Die ersten zehn Jahre: 1947 - 1957
Zürich, Altdorf, Glarus, Netstal
Vom Zauber der Musik -
und manchmal recht seltsmen Texten.
17. April 1947: Zürich
Die frischgebackene Mutter liegt im Balgrist-Spital, durch das offene Fenster hört sie die Kirchenglocken von Zürich läuten. «Welch ein Empfang, aber natürlich angemessen», denkt da der Säugling. Später dann Marschmusik, der Sechseläutenmarsch, und das Verbrennen des Böögg. Sechseläuten, ein heidnisches Spektakel. «Auch dies passt», wie der noch namenlose Baby-Bub denkt. Eigentlich wollte ihn sein Mami Thomas taufen, doch dieser Name sei schon vergeben, habe es geheissen in der Schmid-Familie. «Dann halt Christian. Christian-Marc», sagt die Mama.
«Hoppla, kein heidnischer Name. Passt aber auch zu meiner Vergangenheit», antwortet der nun nicht mehr namenlose Kleine.
Februar 1951: fast vier Jahre. Altdorf
Es ist Fasnacht, Schnee auf den Strassen, kalt. Da, jetzt kommen sie! Lärm, Krach! D’ Chatzemusig.
«De Papi trummlet!» Leuchtende Augen vom kleinen Christi. Heischon wieder ein Heiden-Spektakel.
Sommer 1952: fünf Jahre. Glarus
Scheidung der Eltern - Altdorf und Papi in einem schwarzen Loch verschwunden. Umzug in eine Wohnung am Landsgemeindeplatz in Glarus. Mami bügelt, Christi schaukelt auf seinem Holzpferd. Aus dem Radio tönt Musik:
Heinerle, Heinerle, hab kein Geld… «Heinerle, komischer Name. Und wie der redet und was der alles will: Kasperl laufen, Ringelspiel…» Das Lied gefiel dem Christi nicht, es war halt einfach da. «Hab kein Geld» traf allerdings auf unsere Verhältnisse, auf meine nun alleinerziehende Mutter absolut zu.
Im Kindergarten, bei Fral’n Nelly, sangen wir vor dem Znüni jeweils ein Lied. Da lernte der Bub, dass es einen Spiis-Gott und einen Trank-Gott gab:
«Spiis-Gott, Trank-Gott, all’ne arme Chind, wo uf Erde sind. Amen.»
Öfters spielte das Radio auch ein seltsam schönes Lied:
Sei gepriesen, du lauschiiege Nacht, hast zwei Herzen so glücklich gemacht
Die Melodie, der Text rührten ans Herz, prägten sich ein im Buben, zusammen mit dem Schaukeln und dem Duft der frisch gebügelten Wäsche. Fragen aber blieben: wer hat zwei Herzen so glücklich gemacht? Die lauschige Nacht? Und was meint:
Zwei mal 25 Jahre
Und der Lenz grüsst am Altare?
Diese Melodien, diese Momente waren auf eine unbestimmte Art stets auch unterlegt von einem Gefühl von Traurigkeit und Schmerz. Im Rückblick verständlich…
Lippen schweigen, ‘s flüstern Geigen, hab mich lieb. All die Schritte, sagen: Bitte, hab mich lieb
Auch dies ein Lied, das er oft hörte, aus einer Operette von Franz Lehàr. Diesen Text verstand er sehr gut, nur das mit den schweigenden Lippen - was mochte das bedeuten…?
Hoch am Dachstein, da, wo der Aar noch haust
Dachstein, Aar und haust – diese drei magischen Worte regten Christis Fantasie mächtig an.
Um Klarheit zu erhalten, hat er seine Mutter (wohl so oder ähnlich) gefragt:
Mami, was ist ein Aar?
Das ist ein Adler.
Der grosse Vogel?
Ja.
Und der haust da oben? Auf dem Berg?
Ja.
Auch das Wort hausen hörte er da erstmals. Ein wunderliches Wort: der Vogel haust, er muss da wohl sein Haus haben. Sein Nest, in dem er wohnt.
Später im Jahr hat er das Lied dann umgesetzt: Zu Mamis Geburtstag am 3. Dezember 1952 hat er ein Bild gemalt: Darauf ist ein mächtiger Adler zu sehen, rechts oben am Berg ein Haus und in der Ferne zwei schneebedeckte Berge. - Alles drauf auf der Zeichnung: Dachstein, Aar und haust.
Das Lied ist übrigens die Steirer Landeshymne. Der richtige Text lautet:
Hoch vom Dachstein an, wo der Aar noch haust.
Der Kinderverstand hörte aber das für ihn stimmigere:
Hoch am Dachstein, da, wo der Aar noch haust.
«Da wo der Aar noch haust», Kinderzeichnung 5 ½ Jahre (1952)
1953: 6 Jahre. Netstal, Glarnerland
Wir zogen in den Grosszaun, da wohnten auch Omi und Opa. Da gab’s Strauss-Walzer, Märsche und Silberfäden von Vico Torriani. Das gefiel mir nicht, aber ein Lied verzauberte mich vom ersten Ton an: Das Vilja Lied, auch von Franz Lehàr.
Vilja, oh Vilja, du Waldmägdelein… Das entzündete meine Fantasie: ein Mädchen, das im Walde wohnt. Wie seltsam, was mag das für ein Mädchen sein? Eine Fee? Das war ja wie in den Märchenbüchern. Also gab es sie, die Zwerge, Feen und Wichtel! Auch heute noch, wenn ich dieses Lied höre, entfalten sich in mir die gleichen Gefühle wie beim ersten Mal.
The Four Lads
Istanbul (not Constantinople)
Das war eine grosse 78er Schellack-Platte in einem braunen Umschlag, wie Packpapier. Und darauf ein kleiner Kleber von Musik-Heiz Glarus. Für mich der absolute Hammer. Die Männer sangen auf Englisch, und die Musik tönte ganz anders als alles, was ich bisher gehört hatte. Zudem erklangen auch neuartige (es waren orientalische) Elemente, sehr aufregend. Mutter hatte damals einen Englischkurs auf Schallplatten von der Migros-Klubschule gekauft, den sie sich ständig anhörte. («Sambadi nox äze door», sagte Walti, «i cha ez au Englisch.») Das war, glaube ich, der Grund, weshalb sie nun begann, auch englische Schallplatten zu kaufen. «Take me back to Constantinople, now it’s Istanbul, not Constantinople» sangen die Männer. Sonst verstand ich nicht viel vom Text, aber er wies ein paar ganz heisse Stellen auf, z.B. «New York and Amsterdam», und Unverständlicheres wie: Peace attack and berber twin. Dieser magische Satz wurde vom Bass-Sänger immer wieder mit tiefer Stimme geraunt. Erst in YouTube Zeiten konnte ich das Geheimnis lüften. Es hiess: People just liked it better that way… (Und es war die Antwort auf folgende Frage: Even Old New York was once New Amsterdam. Why they changed it, I can’t say. People just liked it better that way.)
Mäcki war ein Seemann
«Mäcki Mäcki Mäcki Mäcki - ooooh!» sang meine Cousine Uschi (die mittlere von Tante Ilses Töchtern), als sie, die in St. Gallen wohnte, nach Netstal in die Ferien kam. Von Uschi hörte ich erstmals den St. Galler Dialekt mit seinen hellen Vokalen, vor allem dem aa. «Maximaal!» sagte sie anstatt tschent oder huärä schü. und «Jo, meerssi denn! Do hesch denn ‘s Gscheengg.» Dass ich wenige Jahre später diesen Dialekt annehmen würde, da wir in eben diesen Kanton zügelten, ahnte ich damals noch nicht.
1954: 1. Klasse, Netstal
Christi 1. Klasse Netstal (1954)
Diesen Messinganhänger von Jazz-Trompeter Louis Armstrong brachte Mutter zusammen mit einer 78 Touren-Schellack-Schallplatte nach Hause. Der Verkäufer vom Musikhaus Heiz in Glarus hatte ihn ihr geschenkt (Heute denke ich, Louis Armstrong war ein Ladenhüter gewesen…)
Luis Mariano
Mexico
«Mexico, Mexihiiico, du Land der ew’gen Sohonnee. Wer deine Frau’n gesehn, wird mich genau verstehn, du bist so schön.» Mutter hatte die Platte (damals gab’s nur Singles) gekauft. Es war die deutsche Version, ebenfalls von Luis Mariano gesungen (das französische Original stammt aus dem Jahr 1951). Zu weiteren Geografie-Kenntnissen verhalf sie mir auch: «Ich kannte die Pariser Damen, von ihrer Schönheit ganz betört, und jene die aus Spanien kamen… doch mein Ideal, das sind die Frau’n von Mexico…» So eine Platte hörte ich ungezählte Male, weil wir nur wenige besassen. Und die kannte ich dann auswendig, die Umschläge ebenfalls: ich sehe ihn noch vor mir, den Luis Mariano. So ein schicker Mann mit dunklen Augen und schwarzglänzenden Haaren. Wäre der was für meine Mutter? Na, vielleicht doch eher nicht.
René Carol
Jede Nacht erklingt in Abbazia
Dieser Schlager, eigentlich nur der Refrain, rief seltsame, fast wehmütige Gefühle in mir wach, als ich ihn damals, 1954, das erste Mal im Radio hörte; ich ging in die erste Klasse. Es war das Wort Abbazia, das mich so faszinierte, das Wort Abbazia im Einklang mit der Melodie. Dieser fremde Name rief Ahnungen in mir wach. Ich sah ein weitläufiges, dunkles, flaches Gebäude auf einer heissen Hochebene. Dazu stellte ich mir einen schattigen Innenhof mit Büschen, Bäumen und Blumen vor. Schon damals als Bub war ich mir sicher, dass ich Abbazia kannte – irgendwie.
Ich habe...