Prolog: Die Fata Morgana der Lebensverlängerung
Ein langes und glückliches Leben in Gesundheit steht auf der Wunschliste der meisten Menschen ganz oben. Heute gerne mit der Bedingung, dass man dabei jung bleibt. Diäten, Pillen und intravenöse Auffrischungen ernähren eine ganze Unsterblichkeitsindustrie. Der Weltkonzern Alphabet Inc. (vormals Google Inc., USA) hat mit seiner Tochterfirma Calico die Abschaffung des Alterns sogar zum Geschäftsziel erklärt. Kann aber der Schlüssel zum ewigen Leben in Paketen großer Datenmengen (»Big Data«) gefunden werden oder ist dieser Versuch noch skurriler als die sogenannte Gerocomic, die auf der Annahme beruht, dass junge Menschen ihre Lebenskraft durch körperliche Nähe auf alte Menschen übertragen könnten? Dem alttestamentarischen König David sollen Ärzte empfohlen haben, sich in den Armen einer Jungfrau zu verjüngen1, und vom berühmten Arzt Herman Boerhaave (1668–1738) ist die Verordnung überliefert, einen alten Amsterdamer Bürgermeister zwischen zwei jungen Leuten schlafen zu lassen.2 Komplikationsträchtiger war ab dem 17. Jahrhundert das Angebot, zum Aderlass einen verjüngenden Bluttransfer von jungen auf alte Menschen durchzuführen.3
In der Antike galten Selbstdisziplin, Tugend und körperliche Ertüchtigung als Wege zu einem längeren Leben. Und auch im Mittelalter setzte man auf Lebensführung und Leibespflege – Erneuerung der Körpersäfte inklusive. Schwitzen, Brechmittel und Klistiere gehörten seither zum Instrumentarium der Betreiber von Jungbrunnen. Bis heute halten sich Methoden zur »Entschlackung« im Repertoire – Colon-Hydro-Therapie, Ayurveda, »Detox« und hohe Trinkmengen sind trotz Abkehr von der Säftelehre weiterhin angesagt. Gleichzeitig erachtete man das Schicksal durch den Lauf der Gestirne als vorbestimmt. Allerdings konnten womöglich Glücksbringer und Amulette, das Essen bestimmter Substanzen oder Ortswechsel unheilvolle Konstellationen neutralisieren … Räumliche Veränderungen bei langwierigen Krankheiten hatte bereits 2000 Jahre früher die hippokratische Schriftensammlung auf ihrer Empfehlungsliste.
Die Überzeugung, dass einzelne Substanzen Krankheiten heilen und Leben verlängern könnten, verbreitete sich so richtig erst im Mittelalter mit der von der katholischen Kirche angefachten Wundergläubigkeit. Nicht umsonst begleitete Weihrauchnebel rituelle Handlungen. Vor allem mit dem Arzt und Alchemisten Paracelsus (1493/4–1541) ist die Idee verknüpft, mit Chemie zu heilen. Nur auf die Dosis käme es an, ob eine Substanz das Leben verlängere oder verkürze.4 Antimon, Arsen, Quecksilber, Schwefel, Terpentinöl – nichts war zu giftig, um es nicht auch zur Kur einzusetzen.5 Heilsversprechen waren schon immer gefragter als der desillusionierende Hausverstand. Ein stark erhöhter Quecksilbergehalt von Paracelsus’ Gebeinen legt jedoch nahe, dass sein Leben durch Gift verkürzt wurde.6
Verheißungen eines längeren Lebens waren stets fixe Bestandteile in den Portfolios von Scharlatanen. In steter Folge betreten Charismatiker des Anti-Agings die Bühne und bieten wechselnde Panazeen feil. Aktuell heißen die Wundermittel Resveratrol, Rapamycin (Sirolimus) oder Metformin. Künftige gentechnische Manipulationen oder die Beseitigung teilungsunfähiger Zell-»Rentner«, sogenannter seneszenter Zellen,7 werden für alle in Aussicht gestellt, die bereit sind, nach ihrem Tod im Gefrierschrank zu warten. Um- und weitsichtige Zeitgenossen, die einen guten Zustand von Körper und Geist als beste Voraussetzung für einen späten natürlichen Tod anstreben, werden dagegen als kleinkarierte Spaßbremsen wahrgenommen. In ihrem Anspruch unterscheiden sich Anti-Aging-Hormone, Cholesterinsenker und Elixiere der Alchemisten nicht grundsätzlich, sieht man von unvermeidlichen Nebenwirkungen schulmedizinischer Therapien ab. Mit biochemischen Halbwahrheiten begründet, werden Dogmen des Anti-Agings schnell zu einer Ersatzreligion. Aber wer will überhaupt glauben, dass man mit einer Substanz die Evolution überlisten kann?
Auch wer anhand von Risikoprofilen aus der Flut messbarer biologischer Parameter und mit Checklisten die häufigsten Todesarten zu verhindern versucht, gaukelt garantierte Extrajahre vor, die mit keinem Ticket einzulösen sind: Das Lesen von Büchern könne ein zusätzliches Jahr, der regelmäßige Konsum von Rotwein zwei Jahre bringen, während häufiges Liegen auf dem Sofa acht Lebensjahre kosten würde.8 Der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt wäre als Nichtraucher wohl der älteste Mann der Welt geworden, sollten Berechnungen zur Lebensverkürzung durch Zigarettenrauch auf ihn zugetroffen haben.9 Trotz mehrerer Hundert Packungsjahre starb er mit 97. Die Dauer eines Lebens lässt sich zum Glück nicht aus einem Puzzle von Risikofaktoren vorherbestimmen.
Will die Medizin die Lebensspanne um jeden Preis verlängern, widerspricht sie sich schon, wenn sie das Alter zum universalen Risikofaktor oder gar zur behandlungspflichtigen Krankheit degradiert.10 Mehr Lebensjahre sind nicht gleichbedeutend mit längerem Leiden.11 Ein hohes Alter ist schon gar nicht die Ursache vieler Krankheiten, nur weil diese bevorzugt in der zweiten Lebenshälfte auftreten. Gerade im Alter verfügt der Körper über Strategien, einem ungeregelten Zellwachstum vorzubeugen. So stirbt zwar ein Viertel der 80-Jährigen an Krebs, aber weniger als 5 Prozent der über 100-Jährigen.12 Es ist nicht unbedingt das Alter, das tötet, sondern die Ansammlung schädlicher Einwirkungen im Laufe des Lebens. Vielleicht steigt die Zahl der Erkrankungen zum Ende des Lebens auch, weil Therapien diese erst chronisch werden lassen? Denn wer hat mit 85 keine vieljährige Behandlungsgeschichte hinter sich?
Spätestens seit 220 Jahren ist hierzulande dennoch eine Assoziation zwischen einem langen Leben und der Medizin in den Köpfen vieler Menschen verankert. Erschien doch im Jahr 1797 Die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern von Christoph Wilhelm Hufeland (1762–1836). Heute selbst unter Ärzten nahezu vergessen, machte das Buch seinen Autor über die Weimarer Landesgrenzen in Europa bekannt. Hufeland avancierte zum Leibarzt der preußischen Königsfamilie, zum Ersten Arzt der Charité und später zum Dekan der Medizinischen Fakultät der späteren Humboldt-Universität. Dabei war seine Erörterung keine Pionierarbeit – mit steigender Bedeutung des Individuums in der Epoche der Aufklärung lag das Thema in der Luft. Über ein halbes Jahrhundert früher hatte der französische Arzt und Philosoph Julien Offray de La Mettrie (1709–1751) bereits Briefe über die Kunst, die Gesundheit zu erhalten und das Leben zu verlängern in Paris veröffentlicht.
Ärzte spekulieren über Mittel zur Lebensverlängerung, weil sie Krankheiten für behandelbar halten. Hufeland war dagegen überzeugt, dass es besser wäre, Krankheiten zu verhüten, da Behandlungen immer mit »Kraftverlust und folglich einer Lebensverkürzung verbunden« seien.13 Für ein hohes Alter gab er vor allem Ratschläge zur Lebensführung und Ernährungstipps – nur eines seiner 19 »Verlängerungsmittel des Lebens« nennt ärztliche Maßnahmen. Auch La Mettrie hatte die Frage aufgeworfen, ob Ärzte oder die Natur gesund machten, und forderte seine Kollegen auf, sich möglichst aus dem Prozess der Heilung herauszuhalten. Angesichts epidemischer Infektionen empfahl er vorbeugend Hygiene und sexuelle Abstinenz. Der französische Philosoph Voltaire (1694–1778) hatte dies schon auf den Punkt gebracht: In den meisten Fällen sei die Todesursache eines Menschen sein Leben. Hufeland moralisierte umständlicher: »Viele, ja wirklich die meisten dieser Krankheiten, sind unsre eigne Schuld.«14 Heute ist unbestritten, dass Krankheiten durch Prävention zurückgedrängt werden. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) schätzt, dass sich dadurch in Deutschland zehnmal so viele Todesfälle verhindern ließen wie durch Früherkennung oder Behandlungen.15 Bis heute verpuffen diese Erkenntnisse jedoch: Nicht einmal 1 Prozent der Krankenversicherungsausgaben fließt in die Prävention.16
Kann man aber das Leben überhaupt verlängern? Oder gelingt es bestenfalls, ein vorzeitiges Ende abzuwehren? Nun, es kommt auf die Perspektive an. Wer die tatsächlichen Sterbealter, die durch Umwelteinflüsse, Alterungsprozesse oder Gewalteinwirkungen mehr oder weniger hinter dem genetischen Potenzial zurückbleiben, als Bezug nimmt, spekuliert über Verlängerungen des Lebens. Erklärt man dagegen die genetisch maximal mögliche Lebensspanne zur Referenz, kann man nur anbieten, eine Verkürzung zu verhindern. Verlockender klingt es auf jeden Fall, das...