In die Mitte eines anderen Völkleins
Bären, Gämsen, Kühe und unzählige Sprachen: Graubünden als Festival der Diversität
Ein Samstagabend im September. Ich sitze in Bivio, auf tausendsiebenhundertneunundsechzig Höhenmetern, bei Guidon in der Gaststube. Eine Lesung aus meinen Werken ist angekündigt, es sieht aber so aus, als ob niemand gekommen wäre. Es ist die erste Lesung, die Guidon veranstaltet. Wir warten noch ein wenig.
Ich kenne den Wirt, seit ich einmal das vielsprachigste Dorf Europas gesucht habe. Dafür kam ich auch in die einzige offiziell italienischsprachige Gemeinde nördlich des Alpenhauptkamms, in den einzigen dreisprachigen Kanton der Schweiz. Sprachwissenschafter hatten unter Bivios zweihundert Einwohnern folgende Sprachen ausgemacht: Hochdeutsch und Schweizer Dialekt, Italienisch, den Bergeller Dialekt Bargaiot sowie die rätoromanischen Idiome Surmiran, Putér und Bivio-Romanisch. Ich muss sagen, dass ich damals nicht alle diese Sprachen vorfand. Einige Sprachen von Gastarbeitern waren verbreiteter. Guidon witzelte, dass Portugiesisch und Chinesisch die geeigneteren Schulsprachen wären.
Nun sitze ich wieder bei Guidon. Im Heidsee auf tausendvierhundertvierundachtzig Metern Höhe schwimmend, habe ich am Nachmittag den ersten Almabtrieb gesehen. Voran marschierten die dunkleren Kühe mit dunkel tönenden Glocken, die helleren Kühe dahinter glöckelten hell. Ich habe soeben vereinbart, dass ich über Graubünden schreiben werde, einen Jahreszyklus von Reportagen für die hiesige Zeitung Südostschweiz – und dieses Buch. Ich überlege, wie ich das anstelle.
Zur Lesung kommt niemand mehr, der Wirt macht eine Flasche auf, Rotwein aus Graubünden. Auf dem Etikett wird behauptet: »Seit 1068 werden im ältesten Weingut Europas herrschaftliche Weine naturnah angebaut und gekeltert.« Hm, das wäre schon mal zu überprüfen.
Gewiss ist Graubünden der größte, der gebirgigste und der am dünnsten besiedelte Kanton der Schweiz. Gewiss sind vierhundertsechzig der neunhundertsiebenunddreißig Berge über dreitausend Meter hoch, und vom Parpaner Rothorn soll man über tausend Gipfel sehen. Gewiss, das sind hundertfünfzig Täler und sechshundertfünfzehn der rund tausendfünfhundert Schweizer Seen. Aber stimmen auch die Prahlereien vom höchstgelegenen ganzjährig bewohnten Ort Europas, von der höchstgelegenen Wallfahrtskirche Europas, vom größten prähistorischen Bergsturz der Welt?
Sicher ist, dass sich hier die einzige DreifachWasserscheide Europas verbirgt, nur eine Halbtagestour von Bivio entfernt: Am Pass Lunghin entscheidet der Zufall, ob ein Regentropfen in die Nordsee, ins Schwarze Meer oder ins Mittelmeer fließt. Das möchte ich gerne einmal sehen. Einmal will ich dort oben Wasser verschütten.
In diesen Septembertagen beginne ich mich einzulesen. Ich habe aus der Hauptstadt Chur zwei Taschen rätoromanischen Schrifttums mitgebracht, und ich habe dort mit geweiteten Augen erfahren, dass das rätoromanische Idiom Surselvisch sogar noch Untervarianten für Katholiken und für Protestanten/Reformierte/Evangelische kennt – einmal heißt »Guten Tag« bien gi, einmal bien di. Durch jene Talschaft, die Surselva, bin ich schon früher einmal gekommen. Eine serbische Hoteliersfrau unterhielt die Dörfler von Rabius mit Auftritten in der Uniform eines sowjetischen Rotarmisten. Damals habe ich die Rätoromanen/Romanen belauscht. Aus ihren romanischen Gesprächen klangen deutsche Wörter heraus: fertig, fruchtig, Fernbedienung.
Diese Feinheiten interessieren bei Guidon aber nur mich. Wenn ich in der Gaststube irgendwelche Sprachen/Idiome der Rätoromanen erwähne, fragen sie mich, was ich meine. Es gibt ein größeres Thema – die Hochjagd hat begonnen. Graubünden hat nur zweihunderttausend Einwohner, von denen sind aber sechstausendsechshundert beim »Bündner Kantonalen Patentjägerverband«. Immerhin kann ich die Neuigkeit beisteuern, dass ein Bergüner Romane mit seinem Sohn schon am ersten Samstag der Hochjagd Hirschen geschossen hat. Ungeprüft plappere ich nach, was mir die Tochter des Bergüners erzählt hat: »Die größere Kunst war, wie sie die Hirschen herunterbringen. Die Jäger dürfen ja nicht auf den Berg hinauffahren. Irgendwie haben sie aber die sieben Hirschen heruntergebracht, ich habe sie selbst gesehen.«
Das ist ihr Stichwort. Die Kerle bei Guidon klären mich über die Strenge des Jagdgesetzes auf: »Der Jäger darf nur bei einer Postautohaltestelle parkieren, hundert Meter davor und danach. Neulich ist einer beim Aussichtscafé über dem Stausee Marmorera aus dem Auto gestiegen. Die Polizei hat ihn gesehen, er hat eine saftige Buße gekriegt.« – »Wie hoch war die Strafe? Über tausend Franken?« Sie rollen vielsagend die Augen.
Manchmal lausche ich zu den anderen Tischen hin, denn in dieser Samstagnacht höre ich junge Burschen in gar eigentümlichen Sprachen konversieren. Da mein Italienisch noch schwach ist und da ich mit Rätoromanisch erst anfange, kann ich nicht bestimmen, ob sie einen lombardischen Dialekt oder Romanisch oder gar Portugiesisch sprechen. Dass eine der beiden Gruppen südostasiatische Züge aufweist, macht die Sache nicht leichter. Die Neugier lässt mir keine Ruhe, ich lasse nachfragen. Siehe da, das sind alles Bündner! Die »Secondos« mit Migrationshintergrund sind Fußballer aus dem Puschlav, die eine Partie in Domat/Ems gespielt haben. Sie haben verloren und trollen sich in den Nichtraucherwinkel. Die anderen sind Feuerwehrmänner aus dem Bergell, die gleichfalls in Domat/ Ems waren, für einen Wettbewerb. Sie haben gewonnen. Einer von ihnen bleibt in der Mitte des Lokals stehen und streckt großmächtig die Hände hoch. Unter dem blauen Overall ist er nackt, eine Tätowierung wird sichtbar.
Der Wirt erklärt mir, dass Bewohner der italienischen Bündner Südtäler oft bei ihm Halt machen. Aus dem Puschlav fährt man zweieinhalb Stunden in die Rhein-Agglomeration des Bündner Nordens, man muss mehrere atemberaubende Pässe überwinden und hochalpine Wüsten von kaukasischer Anmutung. Da braucht man schon mal eine Pause, und die legt man gerne in Bivio ein, zumal man sich in der halbitalienischen Exklave auf Italienisch durchschlägt. »Bivio« bedeutet »Wegscheide«, jetzt werde ich Zeuge dessen, was es heißt, eine Wegscheide zu sein. Die Komplexität von Graubünden kann einen um den Verstand bringen.
Die Bündner selbst sind oft von der Dreisprachigkeit genervt, etwa von den Konflikten zwischen den eigensinnigen romanischen Stämmen, von ihrer Ablehnung der wissenschaftlich konstruierten Schriftsprache Rumantsch Grischun. Ich aber bin nicht von hier und genieße die Bündner Diversität in vollen Zügen. Ich habe fast ganz Europa durchritten, habe jedoch kaum je einen Landstrich gefunden, in dem jedes Dorf anders ist. Nicht einmal das südliche Bessarabien reicht so richtig an Graubünden heran.
Graubünden, das ist für mich ein Festival der Vielfalt. In einer landeskundlichen Beschreibung Graubündens aus dem Jahre 1838 heißt es: »Der Wanderer, der diesen Irrgarten durchläuft, tritt, so oft er seinen Fuß in ein neues Thal setzt, in die Mitte eines anderen Völkleins.« Das stimmt immer noch. Nicht einmal die elf neu geschaffenen Bündner »Regionen«, an denen ich mein Porträt des Bündnerlands grob ausrichten will, sind in sich homogen.
Konfessionell ist das ein Flickenteppich aus Talschaften, Enklaven, Exklaven, die katholisch oder reformiert oder gemischt sind. Sprachlich ist das Deutsch, genau genommen drei einander fast unverständliche Dialekte – das alemannische Bündnerdeutsch, das höchstalemannische Walserdeutsch und das Tirolerische im Samnaun, das als einziges Schweizer Tal einen bairischen Dialekt spricht. Bei den Rätoromanen sind das die fünf kodifizierten Schriftidiome Sursilvan, Sutsilvan, Surmiran, Putér, Vallader plus das neutrale Rumantsch Grischun. Dann Italienisch, die heftigen italienischen Dialekte der Südtäler, dazu das Oberengadiner Hotelküchenitalienisch, verwandt mit dem Baustellenitalienisch der Portugiesen. Und die Geheimsprache Jenisch.
»La romantsch ei, sco la libertat, ina nobla foglia de nossas montognas«, schnappe ich in einem meiner Bücher auf, »das Rätoromanische ist, wie die Freiheit, eine noble Tochter unserer Berge«. Die Geschichte dieser Freiheit, das geradezu anarchische Bestehen auf freie Gemeinden, fasziniert mich. Graubünden trat erst vor gut zweihundert Jahren der Schweizer Eidgenossenschaft bei, vorher waren das winzige Bauernrepubliken, die sich zu losen Bünden zusammengeschlossen hatten: zum Gotteshausbund (1367), zum Grauen Bund (1395/1424) und zum Zehngerichtenbund (1436).
Auch wenn Engländer, die schon im 18. Jahrhundert für die »demokratische, freie und einzig von Gott abhängige rätische Republik« schwärmten, die...