Hannes Leitlein: Frau Bosse-Huber, als Auslandbischöfin: Sind Sie lieber in Deutschland oder im Ausland?
Petra Bosse-Huber: Seit ich so viel ins Ausland reise, bin ich viel lieber in Deutschland als früher. Ich komme oft aus lauten und heißen Großstädten dieser Erde zurück, Kairo, Buenos Aires, wo auch immer, stehe dann bei uns vor dem Gartentor und bin tief dankbar für dieses kleine, grüne Dorf in der Wedemark bei Hannover, in dem ich wohne. Wir leben in einem Haus mit Garten und ich denke: „Meine Güte, was ist das für ein Privileg!“ Die Dankbarkeit für mein persönliches Leben ist gewachsen. Insofern bin ich mir sehr bewusst, was ich an Privilegien, an Freiheit und Sicherheit, auch an Rechtssicherheit, in Deutschland genieße.
Wollen Sie dann überhaupt noch weg?
Unbedingt! Je mehr ich von der globalen Wirklichkeit und auch von der Schönheit dieser Erde mitbekomme, desto größer wird meine Lust, noch mehr zu sehen und zu verstehen, intensiver zuzuhören und unbekannten Menschen zu begegnen. Auch das ist ein Privileg meiner beruflichen Aufgabe und überhaupt der ökumenischen Zusammenarbeit: Dass man am Frankfurter Flughafen in einen Flieger steigt und 24 Stunden später in irgendeinem Slum auf dieser Welt unterwegs ist, wo keine weiße Frau jemals hinkommen würde ohne die internationalen ökumenischen Partner, die dort jeden Tag tätig sind, die die Umgebung kennen und die den Menschen verbunden sind. Würden diese Menschen mich nicht an die Hand nehmen und mit mir ihre Sicht der Wirklichkeit teilen, wüsste ich so viel weniger von dieser Welt!
Aber ist diese Wirklichkeit nicht auch oft schrecklich?
Ja, ich bekomme manchmal auch schreckliche Realitäten zu sehen. Aber ich verfolge nicht nur Berichte im Internet oder lese einen anonymen Menschenrechtsbericht, sondern treffe bei meinen Reisen junge und alte Menschen vor Ort. Ich kann fragen und mit ihnen reden. Unsere einheimischen Partner genießen das Vertrauen dieser Menschen. Ich komme zwar als Fremde, aber werde nicht als Outsiderin behandelt, sondern sehr gastfreundlich aufgenommen. Das ist ein unglaubliches Geschenk! Solche Begegnungen haben einen völlig anderen Charakter als eine touristische Reise. Die Lebenswirklichkeiten der Menschen wahrzunehmen, ist oft erschütternd. Dass Menschen unter solch schwierigen, oft auch menschenverachtenden Bedingungen ihr Leben meistern, erfüllt mich mit großem Respekt. So lerne ich wirtschaftliche und soziale Realitäten eben nicht nur auf die sichere Distanz kennen, sondern durch einen echten Kontakt oder ein persönliches Gespräch. Wie wenig selbstverständlich solche Begegnungen sind, ist mir vor Jahren einmal in Indien aufgefallen: Ich war mit dem Evangelischen Entwicklungsdienst in ganz entlegenen Dörfern unterwegs, um das Engagement besonders von indischen Frauen für sehr einfache Klimaschutzprojekte kennenzulernen. Später habe ich darüber mit indischen Freundinnen und Freunden gesprochen, die von dieser Seite Indiens überhaupt nichts wussten. Sie waren im großstädtischen Mittelschichts-Indien zuhause und hatten von der brutalen Wirklichkeit und der Armut ihres riesigen Landes nie etwas mit eigenen Augen gesehen. Man kann im gleichen Land in so unterschiedlichen Welten leben – auch in Deutschland übrigens! Aber dass ich miterleben darf, wie Frauen unter den brutalsten Bedingungen versuchen, einen geschützten Raum für ihre Kinder und Familien zu schaffen, das berührt mich sehr. Die Dankbarkeit, hier in Deutschland leben zu dürfen, aber auch der tiefe Respekt vor den Menschen, die ihr Leben unter widrigen Bedingungen meistern, gehören für mich zusammen.
Kommen Sie sich da manchmal sehr „deutsch“ vor?
Ich bin jedenfalls kaum in der Lage, die bei mir immer mitlaufende Reflexionsebene ganz abzuschalten. [lacht] Der On-Off-Schalter fehlt da bei mir. Ich bin mit Haut und Haaren bei den Menschen vor Ort, weit weg von zuhause, aber es läuft bei mir fast immer auch eine analytische Bemühung ab. Ich versuche Zusammenhänge, Abhängigkeiten oder Interessen zu verstehen, hinter die Fassade zu blicken. Ich vermute, das ist etwas Westliches, vielleicht auch gar nicht einmal nur etwas Deutsches, dass wir Menschen der ersten Welt ganz viel über den Kopf zu klären versuchen. Ich halte emotional aber auch deshalb innerlich Abstand, weil ich manche Erlebnisse sonst nicht aushalten könnte. Das ist eine Übung, die ich noch aus meiner früheren Praxis als Notfallseelsorgerin kenne. Ich brauche ein gewisses Maß an professioneller Distanz, um einerseits gut arbeiten zu können und mich andererseits auch zu schützen. Sonst würde ich nachts nach Alpträumen stundenlang schlaflos im Bett sitzen. Dieser nötige Schutzabstand hat mir bisher dabei geholfen, psychisch gesund zu bleiben und dem Burnout zu entgehen. Ich hoffe aber, dass es mir dennoch gelingt, Menschen die Nähe und das Mitgefühl zu zeigen, die ich zutiefst empfinde.
Ist das ein bisschen wie das Gartentor, das Sie am Anfang beschrieben haben?
Ja, es ist eine Annäherung an die Wirklichkeit mit Abstand, aber mit durchlässiger Haut.
Wie gehen Sie um mit den Eindrücken?
Ich versuche zu sortieren und zu erzählen, bemühe mich, Menschen mit hinein zu nehmen in meine Erfahrungen und Fragen. Einerseits professionell, indem ich mit anderen Expertinnen und Fachleuten Fakten und Einsichten auswerte und daran im Team weiterarbeite. Dinge, die mich wirklich belasten, versuche ich in der Supervision, die ich regelmäßig besuche, zu verarbeiten und dann hinter mir zu lassen. Einen großen Anteil aber nehme ich auch mit nach Hause. Das ist nicht nur belastend, es ist auch ein Reichtum, den ich mit meiner Familie und dem Freundeskreis teile.
Muss man sich eigentlich vorstellen, dass in Ihrem Haus alles voll ist von irgendwelchen Mitbringseln?
Nein, überhaupt nicht! Wir pflegen einen ziemlich klaren Stil, also auch eher westlich. [lacht] Es gibt einzelne Dinge, die mir wichtig sind, eine Ikone im Wohnzimmerregal oder eine afrikanische Maske. Aber unser Haus ist kein Museum.
Wo haben Sie sich am fremdesten gefühlt?
[überlegt] Vielleicht am Flughafen von Khartum, der Hauptstadt des Sudan. Das ist ein Wüstenflughafen, während des Hadsch ein muslimischer Pilgerflughafen, mitten im Sand. Damals flimmerte die Luft bei 47 Grad Hitze. Alle Frauen waren dunkel verschleiert bis auf einen schmalen Augenschlitz. Sie saßen auf dem Boden, es gab im ganzen internationalen Flughafenterminal nur wenige Stühle. Mittendrin stand ich als einzige Frau mit weißer Haut in westlicher Kleidung, unverschleiert. Da habe ich am schärfsten erlebt, was ich oft erfahre, wenn ich unterwegs bin: Wie anders und wie fremd man sich fühlen kann, wenn man nicht mehr selbstverständlicher Teil der Mehrheitsbevölkerung ist, nicht mehr unauffällig mitschwimmen kann im Schwarm. Der Sudan ist eines der Länder, in dem ich keinerlei sprachliche Annäherungsmöglichkeiten hatte, weil wirklich fast niemand Englisch spricht, natürlich auch kein Deutsch, und ich nicht einmal die Schriftzeichen lesen konnte. Ich wusste, dass die Einzigen, die hier Deutsch verstehen, Geheimdienstleute sind, die früher einmal in der DDR ausgebildet wurden. [lacht] Das war eine ganz irritierende Situation, aber auch lehrreich. Seither sage ich mir oft: „Vergiss das nicht! Erinnere dich, wie es anderen Leuten geht, die in Deutschland ankommen und sich plötzlich in einer bedrohlich fremden Mehrheitsgesellschaft mit völlig neuen kulturellen Regeln zurechtfinden müssen!“
Welcher Reflex ist stärker: das Abgrenzen oder Anpassenwollen?
Ich glaube, in einer so durch und durch patriarchalen islamischen Gesellschaft wie dem Sudan kann ich mich als europäische Frau nicht wirklich anpassen. Die Pfarrerinnen und Pfarrer im Ausland, die in Teheran, Dubai oder Beirut tätig sind, erzählen mir manchmal, wie sie über persönliche Beziehungen versuchen, die kulturelle Fremdheit zu knacken. Aber das geht bei meinen kurzen Besuchen von wenigen Tagen nicht. Natürlich versuche ich, über kirchliche und politische Repräsentanten oder zivilgesellschaftliche Akteure Brücken zu schlagen, um die Zusammenarbeit zu erleichtern. Aber mehr ist bei solchen Stippvisiten nicht möglich. Dafür müsste ich einen langen, mühsamen Weg des Kennenlernens und Verstehenlernens einschlagen und dort leben.
Sich für eine Zeit lang fremd zu bleiben, ist in Ordnung?
Für mich ist das die Realität. Es ist hilfreich, wenn ich das nicht nur theoretisch weiß, sondern am eigenen Leib erfahre. Das hilft mir, mich in Menschen hineinzuversetzen, die sich in meinen Augen hier in Deutschland auffällig oder ungewöhnlich, abweichend vom Mainstream verhalten. Ich nehme dann mit einem Mal wahr, wie unsicher und unwohl sich eine sudanesische Frau in der deutschen Öffentlichkeit fühlen mag, wenn sie nicht versteht, was um sie herum passiert. Diese Übersetzungsleistungen, sicher zuerst die der Sprache, dann aber auch die kulturellen und religiösen Übersetzungsleistungen, müssen wir noch sehr viel ernster nehmen, wenn wir über Integration und gesellschaftlichen Frieden reden.
Fühlen Sie sich auch in Deutschland manchmal fremd?
Ich kann unsere selbstbezogenen kleinen Karos nur ganz schlecht ertragen. Natürlich bin ich privilegiert, weil ich bei der internationalen Arbeit mit vielen Leuten zu tun habe, die einen weiten Horizont haben und offen sind. Mit vielen kann ich politische und ökumenische Visionen teilen. Allzu homogene Milieus fallen mir dagegen zunehmend schwer. Da verspüre ich häufig den starken Impuls, ein Fenster aufzureißen, um frische Luft herein und den Blick in die Weite schweifen zu lassen. Wir sind eine satte...