Kapitel 3: Straße Nummer eins, Trang Bàng
„Heiß! Heiß!“
8. Juni 1972
Soweit ich das beurteilen konnte, hatte dieser „Jesus Christus“, den der Soldat da eben gerufen hatte, an jenem Tag Wichtigeres zu tun, als uns zu helfen. Weder er noch irgendeiner der anderen Götter, die ich als Kind so hingebungsvoll verehrt hatte, verhinderten jedenfalls, was dann geschah.
Der Befehl des Soldaten war deutlich und alle, die im Tempel Zuflucht gesucht hatten, rannten los. Wir Kinder stürmten zuerst raus aus dem Gebäude, über das Tempelgelände bis auf die angrenzende Straße – die Straße Nummer eins von Trang Bàng. Wir rannten, so schnell wir konnten, während hinter uns die Hölle losbrach.
Im nächsten Augenblick sah ich ein Flugzeug, das direkt auf mich zusteuerte. Ich hatte noch nie etwas so Großes und Schnelles aus dieser Nähe gesehen. Noch dazu machte diese monströse Maschine einen ohrenbetäubenden Lärm. Wie versteinert blieb ich mitten auf der Straße stehen. Mit offenem Mund blickte ich dem Flugzeug hinterher, das gerade über mich hinwegdonnerte. Sein Rumpf war so riesig, dass er für einen Moment die Sonne verdeckte, die gerade durch die dunklen Sturmwolken durchgebrochen war. Wahrscheinlich wäre ich noch länger einfach regungslos, wie gelähmt, auf dieser Straße stehen geblieben, wenn mich im nächsten Moment nicht eine schreckliche Erkenntnis jäh wachgerüttelt hätte: Dieses Flugzeug ist nicht ohne Grund hier! Ich sah, wie sich aus seinen Bodenklappen vier große, tiefschwarze Behälter lösten. Bomben! Langsam schwebten sie der Erde entgegen. Dann landete eine nach der anderen und überschlug sich beim Aufprall auf dem Boden. Wumm-wumm, wumm-wumm, wumm-wumm, wumm-wumm.
Schlagartig erinnerte ich mich daran, dass ich rennen musste – und zwar um mein Leben. Das waren nicht die schweren Bomben, die wie Felsbrocken auf die Erde krachten, von denen ich schon gehört hatte. Diese Bomben schienen leichter zu sein. Sie segelten eher vom Himmel herab und das machte sie noch unheimlicher. Ich ahnte, in ihren Fässern ist etwas sehr Unheilvolles.
„Neiiiin! Neiiiin!“, schrie ich, doch da war niemand, der mich hören konnte. Alle anderen Kinder und die Soldaten waren verschwunden. Die dicken Rauchwolken, die sich nun um mich herum ausbreiteten, hatten sie verschluckt.
Die Straße Nummer eins galt als die längste Straße Asiens. Sie führt von Tokio durch Korea über Hongkong und Bangladesch, durch Afghanistan und den Iran, bis zur türkisch-bulgarischen Grenze. Sie ist so viele Hunderte von Kilometern lang – warum hätte ich in diesem Moment nicht an irgendeiner anderen Stelle dieser Straße stehen können?
Nein, ich musste genau jetzt in Trang Bàng an genau dieser Straßenecke stehen, wo dieses schreckliche Explosionsfeuer alles um sich herum vernichten würde. Ich werde auf dieser Straße sterben. Diese Flammen werden mich töten.
Hätte mich einen Tag vorher, am 7. Juni 1972, jemand gefragt, was die schlimmsten Schmerzen waren, die ich jemals gehabt habe, hätte die kleine Kim Phuc vermutlich scheu zur Seite geschaut, verlegen mit den Schultern gezuckt und irgendwann leise so etwas gestammelt wie: „Hmm, … als ich mal mit dem Fahrrad hingefallen bin und mir mein Knie aufschürft habe vielleicht?“ Dabei hätte das kleine Mädchen nervös gekichert, weil ihr die Aufmerksamkeit eines Erwachsenen in solchen Momenten unangenehm war.
Das war ich. So ging ich die ersten 8 Jahre durch mein Leben – lachend, unbesorgt und hin und wieder ein bisschen verlegen. Doch mit dem 8. Juni 1972 änderten sich mein Leben und mein ganzes Verhalten radikal. Ein einziger Tag veränderte mich für immer.
Was ich damals mit eigenen Augen sah, war der Abwurf einer besonders schlimmen Brandwaffe namens Napalm. Sie hatte ihren Namen von den zwei Bestandteilen Naphthensäure und Palmitinsäure, die dem Hauptbestandteil Benzin beigemischt wurden. Durch diese Mischung wurde der Brennstoff zu einer zähflüssigen, klebrigen Masse, die sich hartnäckig an alles heftete, womit sie in Berührung kam, und eine extrem hohe Brandwirkung hatte. Egal, welches Material es war – das Feuer fraß sich durch alles hindurch und brannte es in wenigen Augenblicken zu Asche. Obwohl Napalm in unserem Bürgerkrieg schon oft zum Einsatz gekommen war, hatte ich noch nie etwas davon gehört – bis zu dem Tag, als unser Dorf davon brannte und später auch mein Körper. Seitdem weiß ich, dass es kaum etwas Schädlicheres für das menschliche Leben gibt als Napalm.
Damals kannten jedoch weder ich noch die Menschen, die sich an jenem Tag um mich kümmerten, die genaue Wirkungsweise von Napalm. Sie sahen nur, dass ich brannte und unbedingt Hilfe brauchte. Jahre vergingen, bis ich herausfand, dass das Feuer, das auf meinem Körper brannte, kein gewöhnliches Feuer war. Wasser kocht bei hundert Grad. Wenn ein Haus brennt, kann das Feuer Temperaturen von sechshundert bis achthundert Grad entwickeln. Aber Napalm brennt mit bis zu tausendzweihundert Grad. Wenn Napalm im Einsatz ist, bricht die Hölle los – und mitten in ihr fand ich mich an diesem Tag wieder.
Dieses alles verzehrende Höllenfeuer brannte hinter mir und kam mir bedrohlich nahe. Ich lief, so schnell ich konnte, doch war ich weder eine gute Läuferin noch ein besonders kräftiges Kind. So war es auch nicht meine Schnelligkeit, die mir das Leben rettete, sondern meine Kleidung. Ich trug das, was in unserer Gegend üblich war: eine locker fallende Tunika-Bluse aus Baumwolle und eine weite Hose, ebenfalls aus Baumwolle. Der lockere Schnitt war meine Rettung, während die Soldaten in ihren schweren, kugelsicheren Westen keine Überlebenschance hatten. Das extrem heiße Feuer fraß sich in die synthetischen Materialien der Uniformen und die Männer waren in ihren Westen gefangen wie in einem Schmelzofen. Sie starben schnell. Doch die gleichen Flammen, die den Soldaten den Tod brachten, wurden von meiner Kleidung größtenteils erstickt. Das Napalm blieb am Baumwollstoff kleben und verzehrte ihn vollständig, deshalb kam nicht mehr alles von dieser tödlichen Masse auf meine Haut.
Doch auch dieser Rest von Napalm richtete auf meinem Körper schrecklichen Schaden an. Es waren unglaubliche Schmerzen, doch ich rannte einfach weiter die Straße Nummer eins entlang. Mittlerweile war ich nackt und schrie die ganze Zeit vor Angst und Schmerz. Jeder, der mich von hinten sah, war entsetzt. Meine Haut am Nacken, Rücken und an meinem linken Arm brannte und verschwand, als würde ich mich schälen. Das weißliche Bindegewebe blitzte hervor, das normalerweise niemals das Tageslicht sieht. Ich rannte immer weiter – ohne Ziel und ohne Plan, mit lauter unbeantworteten Fragen im Kopf.
Wo ist Mama? Wo sind meine Geschwister? Wo sind die Soldaten, die meine Familie und mich vor diesem Angriff hätten bewahren sollen? Warum musste das alles passieren? Warum musste das mir passieren? Wie soll ich diese Hitze aushalten? Wie soll ich diese Schmerzen überleben?
In meinem Kopf zogen die schrecklichen Ereignisse der letzten Minuten und Stunden wie ein Film im Schnelldurchlauf noch einmal vorbei.
Zu Tode erschrockene Soldaten jagen uns aus dem Tempel.
Maschinen donnern über den Himmel.
Eiserne Monster sinken zur Erde: eines, zwei, drei, vier.
Flammen breiten sich auf der Straße aus, verschlingen den regennassen Weg.
Überall Feuer.
Am Ende dominierte mein ganzes Denken und Fühlen nur noch ein Wort: Heiß! Heiß!
Bevor ich wirklich verstanden hatte, was da gerade mit mir und meinem Körper geschehen war, hatte sich das Feuer bereits auf meinem linken Arm ausgebreitet. Und so wie man ein lästiges Insekt versucht abzustreifen, strich ich instinktiv mit meiner rechten Hand über meinen brennenden Arm, als könne ich auch die Flammen einfach abwischen. Ich ahnte nichts von der heimtückischen Klebkraft des Napalms, das nun an meiner rechten Hand haftete und sich durch meine Haut brannte. Wegen einer einzigen unüberlegten Bewegung trage ich bis heute deshalb auch auf meiner rechten Handfläche die schmerzhaften Folgen dieser Verbrennung.
Es waren entsetzliche Schmerzen und ich rannte weiter, als könnte ich ihnen davonlaufen. Doch irgendwann verließen mich meine Kräfte. Es war einfach zu viel. Ich war so erschöpft, dass ich mitten auf der Straße stehen bleiben musste, obwohl alles in mir danach schrie, wegzulaufen. Ich schaute mich um und erkannte plötzlich wieder etwas um mich herum. Die dunkle Rauchwolke fing an, sich langsam zu lichten. Neben mir sah ich zwei meiner Brüder und zwei meiner Cousins. Dann tauchten einige fassungslose südvietnamesische Soldaten und etliche Reporter, Journalisten und Fotografen in abgewetzten Armeeanzügen in meinem Gesichtsfeld auf.
„Heiß! Heiß!“, rief ich mit letzter Kraft und hoffte, dass mir irgendjemand zu Hilfe eilen würde. „Heiß! Heiß!“ Zu mehr war ich nicht mehr fähig. Die unvorstellbare Hitze überwältigte mich. Ich konnte nicht aufhören zu schreien. Es war so furchtbar heiß, tat so unerträglich weh. Mir war, als würde ich von innen heraus verbrennen. Die Hitze war nicht nur auf meiner Hautoberfläche, sondern fraß mich innerlich auf. Man sah nicht einmal mehr Flammen an meinem Körper; das Napalm hatte sich bereits durch meine Haut gefressen und alles verzehrt, mit dem es in Berührung kam. Ich wurde bis auf die Knochen gekocht und hatte nur ein einziges Verlangen: diesen unfassbaren Qualen...