Methoden, um Wesentliches zu erkennen
Augen auf! – Die Röntgen-Methode
Was zeichnet kreative Menschen aus? Welche besonderen Fähigkeiten haben Entdecker, Erfinder oder Leute, die zukünftige Entwicklungen vorausahnen? – Sie »sehen« Dinge und Beziehungen, die andere nicht wahrnehmen. Dabei geht es gar nicht um einen übersinnlichen Blick in die Zukunft. Sondern sie registrieren beispielsweise ein leichtes Vibrieren und deshalb überrascht sie das später folgende Erdbeben nicht. Sie bemerken nicht nur das, was alle sehen (wollen oder können). Sie achten darauf, was anders verläuft als die aktuelle Mode oder der allgemeine Trend, und verbinden es mit entfernt liegenden Sachverhalten oder Erfahrungen. Was viele als Nebensächlichkeit oft ignorieren, erweist sich im Nachhinein nicht selten als Indikator, der eine zukünftige Entwicklung angekündigt hat.
Schauen wir uns dazu ein Beispiel an. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert untersuchten viele Wissenschaftler elektrische Erscheinungen in luftleer gepumpten Glasröhren. Die Leute waren fasziniert von den Leuchterscheinungen und elektrischen Phänomenen, die im Innern solcher Röhren auftraten. Alle schauten in die verschiedensten Formen solcher Gebilde aus Glas und Metall hinein. Nur ein Einziger bemerkte, dass sich auch außerhalb etwas tat: Kristalle, die ein ganzes Stück entfernt auf seinem Arbeitstisch lagen, begannen nämlich zu leuchten. Dabei war die Röhre ummantelt, sodass gar kein Licht nach außen treten und damit die Erscheinung verursachen konnte. Es musste hier folglich eine unsichtbare, die Stoffe durchdringende Strahlung wirken. Der Mann bekam für diese Entdeckung 1901 den allerersten Nobelpreis für Physik. Er hieß Wilhelm Conrad Röntgen.
War seine Entdeckung Zufall oder hatte er nur Glück? Einige Neider warfen ihm dergleichen vor. Doch während alle vom Zeitgeist gebannt buchstäblich nur in eine Richtung starrten – schaute er in eine andere und achtete auf eine »Randerscheinung«. Nur so konnte er die durchdringende Wirkung der später nach ihm benannten Strahlung entdecken. Millionen Menschen haben sich seither »röntgen« lassen und profitierten davon, dass jemand vor vielen Jahren nicht das getan hatte, was alle getan hatten.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es eine ganze Reihe von solchen Entdeckungen, die zu einem Aufbrechen scheinbar festgefügter Weltbilder in den Naturwissenschaften führten. So ging die Anschaulichkeit physikalischer Sachverhalte durch die neu entstandene Quantenphysik verloren. Gleichzeitig geriet durch die Relativitätstheorie die fundamentale Vorstellung von Raum und Zeit »aus den Fugen«. Ähnlich revolutionäre Entwicklungen liefen zur gleichen Zeit nicht nur in der Wissenschaft ab. Auch in der Kunst und in der ganzen europäischen Gesellschaft kam es zu radikalen Umbrüchen. Plötzlich erschien vieles nicht mehr, wie es immer gewesen war.
Lassen sich solche Entwicklungen vorausahnen und damit erfolgreich nutzen? Kann es heute auch noch zu derartigen Umwälzungen kommen? Revolutionen – im Denken, aber auch in der Gesellschaft – kündigen sich nicht immer spektakulär an. Zunächst scheint alles noch wohlgeordnet, geregelt und unumstößlich. Bei genauerem Hinschauen kann man zwar einige Probleme oder ungewöhnliche Phänomene entdecken, aber die erscheinen oft nicht gravierend. Doch gerade diese Unklarheiten erweisen sich als entscheidende Punkte! Regelrecht blitzartig entwickeln sich daraus Widersprüche, die zu radikalen Umwälzungen führen.
Im Nachhinein lassen sich solche Zusammenhänge meistens verhältnismäßig einfach nachvollziehen, und alles scheint logisch zusammenzupassen. Doch wenn man mittendrin in den Entwicklungen steht, fällt das deutlich schwerer.
Heute blickt bei den aktuellen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Turbulenzen und Verwerfungen kaum noch jemand durch, genauso auch bei einer immer komplexer und allmächtiger werdenden Technik. Wir lagern und blenden notgedrungen vieles aus, arbeiten zunehmend nur noch mit Oberflächen und schauen bestenfalls wie durch Fenster (Windows!) auf die Welt. Wir starten Anwendungen (Applikationen = Apps!), ohne zu wissen, was denn da eigentlich angewendet wird. Was sich »dahinter« verbirgt, begreifen wir nicht mehr. Wir denken weiterhin meist nur in einfachen, direkten Abhängigkeiten und »fahren auf Sicht«.
Auch die Hoffnung, dass es ja Spezialisten gibt, die komplexe Sachverhalte verstehen und »im Griff haben«, wird allzu oft enttäuscht. Ein Blick in die Nachrichten belehrt uns eines Besseren. Vom Hilfsarbeiter bis zum Staatschef erscheinen viele nicht mehr als Gestalter, sondern als Getriebene. Was ist also zu tun?
Wir müssen Methoden finden und nutzen, die uns helfen, den Durchblick zu gewinnen. Der erste Schritt dazu ist nicht »Augen zu!«, um die Vielfalt und Komplexität zu ignorieren (was angesichts der vielen schlechten Nachrichten nur zu verständlich wäre), sondern ganz im Gegenteil: »Augen auf!« Dabei müssen wir nicht nur die ganz globalen Entwicklungen im Auge haben. Großes spiegelt sich – siehe Röntgens Entdeckung – auch in Details wider. Man muss es nur sehen und seine Beziehungen zum Ganzen herstellen können.
Auf unseren Alltag übertragen heißt das: Wir sollten mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln – vor allem mit unseren Sinnen, aber auch mit modernster Technik – unsere Welt bis in die Details hinein betrachten. Nur so haben wir überhaupt eine Chance, neue Phänomene, Strukturen, Beziehungen und ihre immer rasantere Entwicklung zu begreifen. Das ist nicht einfach, denn es fordert von uns, auf die Denkhöhe unserer Zeit zu gelangen. Von dort aus können wir nämlich nicht nur Probleme identifizieren, sondern auch Lösungen und Chancen entdecken und sie nutzen.
Übung 2: Schauen Sie sich überraschende Entwicklungen in der Geschichte oder der aktuellen Politik an, mit denen niemand gerechnet hatte, die aber im Nachhinein völlig logisch erscheinen!
Übung 3: Beobachten Sie Ihre Umwelt genau und achten Sie dabei auf Dinge und Sachverhalte, die Ihnen bislang noch nicht aufgefallen sind. Fragen Sie sich, ob sich daraus etwas gänzlich Neues und Ungewohntes entwickeln kann!
Ich sehe was, was Du nicht siehst – Die Methode des Perspektivenwechsels
Wie einseitig borniert Dinge gesehen werden können, können wir in politischen Talkshows erleben. Zu Beginn werden die Teilnehmer und ihre Ansichten kurz vorgestellt. Dann könnte man den Fernseher ausschalten, denn neue Erkenntnisse werden im Gespräch nicht entwickelt. Dabei geht es doch meist um Probleme, die viele Leute betreffen! Also müsste man eigentlich im Gespräch gemeinsam Lösungen suchen – anstatt sich möglichst effektreich unversöhnliche Meinungen an den Kopf zu werfen. Ein wirkliches Miteinander-Sprechen setzt aber voraus, dass man zuhört, die Argumente des anderen versteht und ernst nimmt. Davon sind wir in unserer aktuellen Gesellschaft offenbar weit entfernt.
Was hat das alles mit Physik zu tun? Die Physik versucht, möglichst objektive Bilder eines Sachverhaltes zu finden und sie zu einem repräsentativen und nützlichen »Gesamtbild« zusammenzusetzen. Von dieser Vorgehensweise sollten wir im Alltagsgeschäft lernen.
Schauen wir uns dazu in Abbildung 1 einen (schematisch dargestellten) Gegenstand an. Er erscheint in der linken und der unteren Ebene in der Projektion als Rechteck, in der rechten Ebene als Kreis. Der Streit um »das Wesen der Sache« ist also vorprogrammiert: Während zwei Parteien guten Gewissens behaupten, es handle sich um einen eckigen Gegenstand, ist die dritte Partei felsenfest der Ansicht, er sei rund. Eine demokratische Abstimmung darüber brächte auch kein objektives Bild: Die »Rechteck-Fraktion« bekäme zwar eine Zweidrittelmehrheit, doch ein wesentlicher Aspekt bliebe trotzdem unberücksichtigt.
Um also ein objektives Bild des ganzen Sachverhaltes zu bekommen, müssen sich die Leute zunächst unvoreingenommen über ihre Erkenntnisse austauschen, die Argumente des anderen nachvollziehen und diese – wenn keine Fehler vorliegen – akzeptieren.
Wer eine Situation umfassend beurteilen will, muss daher gegebenenfalls seine Perspektive verändern. Das ist nicht immer so einfach, wie es uns scheint – nicht nur im politischen Umfeld. »Auf die andere Seite gehen« und von dort schauen, ist allerdings nur der erste Schritt. (Das Gehen ist dabei natürlich nicht nur als eine Bewegung im Ort gemeint.) Bei der Vereinigung von scheinbar unvereinbar erscheinenden Sachverhalten müssen wir uns unter Umständen auch einer völlig neuen, ungewohnten Betrachtungsweise zuwenden. In der Abbildung ist das ein Wechsel vom Zwei- ins Dreidimensionale.
Zweidimensionale Wesen haben nur Erfahrungen in ihrer Welt, eine dritte Dimension ist für sie zunächst nur in einem abstrakten Raum denkbar. Dem Menschen ist aber die Fähigkeit gegeben, in solche Räume vorzudringen – zunächst in Gedanken und mitunter auch real. Das setzt aber einen guten Willen voraus. Rechthaberei und das Beharren auf dem eigenen Standpunkt als einzig legitimen führen an dieser Stelle nicht weiter.
Abbildung 1: Je nach Perspektive wird ein Gegenstand gänzlich anders gesehen und bewertet.
Als die alten Seefahrer die Meere befuhren, bewegten sie sich offensichtlich immer auf einer Fläche, die irgendwo ein Ende haben oder ins Unbeschreibliche führen würde. (Ihre Erfahrung lehrte sie, dass alles ein Ende hat.) In Wahrheit ist die Ebene nur in unserem beschränkten Umfeld durch den Horizont begrenzt. Tatsächlich können wir auf einer...