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E-Book

Achttausend drüber und drunter

Mit den Tagebüchern von Nanga Parbat, Broad Peak und Chogolisa

AutorHermann Buhl
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl368 Seiten
ISBN9783492972635
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Er war ein Star des Sports, noch vor den Fußballhelden von Bern: der einzigartige Hermann Buhl. 1953 bezwang er den 8125 Meter hohen Gipfel des Nanga Parbat im Alleingang, 1957 zählte er zu den vier Erstbesteigern des Broad Peak. Im Rahmen der Neuausgabe seines Buches werden seine Tagebücher von beiden Expeditionen erstmals vollständig veröffentlicht - eine Sensation in der Bergliteratur.

Hermann Buhl, geboren 1924 in Innsbruck, 1957 an der Chogolisa (Karakorum) tödlich verunglückt, war Bergführer. Der legendäre Erstbesteiger des Nanga Parbat (1953) bezwang 1957 mit dem Broad Peak seinen zweiten Achttausender. Sein Buch erschien 1954, wurde zum Bestseller und erlebte zahlreiche Übersetzungen.

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Leseprobe

ALPINE LEHRJAHRE


Aus mir wird niemals ein Bergsteiger …


Ich bin in Innsbruck geboren. Die Berge schauten in meine Wiege. Die Liebe zu ihnen war wohl vererbt. Mein Vater war ein begeisterter Bergwanderer, und meine Mutter stammte aus dem Grödnertal, also aus dem Herzen der Dolomiten. Ich war erst vier Jahre alt, als ich sie verlor. Sie muß eine feine, zarte Frau gewesen sein, deren Verständnis über den Rahmen des Alltags hinausreichte und sich auf Dinge erstreckte, die man nicht nach ihrem materiellen Wert beurteilen konnte. Ihr Bild und die Sehnsucht nach ihr begleiteten mich im Leben.

Es schien unsinnig, daß ich Bergsteiger werden wollte, daß in mir ein unlöschbares Feuer der Begeisterung für die Welt der Gipfel, Wände und Grate brannte. Ich war als Kind so zart, so schwach, daß ich sogar ein Jahr später als normal in die Schule kam. Trotzdem träumte ich von den Bergen. Bei Schulausflügen blieb ich oft bei Wasserfällen oder anderen romantischen Stellen stehen. Es war mir, als ob die Berge eine eigene Sprache zu mir redeten und ich ihnen zuhorchen müßte. Wenn Lehrer und Gefährten mich schalten oder verlachten, dann schwieg ich. Würden sie mich denn überhaupt verstehen, wenn sie selbst nicht die Stimmen hörten?

Zu meinem zehnten Geburtstag fragte mich mein Vater, ob ich zur Feier des Tages lieber eine Bahnfahrt nach Bregenz an den fernen Bodensee oder eine Besteigung des Glungezer machen wollte. Es gab kein langes überlegen für mich. Der Glungezer war immerhin 2600 Meter hoch. So wanderten wir auf diese Bergkuppe oberhalb Innsbrucks. Jenseits des Tales sah ich nun die ganze Nordkette vor mir, ein Gewirr von Zacken und Türmen, von abenteuerlichen Felsgestalten und schier endlosen Graten. Stark und groß müßte man sein, um dort klettern zu können. Von Berg zu Berg, von Turm zu Turm …

Wenige Jahre später wurde die Nordkette bei Innsbruck mein Hauptbetätigungsfeld. Fast jeden Sonntag war ich droben. Das war allerdings nicht so einfach. Wir waren streng religiös erzogen. Ein Sonntag mußte durch den Besuch der Messe die richtige Weihe und Würde bekommen. Also gab es auch keine Tour ohne vorherigen Gottesdienst. Da wir aber in Innsbruck lebten, wo man den Wünschen der Bergsteiger Rechnung trägt, ohne die Rechte der Kirche zu schmälern, gab es Frühmessen, Gottesdienst gewissermaßen zwischenNacht und Tag. Man mußte eben schon vor vier Uhr früh aufstehen, um in die Kirche und doch noch rechtzeitig auf den Berg zu kommen.

Die Leute, die mich wegen meines schwächlichen Aussehens bedauerten oder nicht als vollwertigen Jungen nahmen, hatten nicht recht. Ich war nicht zu schwach. Nicht für die Berge. Ich lief und tollte, kletterte und sprang. Bergauf, bergab. Das Steigen schien mir so leicht. Und wenn irgendwo kahler Fels aus Schutt und Schnee emporwuchs, stopfte ich meine Schuhe in den »Schnerfer«, den kleinen Rucksack, und kletterte den Stein in Wollsocken empor. Ich hatte kein Geld für Kletterschuhe. Das bedrückte mich aber nicht. Mich bedrückte überhaupt nichts, wenn ich nur droben in den Felsen sein durfte. Abends stand ich dann wieder im Tal des Inn, in irgendeiner Straße meiner Heimatstadt und blickte hinauf zur Nordkette. Dort oben also war ich gewesen? Auf diesem oder jenem Zacken? Ich war klein und zart und in den Augen der würdigen, heimkehrenden Sonntagsspaziergänger bestimmt etwas komisch. Trotzdem fühlte ich michin meinem kindlichen Stolz auf meine eingebildete Leistung über sie erhaben. Zu Hause wurde meine Begeisterung meistens gedämpft. Man sah das Wesentliche: die zerrissenen Wollsocken. Ich erfand alle möglichen Erklärungen und Ausreden. Zuletzt stand ich doch – mit geröteten Backen da. Bestimmt werde ich in Hinkunft auf die Socken besser aufpassen! Bis zum nächsten Sonntag.

Der Mensch wächst mit seinen höheren Zielen. Auch wenn er in einen so engen Rahmen gestellt wurde wie ich. Mit meinem Schulfreund Ernstl wollte ich einmal etwas richtig Zünftiges machen. Eine Kletterei mit Seil und allem Drum und Dran. Es gab herrliche, verführerisch schöne Seile. In den Schaufenstern der Sportgeschäfte. Für Menschen, die sie auch bezahlen konnten. Nicht aber für kleine Buben mit großen Rosinen im Kopf. Aber ein Seil mußte her. So wechselte der stiefmütterliche Wäschestrick vom Balkon in meinen Rucksack.

Draußen vor den Toren der Stadt allerdings wechselte unser Bergseil wieder seinen Platz. Wir trugen es abwechselnd um die Brust, die stolzgeschwellte. Was war das für ein erhebendes Gefühl. Wir kamen uns nicht die Spur lächerlich vor, sondern als verwegene Berghelden, wie wir sie aus Büchern und Liedern kannten. »Das Seil um die Brust … «

Das Brandjoch war unser Ziel. Mit seinen 2700 Metern war es mein bisheriger Höhenrekord. Und nun, als 13jähriger Gipfelstürmer, dessen Bedeutung doch jedem durch den um die Schulter geschlungenen Wäschestrick klar sein mußte, konnte ich nicht dulden, daß auf dem Weg andere Touristen vor uns waren. Wir liefen, überholten, fühlten uns als überlegene »Felsentiger« – und waren doch vom echten Bergsteigen noch so weit entfernt. Was so ein Wäschestrick alles anrichten kann …

Wir erreichten den Fuß der »Frau Hitt«. Eine verwegen aussehendeFelsgestalt, in die nach der Sage die hochmütige, eitle Frau Hitt verwandelt wurde. Aber auch zu Stein geworden behielt die von Gott gestrafte Dame ihre Unnahbarkeit. Steil der Fels. Kleingriffig und glatt. Wir verloren etwas von unserer Bubenüberlegenheit.

Am Fuße des Felsturms sind schon andere. Richtig zünftige, verwegene Gestalten, mit braungebrannten, hageren Gesichtern. So müssen Bergsteiger aussehen. Wir gesellen uns zu ihnen, ernten fragende, etwas spöttische Blicke. Aber wir lassen uns die Unsicherheit nicht anmerken. Mit möglichst gelassener Selbstverständlichkeit entrollen wir unseren Wäschestrick, während sich die anderen mit echten Kletterseilen verbinden.

Wie die klettern können! Mit sicheren Griffen und Tritten und dochohne merklichen Ruck gehen sie dem steinernen Weibsbild zu Leibe, gewinnen rasch an Höhe. Und dann sind wir dran. Die Sorge ist verschwunden. Da sind ja wirkliche Griffe und Tritte. Hier kann man ja wirklich empor. Auch wir, und gar nicht so schlecht. Die anderen, die wir auf der schmalen Gipfelfläche wiedertreffen, schauen nicht mehr spöttisch.

Wir sind sehr stolz, als wir uns nachher zu den Zünftigen setzen dürfen. Vor allem einer fällt mir auf, dessen markantes Gesicht vom breitkrempigen Hut überschattet wird. Auf diesem Hut sind Abzeichen: Edelweiß, Seil und schräg durchgesteckter Pickel. Bei so einem Verein, so einem Klub, müßte man halt einmal sein. Mächtig imponieren mir die jungen Männer, gegen die ich ja noch ein Kind bin. Ich rede nicht viel, höre aber um so angespannter zu. Namen von Bergen, Wänden, Anstiegen: Hohe Warte, Grubreißen, Kumpfkar, Schüsselkar … Jeder dieser Namen bedeutet eine abenteuerliche, wilde Welt fürsich. Ziel der Sehnsucht. Ob wir es so weit bringen werden?

Ich muß es so weit bringen!

Die Grubreißentürme. Sie werden ein Jahr lang Mittelpunkt meiner Phantasie. Diese Felsgebilde hinter dem Hafelekar – sie sind in meinem Traum Inbegriff aller Kletterfreuden, mehr noch, aller Freuden auf Erden. Gibt es denn auf der Welt noch etwas Schöneres als Klettern? Ich bin jetzt 14 Jahre alt. Zwar noch immer unscheinbar mager und zart, aber ich fühle mich schon als »Alter«, als ich wieder einmal am Hafelekar stehe. Natürlich bin ich von Innsbruck zu Fuß heraufgestiegen. Wer hat schon das Geld für Seilbahn und dergleichen Luxus?

Da stehe ich nun und schaue hinüber zu den grauen Felsnadeln im Norden, im Karwendel. Dort hinten entdecke ich auch einige kleine Punkte. Die bewegen sich. Kletterer. Vielleicht würden die mich mitnehmen … ?

Ich eile das schmale Steiglein hinunter, quere das Kar zu einer Schneerinne hinüber, steige durch diese zu einer Scharte an. Da sind sie nun, die Felsnadeln, die Türme, die Grubreißentürme. Da rechts – der Südturm, der sogenannte Melzerturm, der ist der schwerste. Dort hinten – der Nordturm. Vom Hörensagen kenne ich alle. Auch die Anstiege. Auch Bilder habe ich gesehen und Berichte gelesen. Lohnt es sich, das Leichtere zu wagen? Nein, das Schwere muß es sein. Der Melzerturm.

Gleich so, wie ich bin, in schweren Skistiefeln, mit umgehängter Regenpelerine, springe ich hinüber zum Einstieg, suche nicht lange nach Weg und Route, beginne zu klettern. In Skistiefeln und Pelerine. Komme ein gutes Stück empor. Dann kann ich nicht mehr weiter. Wie eine komische Fledermaus klebe ich in den Felsen. Fledermäuse können fliegen. Auch hinauf. Ich nur hinunter … Es ist ein böser Augenblick.

Da höre ich Stimmen. Ich erinnere mich der Kletterer, die ich früher als Punkte aus der Ferne sah. Man hat erkannt, daß ich mich hoffnungslos verstiegen habe, man bietet dem dummen Buben Seilhilfe an. Ich wäre glücklich über die Hilfe gewesen, überglücklich. Aber ich darf sie jetzt nicht annehmen. Ich will meine Kletterlaufbahn nicht gleich als Geretteter beginnen. Stolz und patzig (und im Inneren doch recht verzweifelt) lehne ich die gebotene Hilfe ab.

Hinauf kann ich nicht mehr. Also zurück. Es scheint unmöglich. Es wird aber doch möglich. Trotz der glatten Skistiefel. Hie und da werfe ich einen Blick nach unten, sehe den Weg, den ich nehmen müßte, wenn mich die Kraft verließe. Es gäbe keine Rückkehr ins Leben mehr von diesem Weg. Ich darf nicht stürzen! – Ich stürze nicht, erreiche wieder den sicheren Boden.

Die anderen haben mir zugeschaut. Und jetzt kommt der Lohn für meine Selbstüberwindung.

»Willst du mit uns auf den Nordturm steigen?«

Ich kann es kaum fassen vor Stolz und Glück. Ich darf...

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