Kapitel 1
Die Nacht von Alpu
Es war vor langer Zeit – vor so langer Zeit, dass die menschliche Erinnerung keine Spur mehr daran bewahrt … Es ist so lange her, dass auch in alten Büchern nichts mehr darüber zu finden ist. Es ist wirklich sehr lange her. Nur ein paar Steine, die im Sand schlummern oder ein paar in den Fels gegrabene Blicke könnten noch davon zeugen.
Und doch erinnere ich mich … denn ein Herz löscht niemals die Verbindung aus, die es mit anderen Herzen eingegangen ist. Ich erinnere mich, weil die Zeit ein seltsamer Fluss ist, der manchmal von einem verlangt, an seinen Windungen entlangzuwandeln und eine Saat auszubringen.
Es war also vor langer Zeit … vor fast dreitausendvierhundert Jahren unserer Zeitrechnung, irgendwo in einer Wüste zwischen Euphrat und Tigris … wo die Sonne unbarmherzig sengt und seit Ewigkeiten Winde über den steinigen Boden kreisen.
Ich war zu Fuß unterwegs seit … ich weiß nicht mehr wie lange … Ich ging allein zwischen einer kleine Gruppe von Nomaden mit ihrer Kamelkarawane. Ich wollte nach Alpu3, einem großen Marktflecken mitten in der Wüste. Die Straße war in der Schotterebene kaum erkennbar. Endlos zog sie sich am Rand des kargen Gebirges entlang. Ich war nicht in der Stimmung, mit meinen Reisebegleitern zu lachen oder zu plaudern. War ich mit den Jahren schweigsam geworden? Vermutlich war meine Seele zu voll vom Glück und von den Verletzungen eines ganzen Lebens … Ich wollte nur bald Alpu erreichen, das war alles. Im Grunde wünschte ich mir, mein Leben würde dort enden.
Ich wusste, dass ich erwartet wurde. Zumindest konnte ich darauf hoffen … wenn alles so war wie früher, wenn sich nichts und niemand verändert hatte. Am Eingang der Stadt musste ein großes, weißes Haus mit breitem, flachem Dach stehen. Ob es noch immer von Feigenbäumen umgeben war?
Vor einem Monat hatte ich eine Tontafel dorthin schicken lassen, in die ich das Siegel meines Ringes gedrückt hatte. War sie angekommen? Meine Gedanken erstarrten. Ich wusste nicht einmal mehr, ob mein Herz Freud oder Leid empfand.
Während die Sonne sich purpur färbte, erschienen am Ende des letzten Tages vor unserer kleinen Gruppe endlich die ersten Terrassen der altertümlichen Stadt Alpu. Die Straße wurde breiter. Es waren mehr Menschen auf ihr unterwegs, fast als habe die Wüste selbst auf einmal eine Menge Seelen hervorgebracht. Bald war ich von vielen Händlern und Bauern umgeben, die hastig voraneilten.
Bis auf die Kolonnen von Frauen, die mit riesigen Kornballen auf dem Kopf stolz einherschritten, war mir nichts mehr vertraut. Neue Häuser ragten allenthalben empor und die Lager der Schäfer erstreckten sich viel weiter ins Land hinein, als ich es von früher kannte. Die Stadt hatte sich ausgebreitet. Würde ich das große Haus mit den Feigenbäumen überhaupt noch finden? … Ich zögerte, es mein Haus zu nennen, so viel Zeit war seit jenem Tage vergangen, an dem ich fortgegangen war. Wie viele Sternenkonstellationen waren inzwischen über mich hingezogen! Damals war ich noch jung, es war eine andere Zeit, vielleicht sogar ein anderes Leben … Ja, gewiss ein anderes Leben. Auf beiden Seiten des Weges begannen nun die Feuer der Nomaden zu knistern. Ich weiß noch, dass sie meiner Seele etwas von der Fröhlichkeit wiedergaben, die ihr fehlte. Es war wohl der Duft dieses Feuers, der Erinnerungen hervorrief. Und so richtete ich mich auf und begann, schneller zu gehen.
Aus dem Stimmengewirr der Vorübereilenden drang plötzlich eine Stimme heraus und berührte mich im Innersten. Sie klopfte gleichsam an die Türe meiner Seele. Sie klang zögernd und entschieden, schüchtern und kraftvoll zugleich.
“Nagar … Nagar-Teth …!”
Ich blieb stehen und sah mich um.
“Nagar-Teth … bist du es wirklich?”
Am Wegesrand erblickte ich eine kleine Gestalt, die völlig in einen dunklen Schleier gehüllt war. Sie saß auf einem großen Stein und starrte mich an, als warte sie auf mich.
“Bist du es denn?”
Langsam ging ich auf sie zu, stellte die Stofftasche zu meinen Füßen ab und zögerte weiterzugehen. Sie machte eine Geste und stand auf, wobei ihr Schleier zu Boden sank. Da sah ich ihr Gesicht, ein schönes, längliches Gesicht, gerahmt von dichtem, grauem Haar, das bis auf die Schultern herabhing. Ich kannte dieses Gesicht. Es war von der Zeit gezeichnet, doch in ihrem Blick lag noch immer das Feuer der Jugend. Ich musste nicht lange überlegen … wie eine Flutwelle stieg alles auf, schlagartig war es wieder da, genau wie früher, ohne Vorwarnung, und ließ alles andere um mich herum verblassen.
Es war wirklich Tyrsa, die Tyrsa aus meiner Jugend, meine Schwester, meine Freundin, meine Gefährtin … Wie hatte ich sie genau genannt? Tyrsa vielleicht, ganz einfach. Ich wusste es nicht mehr … Ihr Gesicht hellte sich auf und ich nahm ein tiefes, inniges ‘Ja’ in ihren lachenden Augen wahr. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir uns in die Arme gefallen wären. Es war zu stark … zu viel Glück und zu viel Leid … und vor allem war es so lange her!
So schauten wir uns nur einen Moment lang schweigend an, dann machte ich einen Schritt auf sie zu und wollte sie mit zur Straße ziehen.
“Bringst du mich nach Hause?”
“Es gibt kein Haus mehr”, sagte sie mit einem müden Lächeln.
“Kein Haus mehr?”
“Nein … kein Haus. Schau, wir leben jetzt hier. Komm mit.”
Also ging ich hinter Tyrsa her von der Straße weg. Wir kletterten über ein paar Steinhaufen. Mir fiel sofort auf, dass wir auf ein Zelt zugingen, dass sich an eine kleine Erhebung schmiegte. Es war eines jener Nomadenzelte, die aus erdfarbenen Stoffen und Tierhäuten gemacht sind. Sein Eingang wurde von einem bescheidenen Feuer spärlich erhellt. Hier wollte ich mich hinsetzen. Ohne dass wir ein weiteres Wort gewechselt hätten, servierte Tyrsa mir eine Schale voll von jenem heißen, roten und würzigen Getränk, das mir in meiner Jugend allabendlich so viel Freude bereitet hatte.
“Was ist passiert?”, wagte ich endlich zu fragen.
“Es waren die Gelbköpfe4, Nagar. Sie sind schon vor vielen Jahren hergekommen … und haben sich hier eingerichtet, wie du siehst. Sie haben uns alles gestohlen. Was sie uns nicht weggenommen haben, haben sie zerstört. Der Pharao hat uns kaum geschützt, als das geschah, wusstest du das? Das hat niemand verstanden.”
“Ich weiß, Tyrsa … so war es … Das musste wohl so sein! Er wollte versuchen …”
Tyrsa war sprachlos, als sie meine Worte hörte.
Sie starrte mich an, wie um in den Tiefen meines Blickes etwas wiederzufinden, was das Leben unangetastet gelassen hatte. Es war ihr einfach unverständlich.
“Er wollte versuchen …”, sagte ich noch einmal.
“Aber wer denn, Nagar? Erklär es mir.”
Ich glaube, ich habe bloß mit einem Lächeln geantwortet. Worte fand ich keine. Da entstand ein langes Schweigen zwischen uns. Einen Moment lang befürchtete ich, Tyrsa und ich könnten uns völlig fremd geworden sein.
“Und unser Vater, Sekhmet?”, fragte ich endlich. “Wo ist er denn? Erzähl es mir.”
Tyrsa schlug die Augen nieder.
“Du kannst dir ja denken, dass er nicht mehr lebt … Er war schon alt, als sie uns das Haus wegnahmen. Es ist ihm schwergefallen, in diesem Zelt zu leben. Nicht, weil sein Herz verbittert war. Aber sein Körper war verbraucht. Er ist schon vor mehr als fünf Jahren ins Reich ohne Schatten gegangen.”
Und dann erzählte Tyrsa mir ganz genau, wie unser Vater Sekhmet von uns gegangen war, nachdem er zunächst passiven Widerstand gegen die Gelbköpfe geleistet hatte und den Auszug aus dem Haus, sowie das schwindende Einkommen der Familie, die von nun an mittellos war, erleben musste. Ja, mir war schon klar, dass Sekmeth uns verlassen hatte. Ich hatte nur nicht daran denken wollen, wohl um nicht eine Wunde aufdecken zu müssen, bevor ich sicher war, dass es einen guten Grund für sie gab … Nun aber war sie da.
Seltsamerweise fühlte ich keinen Schmerz. Mein Herz wurde vielmehr von einer Welle der Frische berührt. Es war wie das Flügelschlagen eines auffliegenden Vogels. Ich wollte mich an nichts anderes erinnern als an die Schönheit seines blauen Blicks.
Sekhmet verdankte ich alles, oder doch fast alles. Seit jenem Tag, an dem er mich alleine auf einer Straße in der Gegend von Alpu hatte herumirren sehen, war er mein Adoptivvater gewesen. Ich war gewiss nicht älter als zwölf Jahre. An meine Vergangenheit hatte ich keine Erinnerung mehr. Es hatte sich ein Schleier über sie gelegt, der...