf ihn freut und auf ihn zugeht – und dafür dann beschimpft und zum »bösen Jungen« gemacht wird! Wie sollten Kinder da nicht verwirrt sein? Sind Erwachsene nicht recht widersprüchliche Wesen? Sie verlangen von dir, dass du fremde Menschen küsst, aber wenn du dich deinem eigenen Vater nähern willst, erlauben sie es nicht.

Sprechendes Schweigen


Meinen Eltern kann ich, wenn man bedenkt, in welcher Zeit sie uns Kinder großgezogen haben, gar nichts vorwerfen. Damals führte man keine Dialoge mit Kindern. Eltern besprachen mit ihren Kindern nur das Notwendigste, und auch Mann und Frau unterhielten sich so wenig wie möglich.

Mein Vater hat in all den Jahren meiner Kindheit und Jugend kaum mit uns gesprochen, und wenn er mal etwas sagte, dann kurz und bündig. Meine Mutter hingegen redete die ganze Zeit, aber sie wusste nicht, wie man ein Gespräch führt. Sie wusste immer, was man in der einen oder anderen Situation zu sagen hat, so, wie es von einem erwartet wird. Sie hatte also Phrasen für den Todesfall, für Glückwünsche, für Unfälle oder Krankheiten parat, aber sie hat es nie zu ihrer eigenen Sprache gebracht. Sie sprach eine Sprache, die ich nie lernen konnte und lernen wollte, sodass ich bis zum heutigen Tag nicht weiß, was man sagt. Statt zu sprechen, schwieg auch ich lange Zeit, aus dem einfachen Grund, weil mir eine persönliche Sprache fehlte. In diesem familiären Kontext war es mir unmöglich, meine persönliche Sprache zu entwickeln. Die elementare Sprache, mit der Kinder geboren werden, bedurfte aus Sicht der Erwachsenen einer unnachgiebigen Korrektur, und so wurde damals das direkte »Ich will!« oder »Ich will nicht!« schnellstmöglich ausgemerzt, in der Schule sowieso. Kein Satz durfte mit »Ich« anfangen.

An der Peripherie


Meine Eltern blieben also zusammen – aber von dem Tag an, als mein Vater den Wunsch nach einer Trennung ausgesprochen hatte, waren beide unglücklich. Meine Mutter übernahm jetzt die komplette Kontrolle über ihren Mann, und mein Vater verschwand im Schatten seiner Frau, bis wir schließlich einen Fernseher bekamen, hinter dem er sich von sechs bis zehn Uhr abends verstecken konnte. ...

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