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E-Book

Projekt Europa

Eine kritische Geschichte

AutorKiran Klaus Patel
VerlagVerlag C.H.Beck
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl464 Seiten
ISBN9783406727696
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis22,99 EUR
Die EU ist im Krisenmodus. Nach einer jahrzehntelangen Erfolgsgeschichte scheint die Union nun erstmals in ihrer Existenz bedroht. Doch ist die heutige Situation wirklich so außergewöhnlich? Auf Grundlage der neuesten Forschung und eigener Archivrecherchen erzählt Kiran Klaus Patel die Geschichte der europäischen Integration im Kalten Krieg neu und taucht damit auch die Entwicklungen der Gegenwart in ein anderes Licht. Das Selbstbild der EU könnte strahlender nicht sein. Sie steht für Friedensstiftung, Wirtschaftswachstum, eine an Werten orientierte Politik sowie ein unaufhaltsam zusammenwachsendes Europa. Und im Rückblick will es so scheinen, als hätten ihre Vorläuferorganisationen dies alles ganz aus sich heraus und nahezu zwangsläufig geschaffen. In seinem mit überraschenden Einblicken gespickten Buch hinterfragt Kiran Klaus Patel diese Standarderzählung und macht deutlich, dass dieses überzogene Selbstbild das heutige Krisenempfinden unnötig verschärft, weil für neu und bedrohlich gehalten wird, was es immer schon gegeben hat. Eine kritische Geschichte, die fragt, wie die EU wirklich entstand - jenseits des Wunschbilds der politischen Sonntagsreden.

Kiran Klaus Patel ist Professor für Europäische und Globale Geschichte und Inhaber des Jean-Monnet-Lehrstuhls für Geschichte an der Universität Maastricht

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Leseprobe

Prolog


Ein Mann steht auf einer Leiter und schlägt mit Hammer und Meißel einen Stern aus der Flagge der EU heraus. 2017 malte der britische Street-Art-Künstler Banksy dieses Wandbild an ein Haus in der britischen Hafenstadt Dover, die seit der Antike ein wichtiger Verbindungspunkt zum Festland ist und heute knapp 20 Prozent des britischen Handels abwickelt. Wer sich hinter dem Pseudonym Banksy verbirgt, ist unbekannt; klar ist, dass sich sein Werk als Kommentar auf den Brexit versteht.

Tatsächlich scheint es heute oft so, als hätte die Europäische Union ihre besten Zeiten längst hinter sich und sei nach Dekaden des Erfolgs in den letzten Jahren in eine Existenzkrise geraten. Vor dem Brexit gab es die Debatte über den Grexit; hinzu kommen die weiteren Probleme der Eurozone oder etwa die Streitigkeiten im Umgang mit Geflüchteten. Immer wieder wird die Frage aufgeworfen, ob das Einigungsprojekt demnächst scheitern oder zerfallen wird. Der Putz bröckelt, das Abbruchkommando ist unterwegs und die EU agiert im Krisenmodus.

Vor diesem Hintergrund strahlt die Vorgeschichte der Europäischen Union seit den 1950er Jahren in um so hellerem Licht. Immerhin erhielt die Union 2012, sechzig Jahre nach Gründung ihrer ältesten Vorläuferorganisation, den Friedensnobelpreis mit der Begründung, dass sie «über sechs Dekaden hinweg zum Fortschritt von Frieden und Versöhnung, Demokratie und Menschenrechten in Europa» beigetragen habe.[1] Diese Errungenschaften gelten heute als gefährdet; mehr als nur ein Stern droht vom tiefblauen Himmel zu fallen. Insofern passt Banksys monumentales Kunstwerk, das die Außenwand eines dreistöckigen Gebäudes ausfüllt, ganz in unsere Tage und bildet einen direkten Kommentar zu einem der brennendsten Probleme des heutigen Europas.

Abbildung 1 · Banksys Wandgemälde in Dover, 2017

Allerdings verweist das scheinbar so plakative Wandbild auf manches erst auf den zweiten Blick. Man muss zum Beispiel genau hinsehen, um zu erkennen, dass die Wand schon Risse aufwies, bevor der von Banksy gemalte Abbrucharbeiter den Hammer schwang. Außerdem zerstört er den Sternenkranz, kann der Wand selbst jedoch wenig anhaben. Zugleich hat Banksy den Handwerker auf eine wackelige lange Leiter gemalt. Wie weit der Abbruch geht, und ob nicht der Mann gefährdeter ist als die EU-Flagge, lässt das Wandbild offen.

Andere Dinge sind dem Kunstwerk gar nicht zu entnehmen: Die Zahl der goldenen Sterne auf blauem Grund beträgt seit den 1950er Jahren zwölf – woran weder eine Erweiterung der EU noch der Brexit etwas ändern. Und mehr noch: In den ersten dreißig Jahren seiner Existenz war das Sternenbanner gar nicht das Symbol der EU oder ihrer Vorläufer, sondern einer deutlich weniger bekannten, eigenständigen Organisation, des Europarats. Niemand hätte das Wandbild verstanden, hätte Banksy es bereits 1973 gemalt, als das Vereinigte Königreich der damaligen Vorgängerin der EU, der Europäischen Gemeinschaft (EG), beitrat. Dafür war das dargestellte Symbol zu unbekannt – während heute Fotos von Banksys Kunstwerk um die Welt gehen und Medien in den USA, Uruguay, Thailand und Russland über die Aktion berichten, weil jeder sofort versteht, was gemeint ist und warum die Sache wichtig ist. Aber nicht nur das dargestellte Europasymbol leitet zu weiteren Fragen über; dasselbe gilt für den Ort des Kunstwerks. Banksy wählte ein Gebäude, dessen Abbruch ohnehin geplant ist – was die Frage aufwirft, ob das fehlende Sternchen den größeren Lauf der Dinge überhaupt zu verändern mag.

Damit sind die Problemfelder umrissen, um die es in diesem Buch geht. Einerseits erscheint die heutige Krise der EU einmalig tief. Aber ist die Lage wirklich so außergewöhnlich? Das Selbstbild der EU könnte positiver nicht sein. Sie steht für Friedensstiftung, Wirtschaftswachstum, eine an Werten orientierte Politik sowie ein zusammenwachsendes Europa. Ihre Gegner verteufeln sie hingegen als bürokratisches Monster, das Geld verschwendet, nationale Souveränität zersetzt und im besten Fall einfach überflüssig ist, im schlimmsten jedoch brandgefährlich.

Wie immer man das Ergebnis sieht – im Rückblick will es so scheinen, als hätten die Vorläuferorganisationen der heutigen Europäischen Union all dies ganz aus sich heraus und nahezu zwangsläufig geschaffen. Dagegen zeigt dieses Buch, dass das überzogene Selbstbild der EU das heutige Krisenempfinden verschärft, weil für neu und bedrohlich gehalten wird, was es in ähnlicher Form schon zuvor gegeben hat. Dadurch wird der Kern des heutigen Problems übersehen. Zugleich werden hier viele Mythen, die sich um die Geschichte europäischer Integration ranken, auf einen kritischen Prüfstand gestellt und ebenso jene Vorwürfe, mit denen sich die EU so oft konfrontiert sieht. Es geht also um eine kritische Geschichte, die fragt, wie und warum die EU wirklich entstand und was sie leistete – jenseits des Wunschbilds politischer Sonntagsreden und billiger Polemik. Dabei zeigt sich, dass sie sich in ihrer Geschichte fundamental verändert hat, und zugleich, wie unwahrscheinlich ihr heute unbestreitbares Gewicht noch vor wenigen Jahrzehnten war. Vieles, was wir heute in die Anfangszeit des europäischen Einigungsprozesses zurückprojizieren, nahm erst deutlich später klare Formen an.

Um all das zu verstehen, ist es notwendig, sich von gewohnten Denkmustern zu verabschieden. Das gilt erstens für einen Zugriff, der sich auf Motive und Antriebskräfte konzentriert. So ist das Gros der bisherigen Bücher vorgegangen – während die meisten Menschen mehr interessieren dürfte, wie es um die konkreten Ergebnisse und Effekte europäischer Integration bestellt ist. Darüber wissen wir bislang erstaunlich wenig – so wie die EU allgemein für die meisten Menschen überaus abstrakt und wenig greifbar geblieben ist. Sie sind damit nicht allein. So billigen auch viele Historiker, wenn sie die Geschichte Europas im 20. Jahrhundert beschreiben, der europäischen Integration wenig Raum zu – offensichtlich halten sie diese für einen ziemlich nachrangigen Faktor.[2] Dagegen wird hier gezeigt, dass die Europäische Gemeinschaft in manchen Fragen bereits früh wichtige Effekte erzielte, und in weiteren vor allem seit den 1970er und 1980er Jahren. Allerdings bezog sich dies häufig auf andere Bereiche als jene, in denen sich die EU selbst im Rückblick wichtige Wirkungen zuschreibt. Deutlich wird das vor allem, wenn man sich nicht auf die Binnendynamik zwischen den Mitgliedstaaten beschränkt, sondern auch danach fragt, was europäische Integration in Bezug auf globale Probleme wie die Kubakrise, die Welthandelspolitik und das Ende des Kalten Krieges bedeutete – aber auch für algerische Winzer, argentinische Militärs oder japanische Automobilhersteller. Insgesamt wurden bereits vor dem Maastrichter Vertrag von 1992 die Fundamente für jene bestimmende Position gelegt, welche die EU in unserer Gegenwart einnimmt.

Zweitens geht es hier nicht darum, jeden einzelnen Schritt der europäischen Integration – als dem Zusammenschluss gleichberechtigter, souveräner Staaten, die sich gemeinsame Regeln und Institutionen gegeben haben – nacheinander chronologisch durchzugehen und sich an der Organisationsgeschichte entlangzuhangeln. Da so vieles passierte, verliert man sich dann schnell in der Wiedergabe technischer Details oder – noch häufiger – der Ereignisgeschichte von aufeinanderfolgenden Verhandlungsrunden. Zugleich führt dies leicht zu einem teleologischen Narrativ, das eigentlich nur Vertiefung und Erweiterung als Modi der Geschichte kennt – unterbrochen von gelegentlichen Phasen des Stillstands, die jeweils durch heroische Kraftakte überwunden werden.[3] Geschrieben wird das häufig als Abfolge von Konflikten zwischen großen Männern (und einigen wenigen Frauen), wobei die Rollen klar verteilt sind: Jean Monnet, Konrad Adenauer, Alcide De Gasperi und Paul-Henri Spaak, Jacques Delors oder etwa Helmut Kohl geben die Lichtgestalten proeuropäischer Visionäre; Charles de Gaulle, Andreas Papandreou oder Margaret Thatcher die Hauptschurken der Geschichte. In der europakritischen Variante dreht sich die Besetzung einfach um. Dabei wissen wir längst, dass auch Monnet, Adenauer und Spaak nationale Interessenpolitik betrieben und keineswegs für eine idealistisch motivierte Überwindung der Nationalstaaten eintraten[4] – während umgekehrt de Gaulle und Thatcher zwar viel schimpften, sich in manchen Fragen mit der EG jedoch erstaunlich gut arrangierten. Zugleich lässt ein Fokus auf dem...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Cover1
Titel3
Impressum4
Inhalt5
Prolog7
1. Europa und europäische Integration22
2. Frieden und Sicherheit65
3. Wirtschaftswachstum und Wohlstand108
4. Partizipation und Technokratie149
5. Werte und Normen186
6. Bürokratisches Monster oder nationales Instrument224
7. Desintegration und Dysfunktionalität267
8. Die Gemeinschaft und ihre Welt295
Epilog342
Dank363
Anmerkungen369
Abkürzungsverzeichnis410
Quellen- und Literaturverzeichnis412
Abbildungsnachweis458
Register459
Zum Buch464

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