Weitergabe von kriegsbedingten Traumata
Im Laufe der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema der Weitergabe von Kriegsdramen an die nachfolgende Generation bin ich auf die Arbeiten einiger höchst einprägsamer Autoren gestoßen. Sabine Bode, Hilke Lorenz, Luise Reddemann, Ingrid Müller-Münch, Anne-Ev Ustorf, Bettina Alberti, Udo Baer und seine Frau Ursula Frick-Baer und Matthias Lohre sind nur einige davon. Besonders beeindruckt hat mich vor allem die publizistische Arbeit von Dr. Jürgen Müller-Hohagen, neben der von Hartmut Radebold.
In Deutschland stand in den ersten Jahren nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs 1945 der Wiederaufbau der zerstörten Existenz und die wirtschaftliche Stabilisierung für viele Menschen im Vordergrund. Eine kollektive Verarbeitung der traumatischen Kriegsereignisse fand in diesem Zeitraum kaum oder nur unzureichend statt. Neben der Konzentration auf den Wiederaufbau war ein Hauptgrund hierfür auch die Schwierigkeit für die unmittelbar Beteiligten, über die eigene Schuld oder das erfahrene Leid zu sprechen. Auch weil beides zu schmerzhaft und untrennbar miteinander verbunden war.
Angesichts der Mitverantwortlichkeit der Deutschen an der Massenvernichtung der Juden zeigten sich viele Menschen dieser Kriegsgeneration gehemmt, über das eigene – doch vergleichsweise kleinere – Schicksal zu klagen. Infolgedessen wurden die eigenen seelischen Belastungen durch Hunger, Flucht, Vertreibung oder den Verlust von Angehörigen oftmals tabuisiert oder verschwiegen. Erst in den letzten Jahren sind die Kriegstraumatisierungen der Generation des Zweiten Weltkriegs in das Interesse der Öffentlichkeit und Forschung gerückt. So stellte beispielsweise Heike Lorenz in ihrem Buch „Kriegskinder: Das Schicksal einer Generation“ die Erlebnisse und Entwicklung dieser Kinder anhand von Biografien in den Vordergrund.
Der Altersforscher und Psychoanalytiker Hartmut Radebold, selbst als Kriegskind im Zweiten Weltkrieg geboren, gilt als eine der führenden Koryphäen in der Kriegskinderforschung. Er untersuchte unter anderem den Einfluss der Kriegsereignisse auf den Verlauf der Kindheit und des späteren Erwachsenenlebens der Kindergeneration des Zweiten Weltkriegs. Radebold verweist darauf, dass nicht nur die direkte Kriegseinwirkung, sondern auch Folgeerscheinungen, wie die kriegsbedingte Abwesenheit der Väter, längere Trennung von der Mutter, Gewalterfahrung oder Traumatisierung von Familienangehörigen im Krieg, die Kindergeneration stark belastet haben.
Eine deutlichere Wahrnehmung, nicht nur der Kriegsgeneration, sondern auch der ihrer Kinder, erfolgt zudem durch ein verstärktes Interesse der Medien. Beim ersten internationalen Kongress „Die Generation der Kriegskinder und ihre Botschaft für Europa 60 Jahre nach Kriegsende“ im April 2005 konnten erstmals in einem großen Kongress die traumatischen Erlebnisse besprochen werden. Es dauerte fast 60 Jahre seit Kriegsende, bis die eigenen belastenden Kriegserlebnisse öffentlich angesprochen werden durften. Mit hoher Sensibilität konnten die deutschen Kriegsopfer ihren Belastungen Raum geben, ohne dabei das Verbrechen an den Juden zu relativieren.
Ergebnisse einer Langzeitstudie der Psychoanalytischen Vereinigung mit 400 Patienten der Kriegsgeneration, die zwischen 1990 und 1993 eine Psychoanalyse beendet hatten, zeigten, dass bei 54 Prozent der Teilnehmer der Krieg Folgen hinterlassen hatte. Es fanden sich körperliche Langzeitschäden durch Mangelernährung, Probleme mit der Selbstfürsorge, psychosomatische Beschwerden, Einsamkeit, Flucht in Leistung, Empathiestörungen, Identitätsund Beziehungsstörungen.
Nach fast 70 Jahren Frieden in Mitteleuropa ist ebenfalls durch Auslandseinsätze unserer Bundeswehrsoldaten, zum Beispiel in Afghanistan, und den daraus resultierenden Traumatisierungen bei einigen der jungen Männer die Bedeutung dieser Zusammenhänge in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Der Umgang mit psychischen Störungen erscheint heute offener und weniger tabuisiert, ein zeitnahes Helfen wird angestrebt.
In den letzten Jahren kam zunehmend die Frage auf, ob – und wenn ja wie – sich die Traumatisierungen der Kriegsgeneration auf die nachfolgenden Generationen auswirken. Unter anderem wurde untersucht, welche Folgen die verdrängten, verleugneten oder verschwiegenen traumatischen Erlebnisse auf die nachfolgenden Generationen haben können. Auch durch die therapeutische Behandlung der Nachkommen von Opfern des Holocausts ist das Thema der Transgenerationalität von Traumata in das Interesse der Öffentlichkeit gerückt.
In der heutigen Zeit, in der das Medium Internet mit zahlreichen sozialen Plattformen einen großen Stellenwert eingenommen hat, haben sich auch die Möglichkeiten für Betroffene verbessert, Menschen mit ähnlichem Schicksal zu finden und sich mit diesen auszutauschen. Als Beispiele hierfür lassen sich das „Forum für Kriegsenkel“ und die „Kriegsenkel-Gruppe-Berlin“ benennen.
Prof. Dr. med. Hartmut Radebold ist Psychiater und Psychoanalytiker. Er hatte von 1976 bis 1998 den Lehrstuhl für Klinische Psychologie an der Universität Kassel inne und leitete bis 2008 das Lehrinstitut für Alterspsychotherapie in Kassel. Er gilt als Begründer der deutschsprachigen Psychotherapie Älterer. Er hat über die transgenerationale Weitergabe kriegsbelasteter Kindheiten, abwesende Väter und über Psychoanalyse Älterer in Deutschland publiziert.
Jürgen Müller-Hohagen ist psychologischer Psychotherapeut in eigener Praxis in Dachau und war bis 2011 Leiter einer Erziehungs- und Familienberatungsstelle in München. Er war Vorstandsmitglied des Vereins „Zum Beispiel Dachau“ und pflegt seit Langem Kontakt zu ehemaligen Häftlingen und historisch Forschenden. 2001 gründete er mit seiner Frau das Dachau Institut Psychologie und Pädagogik. Er ist 1946 in Westfalen geboren und lebt seit 1986 in Bayern.
Zu seinen Büchern zählen unter anderem „Verleugnet, verdrängt, verschwiegen: Seelische Nachwirkungen der NS-Zeit und Wege zu ihrer Überwindung“, „Geschichte in uns. Seelische Auswirkungen bei den Nachkommen von NS-Tätern und Mitläufern.“
Und er lebt in Dachau, einer Stadt, mit der ich einzig und allein das Vorhandensein der Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers in Verbindung brachte, bis ich ihn in einem Herbst einen ganzen Tag lang zu Hause in seinem Arbeitszimmer konsultieren durfte.
Am 22. März 1933, wenige Wochen nachdem Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt worden war, wurde in Dachau ein Konzentrationslager für politische Gefangene errichtet. Es diente als Modell für alle späteren Konzentrationslager und als „Schule der Gewalt“ für die Männer der SS, unter deren Herrschaft es stand. In den zwölf Jahren seines Bestehens waren hier und in zahlreichen Außenlagern über 200.000 Menschen aus ganz Europa inhaftiert. 41.500 wurden ermordet. Am 29. April 1945 befreiten amerikanische Truppen die Überlebenden.
Müller-Hohagen hatte ich über seine Literatur schätzen gelernt, schreibt er doch wissenschaftlich und zudem gut lesbar über die Dinge, die mir so bekannt vorkamen: „Das unfassbare Ausmaß an Schrecken, Leid und Schuld der NS-Zeit hat alle geprägt: Verfolgte, Flüchtlinge, Bombenopfer, Soldaten, Täter und Mitläufer. Viele meinen, mit dem wachsenden Zeitabstand werde Verschwiegenes, Verleugnetes, Verdrängtes von damals immer weniger wirksam. Das kann sein. Es kann aber auch genau das Gegenteil zutreffen. Oft finden sich noch tiefe Spuren in der zweiten und dritten Generation“ (Müller-Hohagen, 2005).
Solche Nachwirkungen der NS-Zeit beobachtet der Psychotherapeut Müller-Hohagen seit Jahren in seiner Arbeit. Immer wieder stellt er dabei fest, dass derartige Spätfolgen nicht in Betracht gezogen werden. „Dann suchen Menschen an der falschen Stelle nach Wegen aus ihren heutigen Schwierigkeiten. Durch eine Annäherung an die verborgenen Anteile der eigenen Familiengeschichte ergeben sich oft unerwartet klare Lösungen.“
Müller-Hohagen befasst sich seit 1983 mit den Folgen der NS-Zeit. Für mich ist er als Mensch, als Mann, als Analytiker, als Wissenschaftler, ein beinahe väterlich anmutender Held. Er selbst ist vor allem ein aufmerksamer Zuhörer, ein sympathischer Fachmann, der seine Forschungen „ein prägendes Spezialgebiet“ nennt. Die Möglichkeit der positiven Übertragung setzte sofort ein, als ich ihm gegenüber in seinem Konsultationszimmer Platz nahm, ihm in die Augen sah, die Ruhe seines Arbeitszimmers wahrnahm und er mit mir die ersten Worte wechselte. Sofort hatte ich ein Gefühl der tiefen Vertrautheit und wusste, dass, wenn ich einen solchen Menschen zum Vater gehabt hätte, vieles ganz anders verlaufen wäre.
„Mit dem Wort Trauma, als Vorgang der Traumatisierung, werden Ereignisse und die dadurch hervorgerufenen Schockzustände und deren seelische und körperliche Folgen bezeichnet, bei denen große Gefährdungen für die betreffende Person auftreten,...