2 Palliative Care
David Oliver
Zusammenfassung
Ziel der Palliative Care ist die Verbesserung der Lebensqualität von ALS-Patienten und ihren Angehörigen durch die sorgfältige multidisziplinäre Erkennung der körperlichen, psychosozialen und spirituellen Probleme. Sie sollte durch alle Fachkräfte im Gesundheits- und Sozialwesen erfolgen; bei komplexeren Beschwerden müssen gelegentlich auch Spezialisten hinzugezogen werden.
Fallbeispiel
Der 45-jährige Herr S. wurde von seiner Frau, die aus ihrer vorherigen Ehe zwei Kinder mitgebracht und gemeinsam mit ihm eine vierjährige Tochter hatte, gepflegt. Er war immer sehr aktiv gewesen und hatte als Friseur gearbeitet, bis seine Hände und Beine infolge von ALS dazu zu schwach geworden waren. Mit zunehmender Verschlechterung wurde er rollstuhlpflichtig und die Kommunikation mit ihm sehr eingeschränkt. Da seine Frau durch die pflegerische Belastung und die Versorgung der Kinder zunehmend überlastet war, wurde er zur Einschätzung der Gesamtsituation vorübergehend in ein Hospiz aufgenommen. Während dieser Zeit wurden seitens seiner Frau Bedenken laut, dass sie nicht zurechtkommen würde, wenn er wieder nach Hause käme. Nach eingehenden Diskussionen innerhalb der Familie und mit den Hospiz-Mitarbeitern wurde beschlossen, dass er wieder nach Hause zurückkehrt, sie aber mehr Unterstützung erhält und er zu ihrer Entlastung regelmäßig wieder in das Hospiz aufgenommen wird. Die Kommunikation wurde nach einer Beurteilung durch einen Logopäden mit neuen Hilfsmitteln erleichtert und sein Speichelfluss durch eine regelmäßige anticholinerge Medikation eingeschränkt. Seine Frau und seine Kinder wurden regelmäßig vom Sozialdienst und von Pflegeteams unterstützt. Die Kinder wurden einbezogen und während seiner zunehmenden Verschlechterung begleitet. Nachdem er zuhause verstorben war, wurde die Familie während der Trauerphase und der Bestattung weiter begleitet.
Palliative Care ist definiert als:
… ein Ansatz zur Verbesserung der Lebensqualität von Patienten und ihren Familien, die mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung konfrontiert sind. Dies geschieht durch Vorbeugen und Lindern von Leiden durch frühzeitige Erkennung, sorgfältige Einschätzung und Behandlung von Schmerzen sowie anderen Problemen körperlicher, psychosozialer und spiritueller Natur (World Health Organization 2002).
Da die einzige derzeit zur Behandlung von ALS verfügbare Option die Krankheitsprogression allenfalls aufhalten kann und nicht kurativ ist, kann man mit Fug und Recht sagen, dass die Behandlung dieser Patienten vom Zeitpunkt der Diagnose an palliativ erfolgt (Kristjanson LJ et al. 2003).
Das Ziel der Palliative Care ist die »ganzheitliche« Betrachtung der Patienten unter Berücksichtigung ihrer sozialen Unterstützung, die in der Regel durch die Familie erfolgt. Dieser holistische Ansatz ist bei der Pflege von ALS-Patienten essenziell. Er muss beginnen, noch bevor die Diagnose bestätigt wurde, und über den gesamten Krankheitsverlauf hinweg beibehalten werden.
An dieser Stelle sei hervorgehoben, dass Palliative Care
• das Leben bejaht und Sterben als normalen Prozess anerkennt
• den Tod weder beschleunigt noch verzögert
• Schmerzen und andere belastende Symptome lindert
• psychologische und spirituelle Aspekte der Betreuung integriert
• Angehörigen Unterstützung während der Erkrankung des Patienten und in der Trauerzeit bietet
• auf einem Teamansatz beruht, um den Bedürfnissen der Patienten und ihrer Familien zu begegnen, auch durch Beratung in der Trauerzeit, falls notwendig
• die Lebensqualität fördert und möglicherweise auch den Verlauf der Erkrankung positiv beeinflussen kann (World Health Organization 2002).
In der Vergangenheit gab es insbesondere bei der Pflege von onkologischen Patienten viele Diskussionen über die unterschiedlichen Rollen der kurativen und der palliativen Therapie. Dabei wurde vorgeschlagen, die kurative Behandlung so lange fortzuführen, bis kein weiterer Nutzen mehr erzielt werden kann, und erst dann mit der Palliative Care zu beginnen. Der Zeitpunkt für diese plötzliche Umstellung der Behandlung ist sehr variabel und kann erst spät im Krankheitsverlauf liegen, wenn der Tod unmittelbar bevorsteht. Dadurch wird dem Patienten oft Unterstützung, wie die Kontrolle der Symptome oder eine psychosoziale Betreuung, vorenthalten. Heute ist man sich der Bedeutung eines ganzheitlichen Ansatzes bei der Behandlung und Pflege von Patienten mit einer potenziell unheilbaren Krankheit weitaus stärker bewusst, insbesondere wenn ihre Progredienz schwer vorhersagbar ist. Wissenschaftliche Untersuchungen aus den USA haben gezeigt, dass eine frühzeitige Palliative Care nicht nur die Lebensqualität von Patienten mit Lungenkrebs verbessert, sondern auch ihre Prognose (Temel JS et al. 2010).
In der Neurologie wird man sich zunehmend bewusst, dass bei Patienten mit bestimmten neurologischen Erkrankungen eine Palliativbetreuung indiziert ist. Das Ethics and Humanities Subcommittee of the American Academy of Neurology (AAN) hat festgestellt, dass »Neurologen die Prinzipien der Palliative Care verstehen und anwenden« müssen (The American Academy of Neurology, Ethics and Humanities Subcommittee 1996). Die ALS gilt als eine der progredienten und unheilbaren neurologischen Erkrankungen, bei denen dieser Ansatz gerechtfertigt ist und »die optimale medizinische Versorgung davon abhängt, bei jedem Patienten die am besten zum Erreichen dieser Ziele geeigneten Maßnahmen zu ermitteln« (The American Academy of Neurology, Ethics and Humanities Subcommittee 1996). Studien haben gezeigt, dass sich die Pflege und Behandlung von ALS-Patienten verbessert haben und mehr als 90% friedlich versterben können (Mandler RN et al. 2001; Neudert C et al. 2001).
Oft wollen jedoch die Patienten und ihre Angehörigen nicht akzeptieren, dass die Krankheit progredient verläuft, und schätzen die Art und das Fortschreiten der Krankheit viel zu optimistisch ein. Die Ärzte haben kaum Erfahrung mit dem Überbringen schlechter Nachrichten und empfinden es oft als schwierig, den Patienten diese Informationen zu geben (Fallowfield LJ et al. 1998; Fallowfield LJ et al. 2002). Deswegen erhalten der Patient und seine Angehörigen oft nur eine suboptimale Betreuung, Symptome bleiben ungelindert und die psychosozialen Bedenken werden nicht oder nur halbherzig thematisiert – bis schließlich der Tod unmittelbar bevorsteht und kaum noch Optionen vorhanden sind, um diese Angelegenheiten zu besprechen. Da die ALS mit progredienten Verlusten und zunehmender Behinderung einhergeht, müssen alle Aspekte der Palliativbetreuung unbedingt so früh wie möglich angegangen werden:
• körperliche Aspekte, wie die Symptomkontrolle
• psychische Aspekte, wie Ängste und Sorgen aufgrund der Krankheit
• soziale Aspekte, unter Einschluss der Familie und und dem Patienten nahestehenden Personen
• spirituelle Aspekte, Fragen zum Sinn des Lebens und Zukunftsängsten
Wenn die Kommunikation des Patienten durch den Verlust der Sprache eingeschränkt ist, sind Gespräche über ihn belastende Aspekte nur schwer möglich. Bei einer frühzeitigeren Intervention zu einem Zeitpunkt, an dem der Patient sich leichter verständlich machen kann, keine Kommunikationshilfen benötigt und mit geringerer Wahrscheinlichkeit kognitive Veränderungen aufweist, sind Interaktion und Kommunikation besser möglich.
Oft gibt es Hürden bei der Einleitung der Palliative Care – seitens des Arztes und/oder des Patienten und seiner Angehörigen (Kristjanson LJ et al. 2003). Viele Ärzte sehen ihre Aufgabe auch weiterhin darin, zu heilen und Krankheiten zu lindern, obwohl ein Großteil der Behandlung tatsächlich auf die Palliation von Symptomen und Behinderungen abzielt. Die Ärzte müssen die Grenzen der verfügbaren Therapien akzeptieren und den Patienten und ihren Angehörigen positiv, aber realistisch gegenübertreten. Dies gilt insbesondere für ALS-Patienten, die mit fortschreitender Krankheit mit zunehmenden Verlusten konfrontiert werden und viel Unterstützung beim Umgang mit diesen Verlusten und den sich anschließenden notwendigen Änderungen in ihrer Lebensführung benötigen.
Die negative Sicht mancher Ärzte kann sich nachhaltig auf die Patienten und ihre Angehörigen übertragen. Diese Einstellungen sind oft nur schwer zu ändern, da sie auf Unbehagen beim Umgang mit sterbenden Patienten, mangelnder Akzeptanz der Unvermeidbarkeit von Symptomen, Distanzierung bei Unmöglichkeit...