2Geschichtliche Wurzeln und Entwicklungen
Abb. 1a: Altägyptisches Reihenbild eines Überschlags vorwärts (Neues Reich)
Abb. 1b: Reihenbild eines Überschlags in die Brücke einer Akrobatin (Wandzeichnung von Beni Hassan/Oberägypten um 1600 v. Chr.)
Abb. 1c: Flick-Flack (?) im alten Ägypten: Akrobatinnen in ihren Vorführungen während einer Kultprozession vor ca. 3.500 Jahren (18. Dynastie), eine Malerei auf einem Wandputz an der östlichen Eingangswand im Grab des Nb-jmn (Theben-West)
Vor drei- bis viertausend Jahren wurden schon, vor allem in Ägypten und Griechenland, turnakrobatische Übungen dargestellt (Abb. 1a/b/c). Fast immer waren es Brücken bei Tänzerinnen. Dies ist bereits im 16. bis 14. Jahrhundert v. Chr. auf Wänden und auf Kalksteinscherben nachzuweisen (vgl. Gerling, 2015, S. 19). Die Darstellungen bringen sowohl Beweglichkeit als auch Kraft zum Ausdruck. Interessant ist auch eine antike Abbildung eines Saltos über ein Hindernis (Abb. 2). Es muss schon damals im alten Ägypten eine turnerische und gymnastische Ausbildung für die Berufsgruppen gegeben haben, deren anspruchsvolle Darbietung nur durch ein zielgerichtetes Erarbeiten möglich war.
Abb. 2: Akrobatik in der Antike: Salto mit Sicherheitsstellung (?) über ein Hindernis
Vor mehr als 2.300 Jahren wurden Akrobatinnen auf keramischen Kelchgefäßen verewigt, wie im archäologischen Regionalmuseum „Museo Archeologico“ auf der Insel Lipari zu sehen ist (Foto 1: Akrobatin vor Dionysos). Häufig sind im 4. Jahrhundert v. Chr. Tänzerinnen in einer Brücke als Deckelgriff zu finden (Foto 2: Etruskischer Deckelgriff). In einem Pariser Museum finden wir aus China ein Gefäß aus der Han-Dynastie (um 209-206 v. Chr.), das ein turnerisches Vorführen von zwei Akrobaten, in einem spielerischen Handstand schwebend, auf der Kante darstellt (Foto 3a).
Foto 1: Akrobatin vor Dionysos
Foto 2: Etruskischer Deckelgriff
Foto 3a: Zwei Akrobaten auf der Kante turnend
Aus dem 14. Jahrhundert, der Zeit der „Goldenen Horde“ der Tataren, stellt eine Schale aus der Tatarenhauptstadt der Insel Krim, Staryi Krym, mit beiger Glasur auf Tonerde eine festliche Szene mit einem überschlagenden Tänzer in einem Granatapfelgarten dar (Foto 3b, St. Petersburg/Russland, Eremitage Museum, Inventar-Nr. SOL 30).
Foto 3b: Überschlagender Tatar (14 Jahrhundert)
Im Mittelalter wurde das Vorzeigen von schwierigen akrobatischen Übungen zunehmend von Leuten demonstriert, die sich professionell die Kunststücke methodisch aneigneten: den akrobatischen Gauklern. Diese Berufsakrobaten zeigten ihre Künste und ihr Können nicht nur auf Jahrmärkten, sondern auch an Königshöfen. Ein solcher war Archange Tuccaro, geboren 1536 in den Abruzzen Italiens. Als königlicher Hofspringer am Hofe Heinrichs IV. von Frankreich verfasste er in Paris 1599 das außergewöhnliche und erste schriftlich formulierte, sowie mit 88 Holzschnitten illustrierte Methodikbuch der Welt zum Bodenturnen mit dem Titel: Trois dialogues de l’exercise de sauter et voltiger en l’air.
Mit dem Buch Drei Gespräche über die Kunst des Luftspringens legte Archange Tuccaro ein dreibändiges, 400 Seiten umfassendes Werk vor. Ausführlich in Text und Bild beschreibt er seine Lehrweise zu Sprüngen, freien Überschlägen (Salti) am Boden, am Tisch und Sprung- und „Sturmbrett“. Die Abbildungen sind lehrhaft mit Buchstaben und Pfeilen der Rotationsrichtungen versehen. Bewegungsteilphasen werden herausgestellt und methodisch über verschiedene Gerätehilfen zu Kunststücken erarbeitet. Für Tuccaro dürfen erst Jugendliche an die Salti herangeführt werden. Er schreibt jedoch, dass frühzeitig mit der Ausbildung begonnen werden soll. Für die Sieben- bis Achtjährigen verlangt er, zunächst Vorübungen zu machen (Abb. 3a/b, Tuccaro, 1599/1987, S. 62/63).
Abb. 3a: Brücke, 3b: Überschlagender Tatar (14.Jh)
Die vor fast 500 Jahren in seinem Buch behandelten turnerischen Fertigkeiten sind die gleichen Bodenturnelemente, wie wir sie im heutigen Gerätturnen finden: Rolle, Handstand und Rad, verschiedenste Handstützüberschläge, freie (Salti-)Überschläge vorwärts, rückwärts (auch Auerbach-Salto!) und seitwärts, Hecht- und Schraubensalti (Abb. 4) Das „Brettspringen“ wird als „Trampellin“ bezeichnet.
Abb. 4: Schraubensalto
Die wohl beiden bekanntesten Abbildungen von Tuccaro zeigen den Sprung vom gepolsterten Sprungbrett über einen Partner (Abb. 6e) und vom schrägen Absprungbrett über 10 reifenhaltende Männer mit gestreckter Flugphase (Abb. 5) und verzögertem Anhocken zum Salto vorwärts gehockt aus dem letzten Reifen heraus zur Landung (Abb. 5).
Abb. 5: Sprung über 10 reifenhaltende Männer
Beeindruckend sind seine methodischen Vorschläge, die in Abb. 6a-e1 zum Turnen des Saltos vorwärts – aus dem Anlauf oder aus dem Stand von einer Erhöhung (was im vorliegenden Buch in Bezug zum Abgang vom Schwebebalken gesetzt werden könnte) – zum Ausdruck kommt. Exemplarisch hierzu aus seinem Buch von 1599 ein Auszug der Beschreibung zur ersten Abbildung der Lernschrittreihe (Abb. 6a):
Abb. 6a-e: Lernschrittreihe zum Salto vorwärts
„Le faut en arriere retourné esleué sur les deux tresteaux.
Il faut mettre sur le grand tresteau un autre petit tresteau d’un pied & demy de hauteur, d’un pied de largeur, & de deux pieds de longueur, qui sera fort legier, à ce que plus aisément on le puisse leur, & sera tenue par les pieds de deux personnes qui seront droid, dont l’un sera à l’autre un bout, & l’autre à bout. Et le grand tresteau sur lequel on met le petit, doit estre de largeur un bon pied quatre doigts, & de hauteur trois bons pieds, que deux hommes assis ayants l’une & l’autre jambe au trauers du tresteau, tiendront par les pieds, & puis apres nostre jeune homme au dessus du petite tresteau, & auant que d’esleuer le faut se monstrera droid en ceste forte …“ (Tuccaro, 1599/1987, S. 127)
Abb. 7a/b: Wandsalto
Als Erhöhung und Absprunghilfe verwendet er auch ein an die Wand gelehntes Brett, unter anderem für den Salto rückwärts. Der Wandsalto, wie er auch mit einer Schrägen im Parkour geübt wird, wurde schon vor über 400 Jahren mit Gerätehilfen und Partnerunterstützung geübt (Abb. 7a/b, Tuccaro, 1599/1987, S. 148).
Die einzige deutsche Übersetzung liegt nur – handgeschrieben (!) – von H. F. Maßmann von 18902 vor und ist für die heutigen Leser leider kaum zu entziffern. Archange Tuccaro starb fast 80-jährig.
100 Jahre nach dem Erscheinen von Tuccaros Bodenturnbuch beschreibt Weigel 1698 in seinem Kupferstich zum „Beruf“ „Der Springer“ (Abb. 83) (Buch, S. 21) das Vorzeigen von Kunststücken, wie sie schon Tuccaro lehrte, als „Eitelkeit“ und leitet hiervon sogar eine „Lebensweisheit“ ab:
„Der Grund, auf dem so groß will scheine, der Lauffe in dem Vorzugs=Streit, ist lächerliche Eitelkeit, die wanckt, wann wir zu stehen meinen: Dann muß die Höh im Fallen messen, wer andern auff dem Kopff gesessen.“
Abb. 8: „Der Springer“
Die Wettkampfturner entdeckten erst im vorletzten Jahrhundert – nach jahrzehntelang geturnten gymnastischen „Freiübungen“ – das Fliegen, Drehen und Überschlagen eines akrobatischen Bodenturnens. So erregte in München 1923 Martin Gebhardt von der Eintracht Frankfurt großes Aufsehen, als er einen Flick-Flack zeigte. Erst 1964 zeigte als erste Turnerin Erika Zuchold bei einem...