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E-Book

Sitzstreik

Tipps und Tricks gegen die Risiken und Nebenwirkungen des Sitzens

AutorCarmen Jochem, Michael Leitzmann
VerlagVerlag Herder GmbH
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl208 Seiten
ISBN9783451814525
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Wir sitzen - im Auto, in der Arbeit und abends auf dem Sofa. Langes Sitzen aber begünstigt die Entstehung einer Vielzahl weitverbreiteter Erkrankungen - darunter Diabetes, Krebs und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Unterhaltsam erklären die beiden Ärzte Carmen Jochem und Michael Leitzmann, was beim Sitzen in und mit unserem Körper passiert und wie es sich auf die Entstehung von Krankheiten auswirkt. Dabei werden die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse anschaulich beschrieben. Ihr Buch liefert leicht umzusetzende Ideen und Lösungsansätze und zeigt, wie wir es schaffen können, im Alltag weniger zu sitzen.

Prof. Dr. Dr. Michael Leitzmann ist Lehrstuhlinhaber für Epidemiologie und Präventivmedizin an der Universität Regensburg. Dr. Carmen Jochem ist Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Epidemiologie und Präventivmedizin in Regensburg.

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Leseprobe

Die Evolution des Homo sedens


Wir Menschen sind Vertreter der Gattung Homo. Weil wir es geschafft haben, uns unsere Vernunft zunutze zu machen, bezeichnet man uns auch als vernunftbegabten Menschen oder auch Homo sapiens (lateinisch sapiens = vernunftbegabt). Unser Charakteristikum ist sozusagen die Vernunft. Der Duden beschreibt Vernunft als das „geistige Vermögen des Menschen, Einsichten zu gewinnen, Zusammenhänge zu erkennen, etwas zu überschauen, sich ein Urteil zu bilden und sich in seinem Handeln danach zu richten“. Nehmen wir dieses Buch als Beispiel. Es bietet uns die Möglichkeit, eine Einsicht darüber zu gewinnen, ob und in welchem Maße Sitzen sich nachteilig auf unsere Gesundheit auswirkt. Im Anschluss an die Lektüre dieses Buches bilden wir uns ein Urteil. Bestenfalls lautet dieses Urteil: Zu langes und ununterbrochenes Sitzen ist schlecht für meine Gesundheit. Wenn es richtig gut läuft, richten wir uns in unserem weiteren Handeln danach und versuchen, zu langes Sitzen zu vermeiden, zu unterbrechen oder zu reduzieren. So würden wir uns also als Homo sapiens verhalten, um unserer Vernunftbegabung gerecht zu werden.

Wir möchten Sie daher auffordern, die nachfolgenden Kapitel unter Zuhilfenahme Ihrer Vernunftbegabung zu lesen. Dabei werden Sie feststellen, dass uns diese Eigenschaft schon sehr lange zugeschrieben wird. Das übermäßige Sitzen hingegen ist in unserer Geschichte als Homo sapiens erst seit relativ kurzer Zeit präsent und nimmt dafür vergleichsweise viel Zeit und Raum in Anspruch. Wenn wir daran nichts ändern, wird man uns daher möglicherweise bald eher als sitzenden Menschen oder Homo sedens bezeichnen.

Millionen Jahre in Bewegung


Vor mehr als drei Millionen Jahren spazierte im heutigen Äthiopien eine frühe Vertreterin der Menschenaffen aufrecht durch die Welt. Sie hieß Lucy und gilt als das bekannteste Fossil von Australopithecus afarensis (eine Art der ausgestorbenen Gattung Australopithecus). Die Namensgebung beruht übrigens auf dem bei der Ausgrabung vom Tonband ablaufenden Song der Beatles „Lucy in the sky with diamonds“. Was man von Lucy weiß, ist nicht viel. Sie war etwa 1,05 Meter groß, wog 27 Kilo und starb als junge Erwachsene. Sie konnte sich auf zwei Beinen fortbewegen – auch wenn ihre Beine im Vergleich zu den Armen noch verhältnismäßig kurz waren. Wir können aber davon ausgehen, dass Lucy die meiste Zeit in Bewegung war. Sie musste sich schließlich ihre Nahrung besorgen und konnte dafür nicht mit dem Auto bis direkt vor den Supermarkt fahren – ganz zu schweigen von einem Heimlieferservice, der ihr die frischen Bio-Beeren direkt in die Höhle geliefert hätte. Nicht einmal das regelmäßige Entleeren von Blase und Darm erledigte sie im Sitzen. Und auch wenn es überraschen mag, selbst drei Millionen Jahre später verrichten bei Weitem nicht alle Menschen ihr Geschäft im Sitzen (auch wenn dieser Gedanke dem überzeugten Comics-auf-dem-Klo-Leser kaum nachvollziehbar erscheint), sondern im Hocken – mehr dazu später.

Einige Zeit nach Lucys Ableben, also vor rund 2,5 Millionen Jahren, trat eine neue Gattung in Erscheinung: der Homo. Die Angehörigen der Gattung Homo unterscheiden sich von der Gattung Australopithecus, der Lucy angehörte, unter anderem durch eine Zunahme von Körper- und Gehirngröße, längere Beine und kürzere Arme. Die beiden ältesten Homo-Arten sind der Homo rudolfensis und der Homo habilis. Danach, vor etwa zwei Millionen Jahren, entwickelten sich der Homo ergaster und der Homo erectus. Über verschiedene Wege, die hier nicht weiter ausgeführt werden sollen, entstanden aus dem Homo erectus der Neandertaler (Homo neanderthalensis) und der Homo sapiens – der moderne Mensch. Auch wenn die zeitlichen Dimensionen im Vergleich zu Lucys Existenz überschaubarer sind, so sind auch die ältesten derzeit bekannten Funde immerhin über 150 000 Jahre alt. Zu den wichtigsten Merkmalen der Gattung Homo und damit auch des Homo sapiens gehört unter anderem der aufrechte Gang auf zwei Beinen (Bipedie), der uns das Stehen, aber auch die Fortbewegung im Gehen oder Laufen ermöglicht. Zwar konnte auch Lucy bereits aufrecht gehen, das Laufen oder Rennen in ausgereifter Form war jedoch erst der Gattung Homo möglich.

Damit waren unsere Vorfahren perfekt dafür ausgerüstet, ihrem Jäger- und Sammlertum zu frönen. Sie hatten eine starke Gesäßmuskulatur und lange Beine mit relativ kurzen Füßen und Zehen, die es ihnen ermöglichten, weite Strecken per pedes zurückzulegen. Dass das anstrengend war, kann man sich gut vorstellen. Und dass jeder Jäger, Sammler oder Nomade sich auch einmal ausruhen wollte, ist ebenso klar wie die Tatsache, dass keiner von ihnen einen Klappstuhl dabei hatte, um sich bei Gelegenheit darauf niederzulassen. Was taten sie also? Vermutlich das Gleiche, was auch wir tun würden, wenn nach einem langen Marsch weit und breit keine Bank in Sicht ist und wir unseren Campingstuhl dummerweise nicht in den Rucksack gepackt haben. Sie hockten, kauerten oder legten sich einfach hin.

Was Sesshaft werden mit Sitzen zu tun hat


Wie ging es nun weiter mit den Jägern und Sammlern, die sich zum Ausruhen hinhockten? Es kam die Zeit, in der sie begannen, sesshaft zu werden.

Was Sesshaft-Werden mit Sitzen zu tun hat? Nun ja, das Sesshaft-Werden ist gewissermaßen der Ursprung des Sitzens. Zumindest hierzulande haben die Menschen angefangen, sich – in zweierlei Hinsicht – niederzulassen. Zum einen gingen sie zu einer ortsgebundenen Landwirtschaft über und blieben in Form von Siedlungen am selben Ort: sie besetzten sozusagen ein Stück Land, um sich dort häuslich niederzulassen. Zum anderen ermöglichte diese Sesshaftigkeit die Entwicklung und Etablierung von ersten Sitzgeräten.

Dennoch, wie kommt es, dass wir uns, nachdem wir uns über Millionen von Jahren zu einem Homo erectus entwickelt haben, der die Hände vom Boden genommen hat, die Hüfte gestreckt hat, um auf beiden Beinen in aufrechtem Gang zu laufen, innerhalb kürzester Zeit zu einem überall und fast dauerhaft sitzenden Wesen entwickelt haben?

Über königliches Thronen und christliches Sitzen


Während wir uns ein Leben in einer Umwelt, in der sich nicht an jeder Ecke Sitzgelegenheiten finden, heutzutage nur schwer vorstellen können, war dies noch vor einigen tausend Jahren durchaus die Realität. So war das Sitzen nur einigen wenigen und besonders mächtigen Personen wie beispielsweise Königen oder Priestern vorbehalten. Der königliche Thron stellt damit einen besonders edlen Vorfahren des Stuhls dar.

Im Christentum war das Sitzen auf Stühlen zuerst nur den Kirchenältesten erlaubt. Schließlich erhielten auch die Priester Sitze, und die Erfindung des Chorgestühls ermöglichte es den Priestern schon in frühchristlicher Zeit, während der Liturgie auch einmal Platz zu nehmen. Der Gemeinde war das Sitzen während des Gottesdienstes jedoch noch lange Zeit vorenthalten – sie wohnte dem Gottesdienst entweder kniend oder stehend bei.

Im Laufe der Zeit und mit wachsendem Reichtum wurden schließlich auch Sitze für Nichtgeistliche in der Kirche aufgestellt. Diese waren jedoch zunächst den angesehenen Vertretern des Bürgertums vorbehalten. Erst während der Reformation, also vor rund 500 Jahren, forderte die protestantische Gemeinde die Bestuhlung der Kirchen. Die katholische Gemeinde ließ sich damit noch etwas mehr Zeit.

Die Hockprobe – ein Selbstversuch:

Stellen Sie Ihre Füße mit etwas Abstand zueinander fest auf den Boden. Nun beugen Sie die Knie und bringen Sie Ihr Gesäß nach unten – und zwar so weit es geht. Die Fußsohlen bleiben allerdings auf dem Boden. Verweilen Sie ruhig eine Weile in der sogenannten Tiefen Hocke 

Geschafft? Dann können Sie sich nun einer der folgenden Gruppen zuordnen:

Gruppe 1) Ich bin weit davon entfernt, überhaupt in die Hocke zu kommen;

Gruppe 2) In die Tiefe Hocke komme ich schon – aber meine Fersen wollen einfach nicht am Boden bleiben;

Gruppe 3) Ich komme in die Tiefe Hocke, finde es allerdings höchst ungemütlich;

Gruppe 4) Ich kann mich in der Tiefen Hocke absolut entspannen.

Sie sind sicher nicht alleine, wenn Sie diese als „Tiefe Hocke“ bezeichnete Haltung nicht unbedingt als erholsam empfinden. Hierzulande ist Hocken (mit beiden Füßen am Boden) den meisten Menschen heutzutage nicht mehr möglich. Hierzulande, weil in vielen Teilen dieser Welt ein Großteil der Bevölkerung sehr wohl hocken kann. Und nicht mehr, weil es uns im Kindesalter durchaus möglich ist, zu hocken, und zwar sogar über einen längeren Zeitraum. Interessanterweise nehmen wir die Hockhaltung beim Kind auch durchaus als normal wahr. Umgekehrt verhält es sich, wenn man sich als Erwachsener beispielsweise am Bahnsteig oder im Wartesaal einfach hinhockt. Oder wie würden Sie reagieren, wenn Sie den Büronachbarn am Boden oder auf dem Schreibtischstuhl hockend vor seinem Laptop vorfinden würden?

Stuhl Nr. 14 geht in Massenproduktion


Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts (also vor rund 200 Jahren) galten Stühle als Luxusobjekte, die in aufwendiger Handarbeit und häufig aus edlen Materialien gefertigt wurden und somit nur für einen kleinen Teil der Gesellschaft überhaupt erschwinglich waren.

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