1. Einführung
Frag keinen Friseur, ob du einen Haarschnitt brauchst. Die meisten Leute kennen diese oder ähnliche Redensarten. Trotzdem nehmen wir es hin, dass unsere Ärzte uns allerlei diagnostischen Tests und Therapien unterziehen, von denen sie möglicherweise finanziell profitieren. Das Gesundheitswesen wimmelt von wirtschaftlichen Interessenskonflikten, und selbst wenn Ihr Arzt nicht unmittelbar profitiert, gibt es viele andere Gründe, weshalb Sie wachsam sein sollten. Ärzte wenden oft in gutem Glauben Therapien an, die unwirksam sind, und weil es keine Therapie gibt, die nicht manchen Patienten schadet, fügen Ärzte vielen Menschen Schaden zu.
Deshalb müssen Sie sich selbst informieren, um sich vor Schäden zu schützen. Diese Schäden werden meist von Medikamenten verursacht, aber beispielsweise auch von Infektionen, Operationen, chinesischen Kräutern, Elektroschocks, einem diagnostischen Test oder der Einlieferung in ein Krankenhaus, das ein gefährlicher Ort ist, weil dort viele Fehler begangen werden.
Dieses Buch soll Ihnen als Wegweiser dienen, mit dessen Hilfe Sie die zuverlässigsten Informationen über diagnostische Verfahren und Therapien im Gesundheitswesen finden. Es ist ein Buch für jedermann, auch für Ärzte und andere medizinische Fachkräfte, die bisweilen ebenso verwirrt sind wie Patienten, wenn sie im Internet nach Antworten auf ihre drängendsten Fragen suchen.
Ich kann nicht über alles schreiben, darum konzentriere ich mich auf einige häufige Krankheiten sowie auf einige leicht heilbare Krankheiten, die tödlich enden können, wenn sie übersehen werden. Außerdem widme ich mich Medikamenten, die zahlreichen Menschen unnötigerweise das Leben kosten, denn viele Betroffene brauchen sie gar nicht.
Letztlich ist dieses Buch kein Leitfaden über bestimmte Krankheiten; es soll Ihnen vielmehr das Vertrauen vermitteln, dass Sie die Antworten auf Ihre Fragen selbst finden können. Dann können Sie mit Ihrem Arzt und anderen medizinischen Fachkräften mitreden und einige der diagnostischen Verfahren und Therapien, die man Ihnen vorschlägt, ablehnen, etwa wenn Sie zu dem Schluss kommen, dass diese unwirksam, zu gefährlich oder beides sind.
Man lernt Schach, Fußball oder Tennis nicht, indem man nur Bücher darüber liest. Man muss üben. Wenn Sie die vielen Beispiele in diesem Buch durcharbeiten, indem Sie ins Internet gehen und sich vielleicht auch etwas andere Fragen stellen, werden Sie allmählich sicherer. Sie werden erkennen, dass es oft überraschend einfach ist, die Antworten zu finden, die Sie brauchen. Machen Sie sich Notizen am Rand und verwenden Sie einen Textmarker, damit Sie das, was Sie suchen, schnell finden, wenn Sie Ihr Wissen auffrischen müssen.
Wenn Sie dieses Buch gelesen haben, schauen Sie sich bitte Ihre Notizen noch einmal an und lesen Sie erneut, was Sie markiert haben. Es tut mir leid, wie ein Schullehrer zu klingen, aber ich habe ein wenig Erfahrung im Bildungsbereich, da ich zwei akademische Studiengänge absolviert habe: als Biologe und als Mediziner.
Wenn Sie krank werden, können Sie eine Menge tun, um sich selbst weiterzuhelfen, sodass Sie anhand besserer Informationen entscheiden können, welche der vielen Angebote des Gesundheitssystems Sie akzeptieren und welche Sie ablehnen. Wenn Sie als Partner am Entscheidungsprozess mitwirken und Ihr Bestes geben, kann Ihnen das die Sicherheit bieten, die es Ihnen erleichtert, mit Ihrer derzeitigen Situation umzugehen und alle Folgen, positive wie negative, zu akzeptieren. Es kann Ihnen auch dabei helfen, zu überleben und ein besseres Leben zu führen, wenn Sie Maßnahmen ablehnen, die Ihre Gesundheit gefährden. Ich hoffe, mein Buch trägt dazu bei.
Manche Patienten überlassen Entscheidungen lieber ihrem Arzt. Das tun sie meist deswegen, weil sie ihrem Arzt vertrauen, aber bisweilen auch, weil sie glauben, zur Entscheidungsfindung nichts beitragen zu können. Das sehe ich nicht so. Meiner Erfahrung nach können und sollen Patienten viel zum Entscheidungsprozess beisteuern – in ihrem eigenen Interesse.
Ich wünsche den Patienten, die immer ihre Ärzte entscheiden lassen, viel Glück. Sie werden es brauchen. Fehleinschätzungen kommen bei Ärzten häufig vor, oft weil sie es nicht besser wissen, und sie verordnen viel zu viele Medikamente. Heutzutage gibt es derart viele unnötige Diagnosen und Therapien, dass Medikamente in Ländern mit hohem Einkommen die dritthäufigste Todesursache sind, nach Herzinfarkten und Krebserkrankungen. Das belegen mehrere unabhängige Studien in Europa und Nordamerika.1-9 Nachgewiesen ist auch, dass Ärztefehler – und zwar nicht nur solche, die mit Medikamenten zu tun haben – die dritthäufigste Todesursache sind, selbst wenn man nur Todesfälle bei Krankenhauspatienten berücksichtigt. Die meisten dieser Todesfälle sind vermeidbar.10
All diese vermeidbaren Todesfälle sind für die öffentliche Gesundheit eine Katastrophe, eine der größten, die wir je erlebt haben, viel schlimmer als jede andere seit der Spanischen Grippe während des Ersten Weltkrieges. Diese Epidemie von Todesfällen durch Medikamente können wir viel leichter bezwingen als alle anderen Epidemien, die es gibt, weil wir sie einfach bekämpfen können, indem wir sparsamer mit Medikamenten umgehen. Aber niemand unternimmt etwas Sinnvolles dagegen. Das Sterben geht einfach weiter, Jahr für Jahr. Ich habe nie verstanden, warum wir so viele Ressourcen für die Prävention und Therapie von Herzkrankheiten und Krebs nutzen und so wenige für die Prävention von Todesfällen durch Medikamente. Das war ein überzeugender Grund für mich, dieses Buch zu schreiben.
Ich berichte von meinen eigenen Krankheiten und denen meiner Angehörigen oder Freunde, wenn sie meiner Meinung nach verstehen helfen, warum wir alle im selben Boot sitzen und warum es so wichtig ist, dass wir Verantwortung für unsere Gesundheit, unsere Krankheiten und unser Leben übernehmen, indem wir kritische Fragen stellen, bevor es zu spät ist. Bei mehreren dieser Beispiele geht es um die drei Haupttodesursachen: Medikamente, Herzkrankheiten und Krebs.
Zum Glück wurden in den letzten Jahren etliche Initiativen ergriffen, die gegen die medikamentöse Epidemie kämpfen. Allerdings geht keine von ihnen von den Institutionen aus, die uns eigentlich schützen sollen. Unsere Arzneimittel- und Gesundheitsbehörden veröffentlichen ab und zu ein paar Warnungen, aber sie unternehmen kaum etwas, um die Zahl der Todesopfer zu verringern. Unsere Arzneimittelbehörden sind sogar Teil des Problems. Sie lassen viel zu viele gefährliche Medikamente zu und nehmen die schlimmsten von ihnen viel zu langsam vom Markt.11 Die vielen Warnungen auf den Beipackzetteln nützen wenig, weil die Ärzte sie meist nicht kennen.11
Die Initiativen, die etwas bewirken können, verdanken wir Einzelpersonen – oft Forschern oder Redakteuren medizinischer Zeitschriften. Eine dieser Initiativen ist die jährliche Konferenz zur Prävention von Überdiagnosen namens »Preventing Overdiagnosis«. Das erste Treffen fand 2013 in Dartmouth in New Hampshire statt und drehte sich darum, wie sich die Gefahren durch zu viel medizinische Intervention beseitigen ließen. In der Ankündigung der Konferenz hieß es:
»Eine Überdiagnose liegt vor, wenn Menschen eine Diagnose erhalten, die sie nicht brauchen. Das kann der Fall sein, wenn Menschen ohne Symptome diagnostiziert und dann wegen einer Krankheit behandelt werden, die bei ihnen keinerlei Symptome auslösen würde. Ein weiteres Beispiel sind Menschen, deren Symptome oder Lebenserfahrungen mit einem diagnostischen Etikett versehen werden, das ihnen mehr schadet als nützt. Es ist schwer zu glauben, doch es gibt wissenschaftliche Hinweise darauf, dass viele Menschen wegen zahlreicher verschiedener Krankheiten überdiagnostiziert werden, von Asthma bis Brustkrebs, von Bluthochdruck bis zu geringer Knochendichte. In vielen Fachgebieten, von der Psychiatrie bis zur Nephrologie, wird heftig darüber debattiert, ob bei der Definition von Krankheiten Grenzen zu weit ausgedehnt wurden und ob zu viele Menschen unnötig zu Patienten gemacht werden.«
Im Jahr 2002 veröffentlichte das BMJ (British Medical Journal) ein Themenheft namens »Too Much Medicine?« (Zu viel Medizin?) mit Artikeln über die Medikalisierung von Geburt, Sex und Tod. Der einführende Leitartikel stellte die Frage, ob Ärzte zu Pionieren der Ent-Medikalisierung werden könnten, ob sie Macht an ihre Patienten zurückgeben, sich der Kommerzialisierung von Krankheiten entziehen und eine faire globale Verteilung von wirksamen Behandlungsmethoden fordern könnten. Als sich ein Jahrzehnt später die Beweise für Übermedikation und Überdiagnosen häuften, belebte das BMJ die Kampagne erneut, diesmal jedoch ohne das Fragezeichnen.12
Eine weitere Initiative ist »Choosing Wisely« (Klug entscheiden), eine Kampagne von Organisationen...