1. L’Chaim – auf das Leben
Mein 60. Geburtstag war ein wunderbares, fröhliches Fest. Ich denke sehr, sehr gerne daran zurück! Fast alle konnten der Einladung folgen, meine Familie, Freundinnen und Freunde, Menschen, mit denen ich gern zusammengearbeitet habe. Die Erinnerung daran lässt es mir heute noch warm ums Herz werden, schöner hätte ich es mir nicht vorstellen können. Ich bin rundherum dankbar dafür!
Meinen 40. Geburtstag habe ich im kleineren Familienkreis gefeiert. Die Kinder waren alle schulpflichtig, der Beruf als Generalsekretärin des Kirchentages stellte große Anforderungen an mich, da war die Energie zum Feiern begrenzt. Am 50. war ich gerade ein Jahr geschieden, nach einem Fest war mir nicht zumute. Der bischöfliche Garten war an diesem Tag von 11 bis 15 Uhr für Gratulanten offen, und am Samstag darauf habe ich mit Freundinnen eine kleine Gartenparty veranstaltet. Mit dem 60. war es anders. Meinen 60. Geburtstag wollte ich feiern, das Leben, das war, das Leben, das ist, und auch, was noch kommen mag!
Ich hatte große Lust darauf, alle Menschen, die mir wichtig sind, zusammenzuholen. Da ist zum einen meine große Familie – meine Kinder mit ihren Partnern und meinen Enkeln, meine Schwestern mit ihren Ehemännern, Kindern und Enkeln. Mein Onkel, der gerade seinen 85. gefeiert hat, mit seiner Ehefrau. Sein Zwillingsbruder war leider krank geworden. Freundinnen und Freunde, Menschen, mit denen ich gern zusammengearbeitet habe und die so zu Vertrauten geworden sind. Und auch meine Nachbarn auf Usedom, wo ich seit 2011 ein Haus habe.
Da ich lange genug vorab eingeladen hatte, haben viele meiner Gäste die Reise nach Usedom mit einem Kurzurlaub verbunden. In Hessen war Feiertag, Fronleichnam. Aus Frankfurt, Gießen, Wolfhagen und Kassel kamen viele schon am Mittwoch vorher, manche haben eine ganze Woche Urlaub gemacht, andere kamen für das Wochenende. Und die Ostsee zeigte sich von ihrer allerbesten Seite. Alle konnten Strand und Sonne genießen, das war schlicht ein großes Glück. Es gibt auf Usedom zwar die meisten Sonnenstunden in Deutschland, aber diese können durchaus auch kühl sein, und garantiert ist ein solches Wetter Anfang Juni nicht.
Ich hatte Urlaub, war schon zwei Wochen vorher angereist, hatte Haus und Garten vorbereitet. Nach und nach kamen meine Töchter mit ihren Familien, meine Schwestern mit den ihren, Freundinnen und Freunde. Ein Schwiegersohn hatte die Idee gehabt, die Garage auszuräumen. Inzwischen ist es unter uns ein immer wieder im Raum stehender Witz, dass ich gesagt habe: Klar, das ist doch in einer Stunde gemacht. Denn es hat dann einen ganzen Tag gedauert. Wir hatten die Garage noch nie leer geräumt, seit ich das Haus gekauft habe, und stießen auf die erstaunlichsten Dinge. Eine alte Zinkwanne, ein Surfbrett sowie diverse Mäusenester! Das war der Mittwoch. Am Donnerstag war Zeltaufbau, Männersache. Ich hatte versucht, ein Zelt auszuleihen, was immens teuer gewesen wäre. Dann kam die Idee auf, eines zu kaufen. Das hat ein Drittel gekostet – allerdings ohne Aufbau. Sechs Männer, meinen 85-jährigen Onkel eingeschlossen, sind das derart systematisch angegangen, dass ich nur staunen konnte. Und sie hatten Spaß dabei! »Ein Gemeinschaftserlebnis!«, sagte ein Schwiegersohn. Er hat es dann sogar geschafft, das Zelt fünf Tage nach dem Fest bei eBay zu verkaufen – »guter Deal«, würde Donald Trump sagen.
Freitag lieferte die Inselküche Biertischgarnituren, Geschirr und Besteck. Meine Töchter Hanna und Lea radelten los und holten Blumen vom Feld, wir haben den ganzen Nachmittag dekoriert. Am Abend war das Haus dann schon rappelvoll. Viele Gäste kamen vorbei – zum Glück hatten meine Zwillingsonkel die Getränke für die Feier als Geschenk geliefert. Den beiden fühle ich mich besonders verbunden. Sie waren es, die 1947, im Alter von 14 Jahren, meine Mutter am Bahnhof von Rauschenberg abgeholt hatten. Hinter ihr lagen zwei Jahre Internierung in Dänemark. Im Forsthaus lebten da schon 24 andere Verwandte, so viele hatten hier auf der Flucht Zuflucht gefunden. Trotzdem haben sie auch meine Mutter freudig begrüßt.
Wir sind, seit ich denken kann, miteinander verbunden. Ursel, die Frau von Klaus, hat mir viel beigebracht: Vom Putzen bis zur Verkaufsstrategie! Wunderbar, nun beide hier zu haben.
Es war so ein lustiger Abend. Er wurde auch genutzt, das Gästebuch des Ferienhauses für die Einträge am nächsten Tag vorzubereiten – mit einer Sammlung der lustigsten Zitate von mir. Ich muss immer wieder lachen, wenn ich das lese. Kurz vor Mitternacht habe ich dann alle rausgeworfen – denn die ersten Kinder werden immer gegen sechs Uhr wach. Das bedeutet Aufstehen für alle in so einem kleinen, hellhörigen Haus.
Samstagvormittag sind wir alle an den Strand gegangen. Es war wunderbar, fast die ganze Geburtstagsgesellschaft hat sich da schon getroffen. Im Haus waren inzwischen 17 Personen untergebracht, und nach und nach wurde eine Sandkruste auf dem Fußboden spürbar. Die Kinder haben sich köstlich amüsiert, aber die Küche sah aus wie ein Schlachtfeld, und der Kühlschrank war völlig überlastet. Ich mag so ein Chaos – und genau diesen Satz haben meine Töchter mir dann mit vielen anderen Zitaten ins Gästebuch geschrieben.
Mit meiner ältesten Schwester Ursula konnte ich an diesem Morgen ein wenig schwimmen gehen. Die Liebe zum Wasser hat unsere Mutter uns mitgegeben! Das haben wir beide festgestellt, und auch unsere Schwester Gisela hat es bestätigt. Schön, wie uns manches verbindet. Unsere Mutter ist in Latzig bei Köslin aufgewachsen. Wenn Urlaub möglich war, dann hieß es: Ans Meer!
Nach der Strandzeit wurde versucht, alles so weit wie möglich aufzuräumen. Um 17 Uhr kamen die restlichen Gäste, alle haben sich auf verschiedene Weise am Fest beteiligt. Eine Freundin hat 60 Luftballons mitgebracht, andere haben geholfen, diese mit Helium zu füllen. Zu Beginn gab es ein Gruppenfoto – ein voller Garten, fröhliche Gäste, blauer Himmel, bunte Luftballons. Schöner kann es kaum sein. Nur einer meiner Enkel weinte bitterlich, weil die bunten Ballons weggeflogen sind. Und dann haben wir angestoßen mit einem Crémant, den meine Onkel aus dem Elsass mitgebracht haben. Sie waren dafür eigens in der Partnerstadt von Hinterzarten, wo Klaus lebt. »L’Chaim« – dachte ich, auf das Leben!
Mir gefällt dieser jüdische Trinkspruch, mit dem beim Essen oder bei Festen angestoßen wird. Da geht es nicht darum, dass alles gut ist. Es ist auch nicht dieses ewige: »Hauptsache Gesundheit«. Es ist ein Anstoßen auf das Leben mit allen Höhen und Tiefen, die dazugehören.
Schon als ich 59 wurde, dachte ich: Den 60. Geburtstag würde ich gern einmal richtig feiern. Es ist ein besonderes Datum, noch dazu, weil ich mit diesem Tag in den Ruhestand eintrete. Ich werde nicht noch einmal so groß feiern, aber es war großartig, ja perfekt.
Janice Love war aus Atlanta gekommen – sie hatte die weiteste Anreise. Ich habe gestaunt, von Atlanta nach Usedom! Das heißt erst einmal nach Amsterdam fliegen, dann nach Berlin. Und dann mit dem Zug vom Bahnhof Friedrichstraße nach Bernau, weiter nach Züssow, bis auf die Insel. Echt ein Kraftakt. Aber sie hat gestrahlt und gesagt, es wäre ihr ein Vergnügen. Fünf Jahre zuvor war ich zu ihrem 60. in die USA geflogen. Wir kennen uns seit 1983. Eine wunderbare, lebenslange Freundschaft.
Meine Freundin Almut war mit ihren Töchtern und deren Partnern gekommen. Elke und Friederike kamen aus Berlin, Stefanie, Tina und Hanna aus Hannover, Annette aus Amsterdam, andere aus Leipzig, Limburg und sogar Wien. Einige mit Partner, andere allein. Es ist ein Zeichen für eine enge Verbindung, wenn Menschen so lange Wege für ein Fest auf sich nehmen, einzelne sogar auch nur für eine Nacht! Dadurch, dass das Fest auf mehrere Tage »gestreckt« war, konnte ich den meisten Gästen auch etwas länger begegnen. Wie schön, dass auch die Usedomer Nachbarn mit dabei waren, und es war gut zu sehen, wie leicht sich alle miteinander verständigt haben. Da gab es keinerlei Berührungsprobleme zwischen Ost und West! In einer benachbarten Pension waren die meisten untergebracht und haben das gemeinsame Frühstück gleich genutzt, um neue Kontakte zu knüpfen. Janice Love wurde gut integriert, alle haben für sie so gut wie möglich das Schulenglisch zusammengesucht.
Nach der Begrüßung kam das Büfett, das die Inselküche wunderbar arrangiert hatte. Anschließend haben meine vier Töchter eine Rede gehalten. Sie haben 60 lustige Begegnungen mit mir zusammengestellt, jede von ihnen hat zwei davon vorgetragen. Zum Beispiel die Geschichte, als ich auf die Idee kam, schnell einen Teppich für unseren langen Hausflur im Pfarrhaus zu kaufen, obwohl eigentlich gar keine Zeit dafür war. Zack, zack, wurde alles ausgemessen, und wir sausten los. Am Ende lagen jahrelang viel zu kurze Teppichabschnitte im Flur, über die unsere Besucher immer wieder gestolpert sind – weil das Ausmessen doch etwas zu schnell über die Bühne gegangen war und nichts passte. Ich hatte das alles längst vergessen und musste lachen, als Sarah die Geschichte nun zum Besten gab. Bei aller Freude an den lustigen Begebenheiten, die die vier zusammengetragen hatten, spiegelte sich in den Beiträgen meiner Töchter vor allem Dankbarkeit und Wertschätzung. Das war für mich sehr, sehr anrührend. Ich war den Tränen nahe.
Diese vier jungen Frauen stehen jetzt mitten im Leben, bei mir ist langsam eine Art Rückzug angesagt. Und ich genieße die Zeit des Zusammenseins: Die Enkelkinder stromern in Haus und Garten herum, die Schwiegersöhne sind mit dabei – das ist ein ganz großes Glück, für das ich dankbar bin. Und dass wir im Rückblick über viele Begebenheiten miteinander...