1. Einleitung
Die Entwicklung eines neuen Medikaments kostet in Europa und den USA derzeit etwa 600–800 Millionen Dollar, und der Patentschutz währt nur wenige Jahre. Anschließend kann jeder, der etwas von Chemie versteht, die Substanz nachbauen, für wenig Geld unter die Leute bringen und dennoch eine Menge Profit machen. Jedoch nicht jedes der neu entwickelten Medikamente schafft es auf den Markt. Sehr viele werden irgendwann unterwegs aufgegeben, etwa weil man sieht, dass die im Tiermodell gefundenen Effekte beim Menschen nicht auftreten, oder weil die positiven Effekte mit zu vielen Nebenwirkungen erkauft werden müssen. Das Ganze ähnelt einem verstopften Trichter: Oben wird viel an Arbeit und Ressourcen eingefüllt, aber nur sehr wenig findet seinen Weg auf den Markt und damit in die Gewinnzone.
Im Klartext: Pharmaunternehmen müssen, um rentabel zu arbeiten, die Kosten der Fehlschläge auf die vermarktbaren Medikamente umlegen und sehen, dass sie ihre Kosten in etwa sieben Jahren einbringen. Denn dann schlägt die billige Konkurrenz zu. Wer aber bezahlt all das? Sie und ich – über unsere Krankenkassenbeiträge. Oder abstrakter: die Öffentlichkeit. Die Pharmabranche ist der einzige Industriezweig, der fast ausschließlich aufgrund öffentlicher Förderung gedeiht und die dabei gemachten Gewinne an die Eigner der Firmen weitergibt. Umgekehrter Kommunismus sozusagen.
Bedenkt man nun, dass die Menschen immer älter, die Krankheiten immer teurer, die technischen und pharmakologischen Möglichkeiten der Lebensverlängerung immer ausgefeilter werden, dass die Auflagen von Behörden zunehmen, dass man die genetischen Hintergründe des Abbaus pharmakologischer Substanzen immer genauer erforschen wird, dass im Moment nur ein Bruchteil der Weltbevölkerung nach diesem Modell behandelt wird, aber alle anderen unserem Beispiel folgen wollen, und dass auch die Pharmabranche ein klares Expansionsinteresse hat – bedenkt man all das, kann man eigentlich nur drei aufeinander aufbauende Schlussfolgerungen ziehen:
Es handelt sich um eine spiralförmige Entwicklung, die irgendwann nicht mehr beherrschbar sein wird.
Es muss im Interesse der Akteure liegen, die mit diesem System Geld verdienen, das System so lange zu erhalten wie nur irgend möglich.
Man muss das System fundamental verstehen, kritisieren und entsprechend handeln, wenn man es verändern will. Und nicht mal hier eine rote Liste von Arzneien aufstellen und mal dort eine Sparmaßnahme beschließen.
Wenn man diese Entwicklung zusammennimmt, dann kann man eigentlich nur zu der Schlussfolgerung kommen, dass wir Gesundheit und Krankheit aus einer neuen Perspektive betrachten sollten. Muss sich etwas ändern? Wenn ja, was? Und: Wie genau könnte diese notwendige Veränderung nachhaltig vonstattengehen? Gibt es vielleicht andere Denkmodelle? Wie könnten sie aussehen?
All diesen Fragen möchte ich in diesem Buch nachgehen und einige Antworten vorschlagen. Zwei wichtige Antworten möchte ich für neugierige Leser vorwegnehmen:
Ich denke, dass es notwendig ist, die Rolle der Person, der Patienten und damit auch der Ärzte in diesem System neu zu denken. Bislang wird der Patient als ein passiver Empfänger von therapeutischen Handlungen gesehen, die Fachleute, Ärzte und Gesundheitspersonal, an ihm oder ihr ausführen. Das sieht man schon am Sprachgebrauch. »Patient« kommt vom lateinischen »pati- – leiden«. So definiert sind Patienten nicht nur Menschen, die an ihrer Krankheit leiden, sondern auch die Passiven. Das linguistische »Passiv«, also die Wortform patient, signalisiert, dass etwas an mir oder mit mir gemacht wird. Demgegenüber sollten wir betonen, dass Patienten in erster Linie Akteure sind, Handelnde – außer sie sind in akuter Lebensgefahr und handlungsunfähig. Daher heißt mein Schlagwort: vom Patienten zum Agenten, vom Erleidenden zum Handelnden.322 Und das Wundermittel, das diese Wandlung vollbringt, heißt: »Verantwortung«. Damit meine ich, dass wir alle uns unserer Verantwortung, auch unserer Freiheit und unserer Fähigkeit, uns zu entscheiden, bewusst sind. Im Kontakt mit Ärzten und therapeutischem Personal ergibt sich daraus eine partnerschaftliche Beziehung, im Idealfall. Diese ist Voraussetzung für gelingende Heilung.
Unser medizinisches System ist unschlagbar gut, wenn es um die Behandlung akuter Krankheiten und Notfälle geht. Denn es hat sich schließlich auch aus der Tradition der Versorgung akut Kranker entwickelt – von Verletzten in den Kriegen und von akut Gefährdeten durch lebensbedrohliche Krankheiten und Unfälle. Dabei hat es sich einer bestimmten Denkfigur bedient, die den Körper als eine biologische Maschine sieht, die zu reparieren ist. Das Dumme ist nun, dass die meisten Krankheiten, die heute zu einem Problem geworden sind, chronischer Natur sind und sehr häufig eine Folge unseres Lebensstils und manchmal auch die Folge von früheren, mehr oder weniger erfolgreichen medizinischen Behandlungen. Um solche Krankheiten mit Erfolg zu behandeln oder, noch besser, gar nicht erst aufkommen zu lassen, bedarf es eines anderen Denkmodells. Auch hier ist der Schlüssel wieder: Wir sollten uns alle als Akteure, als Handelnde begreifen und uns unserer Verantwortung bewusst werden. Dies hat notwendigerweise auch Auswirkungen auf das medizinische Denkmodell. Daher spreche ich von einem neuen »Paradigma«. Was das heißt und wie dies aussieht, das will ich im Folgenden skizzieren.
Auf jeden Fall hätte all das weitreichende Konsequenzen für unser Denken und Handeln im Gesundheitssystem. Die Grundlagen und Folgen werde ich in diesem Buch beschreiben.
Zuvor jedoch ein paar Worte zu meiner Person. Ich war an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder tätig. Dort hatte ich eine Professur für Forschungsmethodik inne und bildete Ärzte im Rahmen des von mir geleiteten weiterbildenden Studiengangs »Kulturwissenschaft – Komplementärmedizin« aus. Mit der Forschung auf dem Gebiet der Komplementärmedizin habe ich mich die letzten 30 Jahre befasst und war damit einer der Ersten in diesem Land, der sich diesen Themen zugewandt hat. Derzeit arbeite ich an neuen Konzepten, etwa als Professor der Medizinischen Universität Poznan in Polen und als Dozent an der Universität Witten-Herdecke.
Ich möchte Sie Anteil nehmen lassen an meinen Visionen und Wunschvorstellungen – daran, wie ich mir den Weg in eine zukünftige nachhaltige medizinische Versorgung und Gesundheitskultur vorstelle. Diese Vorstellungen beruhen auf meinen bisherigen Erfahrungen und Forschungen. Mir geht es dabei nicht darum, irgendjemanden – Ärzte, Politiker, die Industrie – an den Pranger zu stellen. Das wäre billig. Nein, mein Anliegen reicht tiefer: Wie müsste eine Medizin aussehen, die die positiven Einsichten und Errungenschaften bewahrt und gleichzeitig schädliche Exzesse überwindet? Ich meine, der Schlüssel für eine Antwort liegt im Verständnis dessen, was sich in den letzten Jahrzehnten am Rande der Hochschulmedizin und in der Grundlagenwissenschaft zugetragen hat.
Dort haben sich in der biologischen Grundlagenforschung, aber auch im Bereich der Placeboforschung interessante Einsichten aufgetan. Man hat zum einen begonnen zu verstehen, dass unser Organismus ein hoch vernetztes und selbsttätiges System ist, das sich auf vielerlei Weise die Bedingungen seiner Existenz immer wieder neu schafft, viele Fehlerkorrekturen eingebaut hat und auf äußerst raffinierte Weise mit der Umwelt zusammenwirkt. Gene, von denen man sich einstmals den Schlüssel zum Verständnis der Krankheiten erwartet hat, erweisen sich als Schalter, die nur in einem bestimmten Milieu aktiv sind. Mit anderen Worten, es hängt von unserem Verhalten ab, von dem, was wir tun und essen, lassen und zu uns nehmen, ob Gene aktiv werden oder nicht.
Daraus hat sich ein Bild ergeben, das unter dem Stichwort »Theorie komplexer Systeme« oder »Systembiologie« beschreibt, dass unser Organismus in vielfältigen Interaktionen mit der Umwelt, die er selbst gestaltet, seine Gesundheit aufrechterhält oder auch zu seiner Erkrankung beiträgt.
Durch die Placeboforschung hat sich gezeigt, wie mächtig psychologische Prozesse beim Zustandekommen von Krankheit und bei der Gesundung sind. Was wir erwarten und befürchten, was wir erhoffen und glauben, das bestimmt zu einem guten Teil, was geschehen wird. Diese Erkenntnisse kommen nicht zuletzt aus der akademischen Beschäftigung mit der Komplementärmedizin.
Mit Komplementärmedizin sind all die Bereiche der Medizin gemeint, die nicht an den Hochschulen gelehrt und beforscht werden und daher auch nicht in die Ausbildung unserer jungen Ärzte einfließen, etwa die Homöopathie, die Akupunktur, das geistige Heilen und seit neuerer Zeit Methoden der Gesunderhaltung und Therapie durch Meditation und Geistesschulung. Ärzte bilden sich in solchen Methoden oft fort, wenn sie bereits seit einiger Zeit praktisch tätig sind und sehen, dass sie mit konventionellen Methoden nur begrenzt weiterkommen, oder weil Patienten danach fragen.
Warum ist die Komplementärmedizin so in der Gunst der Verbraucher gestiegen, und zwar zu einer Zeit, da unser medizinisches und soziales System zu dem besten gehört, was es auf der Welt gibt? Warum wird diese Entwicklung von Vertretern der Hochschulmedizin meist ignoriert? Ich meine, dies hängt damit zusammen, dass sich hinter den Ansätzen der Komplementärmedizin (nicht immer, aber oft) andere Vorstellungen vom Menschen, ganzheitliche Konzepte von Krankheit und Heilung verbergen, die nur schwer im Rahmen der gültigen Modelle von Ursache...